Normen
AsylG 2005 §75 Abs20;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §46;
FrPolG 2005 §51 Abs2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
MRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §27;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016210367.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der 1974 geborene Revisionswerber ist türkischer Staatsangehöriger und gehört der kurdischen Volksgruppe an. Er befindet sich seit Februar 2002 in Österreich und stellte hier im November 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesasylamt wies diesen Antrag - in Verbindung mit einer Ausweisung des Revisionswerbers in die Türkei - vollinhaltlich ab. Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 8. August 2014 in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz keine Folge; im Übrigen verwies es gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.
3 Mit Bescheid vom 14. April 2015 sprach das BFA hierauf aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Außerdem erließ es gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG als unbegründet ab. Mit Erkenntnis vom 24. Mai 2016, Ra 2016/21/0101, hob der Verwaltungsgerichtshof diese Entscheidung insoweit, als das BVwG die Rückkehrentscheidung und die damit verbundenen Aussprüche bestätigt hatte, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes auf. Dem lag zugrunde, dass sich die Menschenrechtssituation in der Türkei nach Ergehen der seinerzeitigen Asylentscheidung des BVwG "markant verschlechtert" hatte und es nach den Länderberichten zu einer "Eskalation des Kurdenkonflikts" gekommen war. Davon ausgehend sei es ausgeschlossen, ohne Weiteres eine Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG (gemäß dieser Bestimmung - in der hier maßgeblichen Fassung des FNG - hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei) über die Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zu treffen, was auch der Erlassung einer Rückkehrentscheidung entgegen stehe. Vielmehr wäre es angesichts des spezifischen "Profils" des Revisionswerbers (in Vorarlberger Medien erhobener Vorwurf, Mitglied einer gewalttätigen "PKK-Bande" zu sein, letztlich vom BVwG nicht in Abrede gestellte Mitarbeit bei einem kurdischen TV-Sender in den Jahren 1996 und 1997, Einbettung in eine politisch verfolgte bzw. der PKK zugehörige Familie und - wenngleich abgeleitet vom Vater - Zuerkennung von Asyl in der Schweiz) - im Folgenden der Verwaltungsgerichtshof im genannten Erkenntnis vom 24. Mai 2016, auf dessen Entscheidungsgründe im Einzelnen im Übrigen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, wörtlich - "im Sinn der Ausführungen unter Rz 14 und 15 geboten gewesen, konkret zu prüfen, ob die Annahme, dem Revisionswerber drohe in der Türkei keine (insbesondere) Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung, noch aufrechtzuerhalten ist."
5 In den verwiesenen Rz 14 und 15 seines Erkenntnisses hielt der Verwaltungsgerichtshof fest:
"Liegt - wie im gegenständlichen Fall - eine Konstellation nach § 75 Abs. 20 AsylG 2005 vor, so ist diese Feststellung (nach § 52 Abs. 9 FPG), soweit sie sich auf den Herkunftsstaat bezieht, regelmäßig nur die Konsequenz der Nichtgewährung von Asyl und von subsidiärem Schutz. Das gilt allerdings nur bei unveränderter
Sachlage ... . Steht dagegen im Raum, dass sich die Verhältnisse
maßgeblich verändert - aus der Sicht des Fremden: verschlechtert - haben, so ist eine Überprüfung dahingehend vorzunehmen, ob eine Abschiebung in den Herkunftsstaat vor dem Hintergrund (insbesondere) des Art. 3 EMRK (noch) zulässig ist.
Grundlage einer solchen Überprüfung werden meist entsprechende Behauptungen des Fremden sein, mit dem im Fall eines ausreichend substantiierten Vorbringens - aber auch dann, wenn von vornherein notorische Umstände bestehen, die gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat sprechen - mit Blick auf § 51 Abs. 2 FPG die Stellung eines neuerlichen Antrags auf internationalen Schutz zu erörtern sein wird. ..."
6 Letzteres hatte das BVwG unterlassen.
7 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 4. November 2016 wies das BVwG die Beschwerde gegen die vom BFA erlassene Rückkehrentscheidung samt Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG, dass eine Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (inklusive Festsetzung einer Ausreisefrist) neuerlich ab. Gemäß § 25a VwGG sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
10 Mit dem dargestellten Vorerkenntnis wurde dem BVwG vor dem Hintergrund des § 52 Abs. 9 FPG aufgetragen zu prüfen, ob die - dem seinerzeitigen Asylerkenntnis vom 8. August 2014 zugrunde liegende - Annahme, dem Revisionswerber drohe in der Türkei keine (insbesondere) Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung, noch aufrechtzuerhalten sei. Damit wurde allerdings nicht zum Ausdruck gebracht, dass das BVwG insoweit schon eine abschließende Beurteilung vorzunehmen habe. Wie insbesondere die Ausführungen unter der oben wörtlich wiedergegebenen Rz 15 zeigen, wäre vielmehr in erster Linie mit dem Revisionswerber, der in der ergänzenden Beschwerdeverhandlung den Umsturzversuch in der Türkei vom Juli 2016 angesprochen und nicht zuletzt darauf gestützt ein konkretes Gefährdungspotential zum Ausdruck brachte, mit Blick auf § 51 Abs. 2 FPG zu erörtern gewesen, ob darin die Stellung eines neuerlichen Antrags auf internationalen Schutz zu erblicken sei (siehe in diesem Sinn auch das hg. Erkenntnis vom 15. September 2016, Ra 2016/21/0234, Rz 19 ff.). Es ist nämlich, zumal in Anbetracht der vorrangigen Funktion der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG, (lediglich) den Zielstaat der Abschiebung festzulegen, nicht Aufgabe des BFA bzw. des BVwG, im Verfahren zur Erlassung einer fremdenpolizeilichen Maßnahme letztlich ein Verfahren durchzuführen, das der Sache nach einem Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz gleichkommt. Die Überlegung, es sei im Rahmen eines Rückkehrentscheidungsverfahrens in eine abschließende Prüfung eines allfälligen Gefährdungsszenarios einzusteigen, erweist sich daher, solange der Führung eines dafür vorgesehenen Verfahrens auf internationalen Schutz nicht ausreichend deutlich entgegen getreten wird, als verfehlt (siehe auch das hg. Erkenntnis vom 20. Dezember 2016, Ra 2016/21/0109 und 0247, Rz 14).
11 Von dieser Überlegung ist indes das gegenständliche Erkenntnis des BVwG getragen. Das BVwG hat nämlich - wenngleich offenkundig auf Basis veralteten Berichtsmaterials, in dem der Putschversuch vom Juli 2016 noch keine Berücksichtigung findet, und ohne die auf den Revisionswerber potenziell zutreffenden Risikofaktoren in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen - eine endgültige Würdigung des Bedrohungsszenarios des Revisionswerbers vorgenommen, wobei es zu dem Ergebnis gelangte, es bestehe für ihn kein reales Risiko, im Falle seiner Abschiebung in die Türkei der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt zu sein.
12 Indem das BVwG damit im Rahmen der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG der Sache nach eine Asylentscheidung vorwegnahm, ohne dass der Revisionswerber erklärt hatte, keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu wollen, hat es sich im Ergebnis über die Bindungswirkung des Vorerkenntnisses vom 24. Mai 2016 hinweggesetzt. Die nunmehr angefochtene Entscheidung war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
13 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 31. August 2017
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