VwGH Ra 2016/19/0290

VwGHRa 2016/19/029026.4.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Revision des S A in W, vertreten durch Dr. Matthias Unterrieder, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schubertring 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. August 2016, W196 2124938-1/3E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §37;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016190290.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Somalia, stellte am 27. März 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er zusammengefasst an, er gehöre dem somalischen Clan der Madhiban an, der von anderen größeren Clans unterdrückt werde. Seiner Familie sei im Zuge dieser Auseinandersetzungen von Angehörigen eines größeren Clans Land geraubt worden. Bei den daraus entsprungenen gewaltsamen Konflikten seien sein Vater und einer seiner Onkel getötet und auch er selbst bedroht und angegriffen worden. Bei einer Rückkehr nach Somalia befürchte er, von den Angehörigen anderer Clans getötet zu werden.

2 Mit Bescheid vom 1. April 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I). Gleichzeitig erkannte es dem Revisionswerber den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III). Das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers erachtete das BFA als nicht glaubhaft. Es gebe keine Hinweise, dass die Mitglieder des Clans der Madhiban in Somalia verfolgt würden. Gegen eine Verfolgung spreche auch, dass die Mutter und die Geschwister des Revisionswerbers weiterhin im Heimatdorf des Revisionswerbers wohnhaft seien. Es sei dem Revisionswerber auch frei gestanden, in einen anderen Teil Somalias - etwa nach Mogadischu - zu übersiedeln, wo er vor der vermeintlichen Bedrohung in seinem Heimatdorf sicher gewesen wäre.

3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen die Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers ab. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte es im Wesentlichen aus, dem Vorbringen des Revisionswerbers komme keine Glaubwürdigkeit zu, wobei es sich den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA anschließe. Aus den Länderberichten seien keine Hinweise darauf abzuleiten, dass es in Somalia aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Clan zu Verfolgungen komme, zumal sich die Sicherheitslage verbessert habe. Dem Revisionswerber wäre es auch offen gestanden, innerhalb Somalias in ein anderes Gebiet zu übersiedeln. In Mogadischu bestünde kein Risiko einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Clan. Aber selbst bei Wahrunterstellung der Angaben des Revisionswerbers sei davon auszugehen, dass die vorgebrachten "Diskriminierungen" gegen den Clan des Revisionswerbers in keinem Zusammenhang mit einer Verfolgung "aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe" stünden und somit auf keinem Konventionsgrund beruhten. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt durch die belangte Behörde vollständig erhoben und unter hinreichend schlüssiger Beweiswürdigung festgestellt worden sei. In der Beschwerde sei kein dem entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt behauptet worden.

 

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene Revision nach Vorlage der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit seiner Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung der von ihm beantragten Verhandlung abgesehen. Er sei der Beweiswürdigung des BFA in seiner Beschwerde substantiiert entgegen getreten und habe vorgebracht, dass der Entscheidung keine aktuellen Länderberichte zu Grunde gelegen seien und die aktuelle Lage der Minderheiten in Somalia und die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Clan nicht beachtet worden seien. Dazu habe er auch eine aktuelle und unbedenkliche Quelle zitiert. Vor diesem Hintergrund sei auch die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes mangelhaft.

7 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

8 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa das hg. Erkenntnis vom 16. November 2016, Ra 2016/18/0233).

9 Der Revisionswerber hat die Beweiswürdigung des BFA in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Er zitierte eine Quelle (ACCORD-Anfragebeantwortung) zum Nachweis seines Vorbringens, es komme in Somalia zur Unterdrückung und Verfolgung der Mitglieder kleiner Clans durch große Clans. Den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA, die Behauptung einer ihn selbst und seine Familie treffenden Verfolgung sei schon deshalb nicht glaubwürdig, weil seine Mutter und seine Geschwister weiterhin in seinem Heimatdorf lebten, hielt er entgegen, dass er dazu gar nicht befragt worden sei und dies auch nicht zutreffe. Er habe zuletzt erfahren, dass seine Mutter von "den Feinden der Familie" entführt worden sei.

10 Das Bundesverwaltungsgericht erkannte im Übrigen selbst die Notwendigkeit, zur Situation in Somalia aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen des BFA zu ergänzen. Schon allein deshalb hätte das Bundesverwaltungsgericht aber eine mündliche Verhandlung durchführen müssen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 19. April 2016, Ra 2015/01/0079, und vom 18. Juni 2015, Ra 2014/20/0145).

11 Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführte, auch bei "Wahrunterstellung" der Angaben des Revisionswerbers sei ein Zusammenhang der behaupteten Verfolgung mit einem Konventionsgrund zu verneinen, wird es den diesbezüglich in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Begründung nicht gerecht (vgl. dazu ausführlich das hg. Erkenntnis vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0069). Hieraus ist hervorzuheben, dass es im Rahmen einer Wahrunterstellung erforderlich ist, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Sachverhaltsvorbringens ausgegangen wurde (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 28. April 2015, Ra 2014/19/0145). Bei der rechtlichen Beurteilung im Rahmen einer "Wahrunterstellung" ist - soweit nicht ausdrücklich anderslautende Feststellungen getroffen werden - vom gesamten Vorbringen auszugehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/19/0023, mwN).

12 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis, das nicht offen legt, welcher Sachverhalt der Wahrunterstellung zu Grunde gelegt wird, nicht gerecht. Dem Vorbringen des Revisionswerbers, er werde aufgrund der Zugehörigkeit zum Clan der Madhiban verfolgt, kann die Asylrelevanz auch nicht von vornherein abgesprochen werden.

13 Soweit das Bundesverwaltungsgericht sich alternativ - auf Grundlage des vom BFA festgestellten Sachverhaltes - weiters darauf stützt, der Revisionswerber wäre jedenfalls in Mogadischu vor einer möglichen Verfolgung sicher gewesen, steht dem schon entgegen, dass nach der hg. Rechtsprechung die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zu einer gemäß § 8 AsylG 2005 bereits erfolgten Gewährung von subsidiärem Schutz steht, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme der inländischen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 25. März 2015, Ra 2014/20/0022, und vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0011; vgl. aber zu einer möglichen Durchbrechung dieser Rechtskraftwirkung bei wesentlicher Änderung der Sach- und Rechtslage die hg. Erkenntnisse vom 18. Jänner 2017, Ra 2016/18/0293, und vom 28. Februar 2017, Ra 2016/01/0206).

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. April 2017

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