VwGH Ra 2015/10/0022

VwGHRa 2015/10/002216.3.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Revision des P F in Wien, vertreten durch Mag. Balazs Esztegar, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Wickenburggasse 26/5, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 16. Jänner 2015, Zl. VGW- 141/053/8843/2014-9, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art2 Z2 litc;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art24;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art3 Abs1;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litd;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs3;
62012CJ0423 Flora May Reyes VORAB;
EURallg;
MSG Wr 2010 §5 Abs2 Z2;
MSG Wr 2010 §7 Abs1;
MSG Wr 2010 §7 Abs2;
NAG 2005 §51 Abs1;
NAG 2005 §51 Abs2;
NAG 2005 §52 Abs1 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Das Verwaltungsgericht Wien hat mit Erkenntnis vom 16. Jänner 2015 den Antrag des Revisionswerbers vom 15. Oktober 2013 auf Gewährung von Mindestsicherung abgewiesen.

2 Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Revisionswerber, ein ungarischer Staatsangehöriger, seit Mitte 2011 mit seiner Mutter und seinen beiden jüngeren Geschwistern in Österreich lebe. Er leite sein Aufenthaltsrecht vom Status als Angehöriger seiner als ungarische Staatsangehörige die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Anspruch nehmenden Mutter ab. Der Revisionswerber sei behindert und habe bisher weder in Ungarn noch in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Nach einer Bestätigung der "Lebenshilfe Wien" beziehe er in einer Einrichtung dieser Institution lediglich ein Taschengeld in der Höhe von EUR 10,-- bis EUR 50,-- je Monat, jedoch kein Arbeitseinkommen. Der Lebensunterhalt für den Revisionswerber sei bereits vor der Einreise ausschließlich von seiner Mutter, die auch seine Sachwalterin sei, bestritten worden. Die Mutter des Revisionswerbers weise seit 2011 Tätigkeiten als gewerblich selbständig Erwerbstätige sowie verschiedene kurzzeitige Dienstverhältnisse und Zeiten des Krankengeldbzw. Arbeitslosengeldbezuges auf. Von Oktober 2012 bis Jänner 2014 sei sie durchgehend geringfügig beschäftigt gewesen. Seit Jänner 2012 beziehe die Familie laufend Leistungen der Mindestsicherung. Im Juli 2013 habe der Revisionswerber das 21. Lebensjahr vollendet. Er sei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in die Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter und seinen Geschwistern miteinbezogen worden und beziehe seitdem keine Mindestsicherungsleistungen mehr. Er erhalte jedoch materielle Unterstützung für den Lebensbedarf durch seine Mutter.

3 Für über 21-jährige Angehörige von aufenthaltsberechtigten Unionsbürgern in absteigender Linie, denen tatsächlich Unterhalt gewährt werde, ergebe sich die mindestsicherungsrechtliche Gleichstellung mit Inländern unmittelbar aus der Unionsbürgerrichtlinie. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde könne der Mindestsicherungsanspruch im konkreten Fall nicht daran scheitern, dass nach innerstaatlichem Recht keine Bedarfsgemeinschaft des Revisionswerbers mit seiner Mutter bestehe. Der Revisionswerber könne jedoch nicht als Angehöriger, dem tatsächlich Unterhalt gewährt werde, angesehen werden, weil seine Mutter auf Grund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage sei, ihren eigenen Unterhalt und den des Revisionswerbers zu decken, ohne Leistungen der Mindestsicherung in Anspruch zu nehmen. Die von der Mutter als Unterhalt bezeichnete (finanzielle) Unterstützung des Revisionswerbers werde daher nur aus Mindestsicherungsmitteln geleistet, die der aus der Mutter und den beiden Geschwistern des Revisionswerbers bestehenden Bedarfsgemeinschaft zuerkannt worden seien. Werde die Mutter erst durch eine - nicht für den Revisionswerber bestimmte - Mindestsicherungsleistung dazu befähigt, diesem Unterhalt zu gewähren, so könne nicht von einer Unterhaltsgewährung im Sinn des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes bzw. der Unionsbürgerrichtlinie gesprochen werden.

4 Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen sei.

 

Über die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision hat der Verwaltungsgerichthof erwogen:

5 Zur Zulässigkeit der Revision wird ausgeführt, dass keine Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage bestehe, ob der Bezug einer Mindestsicherungsleistung durch die Mutter, die auch zwei weitere Kinder zu versorgen habe, der tatsächlichen Leistung von Unterhalt im Sinn des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes entgegenstehe.

6 Damit wird eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt. Die Revision ist daher zulässig und - wie unten auszuführen - auch berechtigt.

7 Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben (auszugsweise) folgenden Wortlaut:

8 Wiener Mindestsicherungsgesetz - WMG, LGBl. Nr. 38/2010

idF LGBl. Nr. 7/2013:

"Personenkreis

§ 5. (1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.

(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:

...

2. Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;

...

§ 7. (1) Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs haben volljährige Personen bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 4 Abs. 1 und 2. Der Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs kann nur gemeinsam geltend gemacht werden und steht volljährigen Personen der Bedarfsgemeinschaft solidarisch zu. Die Abdeckung des Bedarfs von zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden minderjährigen Personen erfolgt durch Zuerkennung des maßgeblichen Mindeststandards an die anspruchberechtigten Personen der Bedarfsgemeinschaft, der sie angehören.

(2) Die Zurechnung zu einer Bedarfsgemeinschaft erfolgt nach folgenden Kriterien:

1. Volljährige alleinstehende Personen und volljährige Personen, die mit anderen volljährigen Personen in Wohngemeinschaft leben, bilden eine eigene Bedarfsgemeinschaft.

2. Volljährige Personen im gemeinsamen Haushalt, zwischen denen eine unterhaltsrechtliche Beziehung oder eine Lebensgemeinschaft besteht, bilden eine Bedarfsgemeinschaft.

3. Minderjährige Personen im gemeinsamen Haushalt mit zumindest einem Elternteil oder mit einer zur Obsorge berechtigten Person bilden mit diesem oder dieser eine Bedarfsgemeinschaft.

4. Volljährige Personen mit Anspruch auf Familienbeihilfe und volljährige Personen bis zum vollendeten 21. Lebensjahr ohne Einkommen oder mit einem Einkommen bis zu einer Geringfügigkeitsgrenze im gemeinsamen Haushalt mit zumindest einem Eltern- oder Großelternteil bilden mit diesem eine Bedarfsgemeinschaft.

5. Volljährige Personen ab dem vollendeten 21. Lebensjahr und volljährige auf die Dauer von mindestens einem Jahr arbeitsunfähige Personen bilden eine eigene Bedarfsgemeinschaft, auch wenn sie im gemeinsamen Haushalt mit einem Eltern- oder Großelternteil leben.

..."

9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015:

"§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

  1. 1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;
  2. 2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

    3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.

(2) Die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 bleibt dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er

1. wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist;

2. sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt;

3. sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, oder

...

§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

...

2. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und darüber hinaus sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

...

§ 53a. (1) EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), erwerben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung ihres Daueraufenthaltes auszustellen.

..."

10 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie):

"Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1. ‚Unionsbürger' jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats besitzt;

2. ‚Familienangehöriger'

...

c) die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinn von Buchstabe b, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

...

Artikel 3

Berechtigte

(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nr. 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

...

Artikel 7

Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c) - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat auf Grund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

d) - über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

e) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

...

(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchtstabe a bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:

a) er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;

b) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;

c) er stellt sich bei ordnungsgemäßer bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf eines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten 12 Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;

d) er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.

...

Artikel 16

Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen

(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahr lang ununterbrochen im Aufenthaltsmitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.

...

Artikel 24

Gleichbehandlung

(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich auf Grund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrages die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.

(2) Abweichend von Abs. 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monaten des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraumes nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.

..."

11 Der Revisionswerber bringt vor, dass er entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts als über 21-jähriger Familienangehöriger seiner das Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin in Anspruch nehmenden Mutter anzusehen sei, dem von dieser Unterhalt gewährt werde. Auf Grund seiner Behinderung müsse er bei den täglichen Verrichtungen des Lebens von seiner Mutter unterstützt werden. Diese kümmere sich auch um Einkäufe und begleite ihn auf sämtlichen Wegen außer Haus, sie bereite ihm die Nahrung zu und unterstütze ihn bei der Körperpflege. Der Revisionswerber könne auf Grund seiner Behinderung nicht allein außer Haus gehen. Er sei auf eine ständige Begleitung angewiesen, weil er örtlich nicht orientiert sei. Auf Grund seiner Behinderung könne er bei den einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens nicht allein gelassen werden. Am 12. April 2013 sei dem Revisionswerber ein Behindertenpass ausgestellt worden, in dem auch vermerkt sei, dass ihm die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung nicht zumutbar sei und er ständig einer Begleitperson bedürfe. Die Mutter erbringe somit Naturalunterhaltsleistungen. Überdies habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt, dass die Mutter für den Revisionswerber auch die erhöhte Familienbeihilfe beziehe, welche sie für diesen verwende, auch das entspreche einer Unterhaltsleistung. Weiters seien die Einkünfte der Mutter "aus Arbeitstätigkeit" nicht erhoben worden. Es bedeute eine unsachliche Differenzierung, dass der Revisionswerber, der niemals ein eigenes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer erlangen könne, mit 21 Lebensjahren seinen Anspruch auf Mindestsicherung verliere. Überdies bilde er gemäß § 7 Abs. 2 Z. 4 WMG nach wie vor mit seiner Mutter eine Bedarfsgemeinschaft.

12 Zunächst sei zum letztgenannten Revisionsvorbringen festgehalten, dass es für die Lösung der hier relevanten Frage, ob der Revisionswerber als Familienangehöriger seiner Mutter, die ihr unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht in Anspruch genommen hat, gemäß § 5 Abs. 2 Z. 2 WMG für den Bezug von Mindestsicherung den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt ist, nicht darauf ankommt, ob eine Bedarfsgemeinschaft mit der Mutter besteht.

13 Das Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie und § 51 Abs. 1 NAG kommt Unionbürgern zu, die entweder aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit oder aufgrund ihrer sonstigen Vermögenslage über ausreichende Existenzmittel für sich und ihre Familienangehörigen verfügen. Für Erwerbstätige bleibt das Aufenthaltsrecht in den Fällen des Art. 7 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und § 51 Abs. 2 NAG auch bei Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder Beginn einer Berufsausbildung erhalten. In diesen Fällen werden die aus dem Erwerb stammenden Existenzmittel durch die dem Unionsbürger nach Beendigung der Erwerbstätigkeit zustehenden Leistungen substituiert, wozu unter Umständen auch eine Mindestsicherungsleistung gehören kann, für deren Bezug solche Unionsbürger gemäß Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie den österreichischen Staatsbürger gleichzustellen sind.

14 Dementsprechend sind gemäß § 5 Abs. 2 Z. 2 WMG unter der Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts und der Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges u.a. Unionsbürger und deren Familienangehörige den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt und daher anspruchsberechtigt, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 NAG erhalten bleibt.

15 Das Verwaltungsgericht hat keine aktuelle Erwerbstätigkeit der Mutter des Revisionswerbers - die unstrittig laufend Mindestsicherungsleistungen bezieht - festgestellt. Das dagegen gerichtete Revisionsvorbringen ist mangels jeglicher Konkretisierung nicht zielführend. Das Verwaltungsgericht ging jedoch - ebenso wie die belangte Behörde - davon aus, dass der Mutter des Revisionswerbers das auf Grund früherer Arbeitstätigkeit begründete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und § 51 Abs. 2 NAG trotz Arbeitslosigkeit erhalten blieb. Davon ausgehend substituiert - wie dargestellt - die der Mutter gewährte Mindestsicherungsleistung die für das Aufenthaltsrecht grundsätzlich erforderlichen ausreichenden eigenen Existenzmittel für die Mutter und deren Familienangehörige.

16 Es ist nunmehr die Frage zu lösen, ob der über 21-jährige Revisionswerber, der über kein eigenes Einkommen verfügt, auf Grund der Unterhaltsgewährung durch seine Mutter als deren Familienangehöriger im Sinn von Art. 2 Z. 2 lit. c der Unionsbürgerrichtlinie und § 52 Abs. 1 Z. 3 anzusehen ist. Sollte er nämlich kein Familienangehöriger im Sinn dieser Bestimmungen sein, käme ihm kein Aufenthaltsrecht zu und er wäre schon deshalb nicht gemäß § 5 Abs. 2 WMG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.

17 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom 16. Jänner 2014, Flora May Reyes, C-423/12 , zur Auslegung von Art. 2 Z. 2 lit. c der Unionsbürgerrichtlinie Stellung genommen und dazu in den Rz 20 bis 23 u.a. Folgendes ausgeführt:

"Insoweit ist festzuhalten, dass das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses nachgewiesen werden muss, damit ein 21 Jahre alter oder älterer Verwandter in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers als Person angesehen werden kann, der von dem Unionsbürger im Sinn von Art. 2 Nr. 2 Buchstabe c der Richtlinie 2004/38 ‚Unterhalt gewährt wird' (vgl. in diesem Sinn Urteil Jia, Rn. 42).

Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinn Urteil Jia, Rn. 35).

Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, muss der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob der 21 Jahre alte oder ältere Verwandte in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers in Anbetracht seiner wirtschaftlichen oder sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt. ...

Dagegen ist es nicht erforderlich, die Gründe für diese Abhängigkeit und damit für die Inanspruchnahme der entsprechenden Unterstützung zu ermitteln. Diese Auslegung ist insbesondere durch den Grundsatz geboten, dass Vorschriften über die zu den Grundlagen der Union gehörende Freizügigkeit der Unionsbürger, etwa die Richtlinie 2004/38 , weit auszulegen sind (vgl. in diesem Sinn Urteil Jia, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung)."

18 Somit kommt es für die Angehörigeneigenschaft nach der genannten Bestimmung ausschließlich darauf an, dass der über 21- jährige Verwandte in absteigender Linie auf Grund seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommen kann und daher vom freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger abhängig ist. In einem solchen Fall wird die für Kinder typische Abhängigkeit von den Eltern, die von der Richtlinie sonst bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres vorausgesetzt wird, über dieses Alter hinaus fortgesetzt.

19 Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes leidet der Revisionswerber an einer Behinderung, weshalb für ihn ein Sachwalter bestellt wurde und er in einer Einrichtung der "Lebenshilfe" betreut wird. Er verfügt über kein Einkommen und erhält die notwendige Unterstützung für seinen Lebensbedarf von seiner Mutter. Dazu ergibt sich aus den bei den Verwaltungsakten erliegenden medizinischen Gutachten Folgendes: Der Revisionswerber leidet an einer durch einen Sauerstoffmangel während des Geburtsvorganges mit einem nachfolgenden Hirnödem verursachten Behinderung, aufgrund der er zum Erwerb von Lesen, Schreiben, Rechnen und der Sprache nicht bzw. nur in sehr eingeschränktem Umfang in der Lage war. Eine Kommunikation und Kontaktaufnahme mit ihm ist nur sehr eingeschränkt herstellbar. Es finden sich Störungen des kognitiven Erfassung und Verarbeitung im Rahmen der bestehenden Intelligenzminderung. Die Kritikfähigkeit ist als nicht erhalten zu beurteilen. Die Überblicksgewinnung über komplexe und einfache Angelegenheiten ist ebenfalls nicht erhalten. Die Behinderung besteht seit der Geburt. Es findet sich ein deutliches Selbstfürsorgedefizit, der Revisonswerber benötigt Hilfe für wesentliche alltägliche Verrichtungen, wie z.B. für die Körperpflege.

20 Aus all dem ergibt sich klar, dass sich der Revisionswerber auf Grund seiner seit Geburt bestehenden Behinderung in einer wirtschaftlichen und sozialen Lage befindet, die ihn außer Stande setzt, für seine Grundbedürfnisse aufzukommen, und er daher im Sinn der dargestellten Judikatur des EuGH von seiner Mutter abhängig ist, die unstrittig für seinen sonst nicht gedeckten - finanziellen und sonstigen - Unterhaltsbedarf sorgt.

21 Es bestehen keine Hinweise, dass ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis, das nach Art. 7 Abs. 1 lit. d iVm Art 2 Z. 2 lit. c der Unionsbürgerrichtlinie ein Aufenthaltsrecht für einen über 21-jährigen Verwandten in absteigender Linie begründet, dann nicht vorliegen kann, wenn die für das Aufenthaltsrecht des Unionbürgers und seiner Familienangehörigen erforderlichen Existenzmittel in einem Fall des Art. 7 Abs. 3 der genannten Richtlinie durch eine Mindestsicherungsleistung substituiert werden.

22 Angesichts der sich aus der dargestellten Judikatur des EuGH ergebenden Verpflichtung zu einer weiten Auslegung der Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie, die die Freizügigkeit sicherstellen, ist es daher nicht zweifelhaft, dass der Angehörigeneigenschaft des Revisionswerbers gemäß Art. 2 Z. 2 lit. c der Unionsbürgerrichtlinie der Umstand nicht entgegensteht, dass die finanziellen Mittel zur Unterhaltssicherung des Revisionswerbers aus einer Mindestsicherungsleistung stammen. Die Mindestsicherung ersetzt - wie oben dargestellt - die Eigenmittel der Mutter des Revisionswerbers für den eigenen Unterhalt und den Unterhalt ihrer Angehörigen.

23 Das Verwaltungsgericht hat somit insofern die Rechtslage verkannt, als es die Angehörigeneigenschaft des Revisionswerbers schon deshalb verneinte, weil die Mutter des Revisionswerbers Mindestsicherung bezieht.

24 Angesichts des - wie dargestellt - klaren Inhalts des anzuwenden Unionsrechts tritt der Verwaltungsgerichtshof der Anregung des Revisionswerbers zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nicht näher.

25 Da die verfassungsrechtlichen Bedenken des Revisionswerbers gegen § 5 Abs. 2 Z. 2 und § 52 Abs. 1 Z. 2 NAG nicht geteilt werden, folgt der Verwaltungsgerichtshof auch nicht der Anregung, einen entsprechenden Gesetzesprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof zu richten.

26 Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

27 Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

28 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 16. März 2016

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