VwGH Ra 2016/21/0033

VwGHRa 2016/21/003314.4.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Revision 1. des W T, und 2. der G S, beide in L und vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. November 2015, L519 1300468- 5/5E und L519 1300467-5/5E, betreffend Versagung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 sowie Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

1. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG 2005 richtet, als unzulässig zurückgewiesen.

2. zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55;
AsylG 2005 §57;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 2005 §55;
AsylG 2005 §57;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerber, ein Ehepaar, sind armenische Staatsangehörige und gehören der jesidischen Volksgruppe an. Sie gelangten erstmals im August 2001 nach Österreich, verließen das Bundesgebiet aber noch im selben Jahr und stellten in Deutschland Asylanträge.

2 Mitte Jänner 2006 reisten die beiden Revisionswerber, von Deutschland aus, abermals nach Österreich ein und stellten hier Anträge auf internationalen Schutz. Diese Anträge wurden letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29. September 2009 vollinhaltlich - in Verbindung mit einer Ausweisung nach Armenien -

abgewiesen.

3 Nach Zustellung des genannten Erkenntnisses beging der Erstrevisionswerber, der nach einer Stammganglienblutung mit Ventrikeleinbruch im Sommer 2006 an einer beinbetonten spastischen Hemiparese rechts leidet und der laut Bundessozialamt (auch im Hinblick auf andere Leiden) einen Behinderungsgrad von 80 % aufweist, einen Suizidversuch. Er befand sich deshalb von 6. Oktober 2009 bis 6. November 2009 in stationärer psychiatrischer Behandlung. U.a. unter Hinweis darauf stellte die Zweitrevisionswerberin am 13. Oktober 2009 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Am 11. November 2009 stellte auch der Erstrevisionswerber einen Folgeantrag.

4 Das Bundesasylamt wies die genannten Folgeanträge jeweils mit Bescheiden vom 3. November 2010 wiederum vollinhaltlich und in Verbindung mit Ausweisungen nach Armenien ab. Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 13. Oktober 2014 in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz keine Folge. Im Übrigen verwies es gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 die Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.

5 Mit Bescheiden je vom 27. August 2015 sprach das BFA hierauf aus, dass den Revisionswerbern Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt würden; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG werde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde außerdem die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

6 Die Revisionswerber erhoben Beschwerde. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 24. November 2015 wies das BVwG diese Beschwerde in Bezug auf beide Revisionswerber jeweils gemäß §§ 55, 57 AsylG 2005, § 10 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und §§ 46, 52 Abs. 2 und 9 sowie 55 FPG als unbegründet ab. Außerdem erklärte es jeweils die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

7 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

8 In Bezug auf die Entscheidungen nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

9 Im Übrigen erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.

10 Das BVwG erließ gegen die Revisionswerber Rückkehrentscheidungen. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

11 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen etwa nur das insbesondere die Tochter und die beiden Enkelsöhne der Revisionswerber betreffende Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2016/21/0029 bis 0032, Rz 11 ff).

12 Das BVwG ging zwar - auch - in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin davon aus, dass sie "keine qualifizierten Anknüpfungspunkte" zu Österreich aufweise. Es stellte aber fest, dass sie Deutsch auf A2-Niveau beherrsche, dass insoweit eine gewisse Verständigung im Alltag möglich sei und dass sie in eine "Baptistengemeinde" integriert sei. Außerdem hilft die Zweitrevisionswerberin gemäß den Feststellungen des BFA in seinem Bescheid vom 27. August 2015 u.a. drei älteren Damen im Haushalt. Von einem völligen Fehlen jeglicher Integration kann daher keine Rede sein.

13 Zwar befand sich die Zweitrevisionswerberin bei Erlassung des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses noch nicht zehn Jahre in Österreich. Dass ihr auf einen zehnjährigen Inlandsaufenthalt einige Wochen fehlten, kann allerdings nicht maßgeblich sein. Einerseits hat der Verwaltungsgerichtshof nämlich seine Rechtsprechung zu einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (siehe auch dazu das zuvor genannte Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2016/21/0029 bis 0032). Andererseits ist fallbezogen zu berücksichtigen, dass die Zweitrevisionswerberin sehr engen Kontakt zu ihrer Tochter und deren Familie hält. Mit dem schon wiederholt genannten Erkenntnis Ra 2016/21/0029 bis 0032 wurden aber Rückkehrentscheidungen diese Familie betreffend aufgehoben, was - auch wenn die Beziehung zur Tochter und insbesondere den Enkelkindern kein rechtlich relevantes Familienleben begründet - jedenfalls die privaten Interessen der Zweitrevisionswerberin an einem Verbleib in Österreich nicht ganz unmaßgeblich verstärkt. Dass es auch einen regelmäßigen Kontakt zu zwei in Österreich aufenthaltsberechtigten Brüdern gibt (zur Relevanz dieses Umstandes im gegenständlichen Kontext siehe etwa das hg. Erkenntnis vom 9. September 2014, Zl. 2013/22/0247), sei in diesem Zusammenhang nur mehr der Vollständigkeit halber erwähnt.

14 Im Ergebnis ist dem BVwG damit in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin eine den Maßstäben der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht gerecht werdende Interessenabwägung anzulasten. Das muss auch auf ihren Ehemann, den Erstrevisionswerber, durchschlagen. Hinsichtlich diesem ist aber noch ergänzend darauf hinzuweisen, dass seine gesundheitlichen Probleme - aus dem Akteninhalt ist ersichtlich, dass es wegen der zerebralen Probleme des Erstrevisionswerbers am 17. Juni 2015 zu einer vierten neuroradiochirurgischen Behandlung mit dem "Gamma Knife" gekommen ist, wobei laut Entlassungsbericht eine MRT-Kontrolle in zwei Jahren angeordnet wurde - in die Abwägung nach § 9 BFA-VG hätten miteinbezogen werden müssen (vgl. dazu nur das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe).

15 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es die vom BFA erlassenen Rückkehrentscheidungen bestätigt (und damit auch hinsichtlich der Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005) mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher im genannten Umfang samt den auf die Erlassung der Rückkehrentscheidungen aufbauenden Absprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben (zum Umfang der Aufhebung siehe etwa das zuletzt genannte Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119).

16 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere auf die §§ 50 und 53 Abs. 1 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. April 2016

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