Normen
B-VG Art133 Abs4;
MRK Art6 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §44 Abs2;
VwGVG 2014 §44 Abs4;
VwGVG 2014 §44 Abs5;
VwGVG 2014 §44;
VwGVG 2014 §48;
ZustG §16 Abs1;
ZustG §16 Abs5;
ZustG §17 Abs3 impl;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2015020028.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Strafverfügung der BH Korneuburg vom 10. April 2014 wurde der Revisionswerber als handelsrechtlicher Geschäftsführer der Firma "D Gesellschaft m.b.H." als Zulassungsbesitzerin eines näher genannten Lastkraftwagens verschiedener Übertretungen des KFG für schuldig erachtet, wofür über ihn Geldstrafen sowie Ersatzfreiheitsstrafen verhängt wurden.
2 Mit E-Mail vom 1. Mai 2014 erhob der Revisionswerber gegen diese Strafverfügung Einspruch an die BH Korneuburg, in welchem er eine näher bezeichnete Person als bestellten verantwortlichen Beauftragten nannte, die diesbezügliche Bestellungsurkunde anschloss und weiters angab, die Strafverfügung vom 10. April 2014 sei ihm am 28. April 2014 zugegangen, er sei von 11. April 2014 bis 27. April 2014 auf Urlaub gewesen. Es werde um Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens ersucht.
3 Mit Schreiben vom 2. Mai 2014 brachte die Behörde dem Revisionswerber im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis, dass nach der Aktenlage die Strafverfügung vom 10. April 2014 am 15. April 2014 zugestellt worden sei und das am 1. Mai 2014 dagegen erhobene Rechtsmittel daher verspätet erscheine. Der Revisionswerber werde ersucht, seine behauptete Ortsabwesenheit von 11. April 2014 bis 27. April 2014 mit entsprechenden Beweismitteln glaubhaft zu machen.
4 Hierzu äußerte sich der Revisionswerber mit E-Mail vom 16. Mai 2014 dahingehend, dass er seit vielen Jahren einen Nachsendeauftrag von seiner Postadresse auf seine Büroadresse in H. habe. Von 11. April 2014 bis 27. April 2014 habe sich der Revisionswerber auf Urlaub befunden, zum Beweis dafür werde eine Einsatzliste aus dem firmeneigenen EDV-System beigelegt, aus welcher die Tatsache ersichtlich sei, dass der Revisionswerber im angegebenen Zeitraum auf Urlaub gewesen sei. Außerdem bestätige er als Geschäftsführer der Firma "D GmbH", dass "der Dienstnehmer H" sich in der genannten Zeit auf Urlaub befunden habe. Die Strafverfügung sei am 15. April 2014 im Büro in H. "abgegeben" worden; welcher Mitarbeiter sie übernommen habe, sei firmenintern nicht mehr nachvollziehbar. Da der Urlaub "nur mit der Familie" verbracht worden sei, könne der Revisionswerber keine Flugtickets, Hotelrechnungen oä. vorlegen.
5 Mit Bescheid vom 19. Mai 2014 wies die BH Korneuburg den gegen die Strafverfügung vom 10. April 2014 erhobenen Einspruch des Revisionswerbers vom 1. Mai 2014 als verspätet zurück. Die genannte Strafverfügung sei am 15. April 2014 zugestellt worden, die zweiwöchige Einspruchsfrist habe am 29. April 2014 geendet. Trotz richtiger und vollständiger Rechtsmittelbelehrung sei der Einspruch erst am 1. Mai 2014 bei der BH Korneuburg eingebracht worden, daher sei er als verspätet zurückzuweisen.
6 In der dagegen an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (in der Folge: Verwaltungsgericht) erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber (erneut) ua. vor, von 11. April 2014 bis 27. April 2014 ortsabwesend gewesen und erst am 28. April 2014 an die Abgabestelle zurückgekehrt zu sein. Es habe am 15. April 2014 keine wirksame Zustellung an den Revisionswerber an der Abgabestelle stattgefunden. Der am 1. Mai 2014 erhobene Einspruch sei daher rechtzeitig. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht und die Einvernahme näher genannter Zeugen für das erstattete Vorbringen.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. Dezember 2014 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt 1.) und sprach aus, dass gegen das Erkenntnis eine ordentliche Revision unzulässig sei (Spruchpunkt 2.).
8 Begründend führte es hierzu aus, die in Rede stehende Strafverfügung vom 10. April 2014 sei am 15. April 2014 von einem Arbeitnehmer des Revisionswerbers an der im (bis 1. August 2014 gültigen) Nachsendeauftrag angegebenen Anschrift zugestellt (gemeint wohl: übernommen) worden. Das Vorbringen zum Nachsendeauftrag verhelfe daher nicht zum Erfolg. Betreffend das Vorbringen zur urlaubsbedingten Ortsabwesenheit von 11. April 2014 bis 27. April 2014 sei festzuhalten, dass die bloße Behauptung dieses Umstandes, sowie die vorgelegte EDV-Liste und die schriftliche Bestätigung des Revisionswerbers als Geschäftsführer nicht zur Glaubhaftmachung der urlaubsbedingten Ortsabwesenheit geeignet seien. Der Revisionswerber habe "keine konkreten Anhaltspunkte" für sein Vorbringen, wie etwa Flugtickets oder Hotelrechnungen, vorlegen können. Das Vorbringen, auf Urlaub gewesen zu sein, werde als Schutzbehauptung gewertet. Auch bei einem Urlaub mit der Familie müsse es Anhaltspunkte für einen solchen geben. Mit der Glaubhaftmachung sei die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für ein Zutreffen der Voraussetzungen spreche und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei "abzusehen, da nach der Aktenlage erkennbar durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten" sei. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt sei beweiswürdigend beurteilt worden.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in welcher sich der Revisionswerber in der Zulässigkeitsbegründung gegen die Nicht-Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht wendet. Die mündliche Verhandlung wäre unerlässlich gewesen, um eine weitere Klärung des Sachverhaltes herbeizuführen; der Revisionswerber habe die Einvernahme von Zeugen beantragt, es könne zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei Durchführung einer Verhandlung und weiterer Beweisaufnahme zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Der Verhandlungsentfall sei somit unzulässig gewesen; das Verwaltungsgericht sei damit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Weiters sei vom Verwaltungsgericht keine Feststellung darüber getroffen worden, wer am 15. April 2014 der Übernehmer der Strafverfügung gewesen sei. Im Zusammenhang damit fehlten Feststellungen des Verwaltungsgerichtes betreffend einen tauglichen Ersatzempfänger, somit zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung. Auch diesbezüglich liege ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.
10 Die BH Korneuburg erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes zu bestätigen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Der Revisionswerber begründet die Zulässigkeit der Revision (ua.) mit dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht keine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt habe und damit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen sei.
12 Schon im Hinblick auf dieses Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass die Verletzung der Verhandlungspflicht bzw. des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einen Verstoß gegen tragende Verfahrensgrundsätze bzw. eine konkrete schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften und damit eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung darstellt (siehe z. B. VwGH vom 20. April 2016, Ra 2015/04/0016, mwN).
13 § 44 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 (VwGVG) lautet:
"Verhandlung
§ 44. (1) Das Verwaltungsgericht hat eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung entfällt, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
(3) Das Verwaltungsgericht kann von einer Verhandlung absehen, wenn
1. in der Beschwerde nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2. sich die Beschwerde nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3. im angefochtenen Bescheid eine 500 Euro nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4. sich die Beschwerde gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet
und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn es einen Beschluss zu fassen hat, die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.
(...)"
14 Die Begründung im angefochtenen Erkenntnis für das Absehen von einer Verhandlung (es sei von einer solchen abzusehen gewesen, weil nach der Aktenlage erkennbar durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten sei), findet im Gesetz keine Deckung. Da das Verwaltungsgericht mit Erkenntnis entschieden hat, kommt ein Absehen nach § 44 Abs. 4 VwGVG (welches voraussetzt, dass das Verwaltungsgericht einen Beschluss zu fassen hat) nicht in Betracht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. März 2015, Ra 2014/08/0066). Ein ausdrücklicher Verzicht auf die Durchführung einer Verhandlung (im Sinn des § 44 Abs. 5 VwGVG) wurde nicht festgestellt und ist nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.
15 Auch die das Absehen von einer Verhandlung ermöglichenden Tatbestände des § 44 Abs. 3 Z 1 bis 4 VwGVG scheiden bereits von vorneherein aus, weil der Revisionswerber in der Beschwerde die Durchführung der mündlichen Verhandlung ausdrücklich beantragt hat.
16 Es lagen damit keine der in § 44 VwGVG genannten Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung vor. Dieser Verfahrensmangel war im Hinblick auf Art. 6 EMRK jedenfalls wesentlich (vgl. das zitierte Erkenntnis vom 23. März 2015, Ra 2014/08/0066).
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Für das fortgesetzte Verfahren ist auf Folgendes hinzuweisen:
19 Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren zum einen zu ermitteln haben, ob die Strafverfügung der BH Korneuburg vom 10. April 2014 am 15. April 2014 wirksam an einen Ersatzempfänger im Sinne des § 16 Abs. 2 Zustellgesetz zugestellt wurde; zum anderen wird durch Aufnahme geeigneter Beweise die Frage zu klären sein, ob der Revisionswerber, wie von ihm vorgebracht, von 11. April 2014 bis 27. April 2014 von der Abgabestelle abwesend war. Für diesen Fall ist darauf hinzuweisen, dass nach der hg. Rechtsprechung der Empfänger einer Sendung, deren Zustellung einen Fristenlauf auslöst, im Sinne des § 16 Abs. 5 Zustellgesetz wegen Abwesenheit von der Abgabestelle dann nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, wenn ihm wegen Abwesenheit von der Abgabestelle am Tag der vorgenommenen Ersatzzustellung die wahrzunehmende Frist nicht mehr ungekürzt oder nahezu ungekürzt zur Verfügung stand (vgl. VwGH vom 24. Oktober 1989, 88/08/0264, mwN).
20 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.
Wien, am 19. Dezember 2016
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