VwGH Ra 2017/21/0004

VwGHRa 2017/21/000423.3.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Revision des M R in S, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. Dezember 2016, G306 2134998- 1/2E, betreffend insbesondere Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Abweisung eines Antrags auf Ausstellung einer Karte für Geduldete (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

Auswertung in Arbeit!
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Spruch:

Das bekämpfte Erkenntnis wird, ausgenommen die nicht angefochtene Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina. Für ihn wurden mehrfach Beschäftigungsbewilligungen nach § 5 Ausländerbeschäftigungsgesetz erteilt, weshalb er sich - wenn auch nicht durchgehend - seit November 2014 in Österreich aufhält. Die Gültigkeit der zuletzt erteilten Beschäftigungsbewilligung endete am 31. Dezember 2015.

2 Am 19. November 2015 hatte der Revisionswerber einen Arbeitsunfall, bei dem er schwere Schädelverletzungen davontrug. Er befand sich deshalb zunächst an der Universitätsklinik für Neurochirurgie in G und nahm dann ergänzend vom 14. Juni 2016 bis zum 17. August 2016 eine stationäre Rehabilitationsbehandlung im Rehabilitationszentrum W in Anspruch. Schon seit seiner Entlassung aus dem Universitätsklinikum G - unterbrochen durch den zuvor genannten Rehabilitationsaufenthalt - wohnt der Revisionswerber bei seiner Tante in K, die ihn auch finanziell unterstützt.

3 Mit Schriftsatz vom 29. August 2016 stellte der Revisionswerber den Antrag, ihm gemäß § 46a Abs. 4 iVm Abs. 1 Z 4 FPG eine Karte für Geduldete auszustellen. Dazu brachte er insbesondere vor, dass die medizinische Behandlung zur Minderung bzw. Heilung seiner schweren Verletzungsfolgen in Österreich noch nicht abgeschlossen und dass eine vergleichbare Fortsetzung dieser Behandlung in seinem Herkunftsstaat Bosnien-Herzegowina nicht möglich sei. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung - gemeint:

bis zum Abschluss der notwendigen Behandlung - erweise sich damit als vorübergehend unzulässig, weshalb die Voraussetzungen für eine Duldung nach der genannten Gesetzesstelle vorlägen.

4 Diesem Antrag schloss der Revisionswerber u.a. ein Schreiben der AUVA vom 1. Juni 2016 an, wonach nach Auskunft des behandelnden Arztes des Unfallkrankenhauses K im gegenständlichen Fall davon auszugehen sei, "dass aus Anlass der gegenwärtigen laufenden und noch geplanten Behandlungsmaßnahmen (Rehabilitationsbehandlung im Rehabilitationszentrum M) ein weiterer Aufenthalt des Patienten in K bzw. Österreich für die Dauer von noch mindestens sechs Monaten unerlässlich ist." Es werde daher an die Bezirkshauptmannschaft Wolfsberg herangetreten, dem Ansuchen des Revisionswerbers "auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung stattzugeben und das Visum entsprechend zu verlängern."

5 Mit Bescheid vom 3. September 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - ohne erkennbare weitere Ermittlungen - den Antrag des Revisionswerber ab, sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde und erließ gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG. Außerdem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach "Bosnien" zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit vier Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Zur Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers wurde unter dem Punkt "Medizinische Versorgung" in der Bescheidbegründung u. a. ausgeführt, Rehabilitationsmaßnahmen könnten (in der "FBuH") nur in Fojnica, Gracanica, Tuzla, Olovo sowie (in der "RS") in Slatina und Teslic - von dort stammt der Revisionswerber - durchgeführt werden; die mit deutscher Unterstützung errichtete Einrichtung in Fojnica weise den höchsten Standard auf und ermögliche eine gefestigte berufliche Wiedereingliederung; ambulante Rehabilitationsmaßnahmen wie z.B. Krankengymnastik seien privat in vielen größeren Orten möglich. Insgesamt seien viele - insbesondere staatliche - medizinische Einrichtungen, vor allem außerhalb von Sarajevo, in einem schlechten Zustand; Ärzte und Pflegepersonal seien noch ausreichend vorhanden, wanderten aber zunehmend ins Ausland ab; die finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitswesens sei unzureichend.

6 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde machte der Revisionswerber erneut geltend, dass die in Österreich in Anspruch genommene medizinische Behandlung zur Minderung bzw. Heilung seiner Verletzungsfolgen noch nicht abgeschlossen und dass in seinem Herkunftsstaat Bosnien-Herzegowina eine mit den in Österreich geltenden Standards vergleichbare Behandlung nicht möglich sei. Dementsprechend wäre die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorübergehend für unzulässig zu erklären und dem Antrag auf Ausstellung einer Karte für Geduldete stattzugeben gewesen.

7 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 16. Dezember 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Das BVwG ging davon aus, dass sich der Revisionswerber im Hinblick auf die ihm erteilten Beschäftigungsbewilligungen - nur - bis zum 31. Dezember 2015 rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. "Gegenwärtig" stehe er (wegen seiner Schädelverletzungen) in ambulanter Behandlung im UKH K, sei jedoch nicht pflegebedürftig. Abgesehen von seiner Tante verfüge er über keine familiären und sozialen Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, derartige Anknüpfungspunkte bestünden jedoch im Herkunftsstaat. Eine "tiefgreifende Integration" des Revisionswerbers im Bundesgebiet in sprachlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht liege nicht vor.

8 Das BVwG führte weiter aus, den "Länderfeststellungen" (im Bescheid des BFA) lasse sich entnehmen, dass in Bosnien-Herzegowina ein Sozialversicherungssystem etabliert sei, welches Staatsbürgern eine kostenfreie medizinische Versorgung gewährleiste; wenn auch allfällige Defizite im medizinischen System aufgezeigt worden seien, so könne darin jedoch kein systematisches Versagen der medizinischen Versorgung in Bosnien-Herzegowina erkannt werden. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die medizinische Versorgung unter Umständen finanzielle Aufwendungen seitens der Patienten erfordere, nicht jedoch, dass eine solche gänzlich ausgeschlossen wäre; so bestehe in Bosnien-Herzegowina auch die Möglichkeit, an Rehabilitationsmaßnahmen teilzunehmen. Insgesamt könne "sohin nicht erkannt werden", inwiefern der Revisionswerber keine hinreichende medizinische Versorgung in seinem Herkunftsstaat erhalten sollte bzw. er eine solche sowie seinen Unterhalt nicht finanzieren könnte, zumal er eine auch im Ausland ausbezahlte Versehrtenrente beziehe und finanzielle Zuwendungen von Seiten seiner Tante erhalte.

9 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber zwar über familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet verfüge, doch seien diese angesichts des dem Revisionswerber bereits zum Zeitpunkt seiner Einreise bewusst gewesenen unsicheren Aufenthaltes zu relativieren. Zudem lägen Hinweise auf eine besondere Integration des Revisionswerbers in Österreich trotz seiner hier ausgeübten Erwerbstätigkeiten nicht vor und dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass sich der Revisionswerber zuletzt entgegen fremdenrechtlichen Bestimmungen im Bundesgebiet aufgehalten habe. Im Hinblick auf die im Herkunftsstaat gelegenen überwiegenden Anknüpfungspunkte sowie die dort gegebenen weiteren Behandlungsmöglichkeiten, die finanziellen Zuwendungen seitens seiner Tante sowie die Auszahlung einer Versehrtenrente sei mit Blick darauf, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentliche Ordnung ein hoher Stellenwert zukomme, insgesamt davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung das persönliche Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet überwiege. Selbst wenn man davon ausgehe, dass im Rahmen eines Rückkehrentscheidungsverfahrens unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK gelegene Sachverhalte bei der Beurteilung des Privatlebens iSd. Art. 8 EMRK Bedeutung zukomme, habe der Revisionswerber angesichts der im Herkunftsstaat gegebenen medizinischen Versorgung, deren durch Leistungen aus der österreichischen Sozialversicherung gesicherte Finanzierung, der finanziellen Zuwendungen von Familienangehörigen sowie des im Herkunftsstaat gelegenen Lebensmittelpunktes eine - durch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung bewirkte - Verletzung von Art. 8 EMRK nicht aufzeigen können.

10 Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision - die Nichterteilung eines Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wird allerdings erkennbar nicht angefochten - ist zulässig und berechtigt.

11 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Revisionswerber "nur" einen Antrag auf Ausstellung einer Karte für Geduldete gestellt hatte, dem zu Grunde lag, dass der Duldungstatbestand nach § 46a Abs. 1 Z 4 FPG vorliege, also eine Rückkehrentscheidung im Sinne des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG vorübergehend unzulässig sei. Insoweit zielte der Revisionswerber also von vornherein nicht auf einen dauernden Aufenthalt in Österreich ab, sondern stellte sich auf den Standpunkt, ein solcher sei ihm - bloß - vorübergehend zu gestatten. Von daher kommt aber den vom BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung angestellten Überlegungen, der Revisionswerber weise keine besondere Integration in Österreich auf, schon vom Ansatz her nur untergeordnete Bedeutung zu. Auch der Hinweis darauf, dass sich der Revisionswerber bereits zum Zeitpunkt seiner Einreise nach Österreich seines unsicheren Aufenthaltes hätte bewusst sein müssen, weshalb seine familiären Anknüpfungspunkte eine Relativierung hinnehmen müssten, geht am Thema vorbei, weil der Revisionswerber nie zum Ausdruck brachte, einen dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet anzustreben. Er zielte vielmehr darauf ab, ihm einen vorübergehenden Aufenthalt zu ermöglichen, damit er die in Österreich begonnene Heilbehandlung nach seinem schweren Arbeitsunfall auch im Inland abschließen könne.

12 Dass eine in Österreich vorgenommene medizinische Behandlung im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung der persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet führen kann, hat der Verwaltungsgerichtshof schon mehrfach zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa das Erkenntnis vom 28. April 2015, Ra 2014/18/0146 bis 0152, Punkt 4.3. der Entscheidungsgründe). Dabei kommt es maßgeblich darauf an, ob diese medizinische Behandlung auch außerhalb Österreichs erfolgen bzw. fortgesetzt werden kann. Im vorliegenden Fall ist in die gebotene Abwägung aber - zu Gunsten des Revisionswerbers - auch miteinzubeziehen, dass die Notwendigkeit einer Behandlung auf schwere Verletzungen zurückzuführen ist, die der Revisionswerber bei einem Arbeitsunfall im Rahmen einer legal ausgeübten Beschäftigung für einen österreichischen Dienstgeber erlitten hat.

13 Vor diesem Hintergrund hätte eine ordnungsgemäße Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zunächst einmal Feststellungen darüber erfordert, welcher Behandlungen der Revisionswerber aktuell im Detail bedarf und wie lange diese Behandlungen voraussichtlich noch durchzuführen sein werden. Je kürzer der prognostizierte Behandlungsverlauf anzusetzen ist, umso geringer ist das öffentliche Interesse zu bewerten, seinen Aufenthalt in Österreich unverzüglich zu beenden. Das BVwG hat sich demgegenüber mit der lapidaren Feststellung begnügt, der Revisionswerber stehe gegenwärtig in ambulanter Behandlung im UKH K und sei nicht pflegebedürftig.

14 Ausgehend von den konkret erforderlichen weiteren Behandlungsmaßnahmen wäre dann weiter zu ermitteln, ob und in welcher Form diese Behandlungsmaßnahmen auch in seinem Herkunftsstaat Bosnien-Herzegowina durchführbar wären. Diesbezüglich hat das BVwG zwar - an verschiedenen Stellen seiner Entscheidung - mehrfach zum Ausdruck gebracht, es wäre die gebotene medizinische Versorgung des Revisionswerbers auch in Bosnien-Herzegowina gesichert, doch ist auch diese Beurteilung zu allgemein. Schon in Anbetracht der bereits im Bescheid des BFA getroffenen Feststellung, viele medizinische Einrichtungen in Bosnien-Herzegowina befänden sich in einem schlechten Zustand, hätte es nämlich der Klärung bedurft, ob die Durchführung der konkret gebotenen Behandlungsmaßnahmen dort gewährleistet wäre. Erst wenn das zu bejahen wäre, gewänne auch der Aspekt der finanziellen Leistbarkeit seitens des Revisionswerbers bzw. die Frage, ob Kosten für Behandlungsmaßnahmen in Bosnien-Herzegowina vom österreichischen Sozialversicherungsträger gedeckt werden, Bedeutung (vgl. zum Ganzen auch das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe).

15 Nur auf Basis entsprechender Ermittlungsergebnisse könnte bewertet werden, ob die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften den allfälligen Abbruch einer in Österreich begonnenen Heilbehandlung rechtfertigen können bzw. ob umgekehrt das private Interesse des Revisionswerbers, eine in Österreich begonnene Heilbehandlung hier abzuschließen, stärker zu gewichten ist. Da diese Ermittlungsergebnisse noch fehlen und das BVwG zudem im vorliegenden Fall den Abwägungskriterien nach § 9 Abs. 2 Z 4 und 8 BFA-VG (Grad der Integration und Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren), wie oben gezeigt (siehe Rz 11), zu große Bedeutung zugemessen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. März 2017

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