VwGH Ra 2014/07/0069

VwGHRa 2014/07/006928.1.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bumberger und die Hofrätin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Dr. N. Bachler, Dr. Lukasser und Mag. Haunold als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Revision 1. des G F und 2. des Dr. E F, beide in W, beide vertreten durch Dr. Markus Singer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Weihburggasse 4/1/11, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 9. Juli 2014, Zl. LVwG-MB-14-0009, betreffend Maßnahmenbeschwerde in einer Angelegenheit des AWG 2002 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt), zu Recht erkannt:

Normen

B-VG Art130 Abs1 Z2;
B-VG Art132 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Schriftsatz vom 27. März 2014 erhoben die Revisionswerber eine Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht). Begründend führten die Revisionswerber im Wesentlichen aus, sie seien durch einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in ihren einfachgesetzlichen sowie verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden. Der Erstrevisionswerber sei Nutzungsberechtigter, der Zweitrevisionswerber Eigentümer einer näher bezeichneten Liegenschaft. Am 19. Februar 2014 habe Gr. Insp. F. diese Liegenschaft widerrechtlich betreten, um Nachschau zu halten, ob Abfälle am Grundstück gelagert wären. Den Revisionswerbern sei nicht mitgeteilt worden, dass eine solche Betretung stattfinden werde, geschweige denn seien sie während oder nach dieser Amtshandlung verständigt worden. Dies sei erst einige Zeit später erfolgt.

Im Zuge der am 4. Juli 2014 vom Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung gab der Erstrevisionswerber u. a. an, dass die betreffende Liegenschaft eingezäunt sei. Das Tor sei zunächst leicht zu öffnen gewesen. Vor dem 19. Februar 2014 habe er es mit einer Kette und einem Vorhängeschloss verschlossen. Nach dem 19. Februar 2014 sei die Kette einmal "durchgezwickt" gewesen. Der Zaun sei aber bereits so beschaffen gewesen, dass man auch "durchkraxeln" habe können. Gr. Insp. F. habe die Telefonnummer des Erstrevisionswerbers gehabt und ihn auch mehrfach kontaktiert. Es wäre ihm daher auch möglich gewesen, den Erstrevisionswerber hier zu kontaktieren. Dies insbesondere, da der Erstrevisionswerber ihm gesagt habe, dass er nur in seiner Gegenwart und der Gegenwart eines Anwaltes auf das Grundstück dürfe.

Der als Zeuge einvernommene Gr. Insp. F. führte aus, es sei richtig, dass er am 19. Februar 2014 eine Kontrolle auf dem gegenständlichen Grundstück durchgeführt habe. Das Grundstück habe er insoweit betreten können, als der Zaun weggebrochen gewesen sei

und er durch die Hecke "durchgehen" habe können, ohne ein

Hindernis überwinden zu müssen. Durch das große Tor habe er nicht durchgehen können, zumal es mit einer Stahlgittermatte verschlossen gewesen sei. Diesbezüglich verweise er auf die Lichtbilder, die er angefertigt habe. Das kleine Tor sei, wie vom Erstrevisionswerber geschildert, mit einer Kette verschlossen gewesen. Gr. Insp. F. sei mit dem Erstrevisionswerber in telefonischem Kontakt gestanden und habe ihm gesagt, dass er die Gegenstände entsorgen müsse. Der Erstrevisionswerber habe gesagt, dass er dies machen werde und dass Gr. Insp. F. dann jederzeit eine Kontrolle durchführen könne. Diesbezüglich habe Gr. Insp. F. den Erstrevisionswerber auch nicht mehr kontaktiert. Wenn er die Liegenschaft betreten habe, sei er in Uniform und mit dem Funkwagen unterwegs gewesen, sodass er als Polizist jedem erkennbar gewesen sei. Er habe sich zunächst an den Abfallbesitzer, den Erstrevisionswerber, gewendet und nach der Begehung auch an den Grundstückseigentümer, den Zweitrevisionswerber.

Mit Beschluss vom 9. Juli 2014 wies das Verwaltungsgericht die Maßnahmenbeschwerde als unzulässig zurück (Spruchpunkt 1.) und sprach aus, dass gegen den Beschluss eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig sei (Spruchpunkt 3.).

Begründend gab das Verwaltungsgericht zunächst den wesentlichen Inhalt der Beschwerde, die zusammengefassten Ausführungen der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift sowie die wesentlichen Teile der Aussagen des Erstrevisionswerbers und des Zeugen Gr. Insp. F. in der mündlichen Verhandlung wieder.

"In der Sache" führte das Verwaltungsgericht aus, zu den wesentlichen Elementen von Akten unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zählten nach h. M., dass sie von Verwaltungsorganen im Bereich der Hoheitsverwaltung relativ formfrei gesetzt werden würden, sich an einen individuell bestimmten Personenkreis wendeten und entweder in Form eines Befehls ergingen oder in der Anwendung physischen Zwangs bestünden. Zentrales Merkmal derartiger Akte und damit zentrales Abgrenzungskriterium zu schlicht-hoheitlichem Handeln sei die Normativität des Aktes. Zumal sich diese Normativität bei Befehlsakten nach ständiger Rechtsprechung darin manifestiere, dass dem Befehlsadressaten eine bei Nichtbefolgung unverzüglich einsetzende physische Sanktion angedroht werde bzw. aus den Begleitumständen des Einzelfalles erkennbar sei, scheide das Vorliegen eines Befehlsaktes notwendig aus, wo der Adressat der Amtshandlung von dieser keine Kenntnis habe. Demgemäß bleibe zu prüfen, ob das einschreitende Organ "physischen Zwang im Zuge der Amtshandlung Zwang iSd von Gewalt (wenn auch nur gegen Sachen)" angewendet habe, um auf die Liegenschaft zu gelangen. Da dies aufgrund der vorliegenden Beweisergebnisse nicht angenommen werden könne, sondern - durch Lichtbilder belegt - davon auszugehen sei, dass die Liegenschaft ohne Anwendung physischen Zwanges betreten werden habe können, fehle es dem angefochtenen Akt an der für die Bekämpfbarkeit erforderlichen Normativität, sodass die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen gewesen sei.

Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, da im gegenständlichen Verfahren keine Rechtsfrage zu lösen gewesen sei, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukomme, weil die durchgeführte rechtliche Beurteilung aufgrund der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung erfolgt sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die vom Verwaltungsgericht gemäß § 30a Abs. 7 VwGG unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurde.

Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Ansicht vertrat, dass das Einschreiten des Exekutivorgans gemäß § 82 Abs. 1 iVm § 79 Abs. 1 Z 1 und § 15 Abs. 3 Abfallwirtschaftsgesetz 2002 rechtmäßig gewesen sei.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Auf Beschlüsse der Verwaltungsgerichte ist Art. 133 Abs. 4 B-VG sinngemäß anzuwenden (Art. 133 Abs. 9 B-VG).

Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

2. Die Revisionswerber bringen zur Zulässigkeit ihrer Revision vor, als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung sei die fallentscheidende Frage anzusehen, nach welchen Kriterien das Betreten einer Liegenschaft durch Verwaltungsorgane als Maßnahme unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu qualifizieren sei. Das Verwaltungsgericht sei diesbezüglich von der bestehenden (in der Revision näher zitierten) höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen, weil es diese in unvertretbarer Weise angewendet habe.

Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch berechtigt.

3. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts liegt eine Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt dann vor, wenn ohne Durchführung eines Verfahrens einseitig in subjektive Rechte des Betroffenen eingegriffen wird. Ein derartiger Eingriff liegt im Allgemeinen dann vor, wenn physischer Zwang ausgeübt wird oder die unmittelbare Ausübung physischen Zwangs bei Nichtbefolgung eines Befehls droht (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 20. November 2006, Zl. 2006/09/0188, und vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154, jeweils mwN). In diesem Sinne wurde u.a. das Aufsperren verschlossener Räume oder das gewaltsame Eindringen in ein ehemaliges Geschäftslokal bzw. in eine Wohnung als ein Akt der unmittelbaren verwaltungsbehördlichen Befehls- und Zwangsgewalt qualifiziert (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Jänner 2002, Zl. 99/11/0294, und die dort zitierte Rechtsprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes).

Als Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wurde in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (aber) auch die Abhaltung einer militärischen Übung ohne die Zustimmung des Grundeigentümers, das Betreten eines Hauses und die ohne Zustimmung des Verfügungsberechtigten vorgenommene Nachschau in einigen Zimmern durch einen Gendarmeriebeamten oder das Betreten und die Nachschau in einer Wohnung, ohne dass dies freiwillig gestattet worden wäre, angesehen, und zwar in all diesen Fällen ungeachtet des Umstandes, dass physischer Zwang weder ausgeübt noch angedroht worden war (vgl. dazu die bereits zitierten hg. Erkenntnisse vom 20. November 2006, Zl. 2006/09/0188, und vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154, und die dort zitierte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes).

Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt können auch vorliegen, wenn die Maßnahmen für den Betroffenen nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, vielmehr kommt es darauf an, ob ein Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen erfolgt. Dies kann auch ohne sein Wissen der Fall sein (vgl. erneut die Erkenntnisse vom 20. November 2006, Zl. 2006/09/0188, und vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154, jeweils mwN.)

Im Betreten einer Liegenschaft, bei dem sich die einschreitenden Organe auf Verhaltensweisen beschränkt haben, die im ländlichen Raum zur Feststellung, ob jemand zu Hause sei, durchaus üblich sind (das Öffnen eines nicht versperrten, aber geschlossenen Gatters sowie nicht versperrter, aber geschlossener Türen einer Tenne sowie eines Stalls), hat der Verfassungsgerichtshof jedoch ebenso wenig die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erblickt, wie im bloßen Befahren einer Privatstraße, die nicht als Privatstraße mit Fahrverbot ersichtlich gemacht war und in welchem Fall der Grundeigentümer von der Amtshandlung nicht betroffen war (vgl. wiederum die hg. Erkenntnisse vom 20. November 2006, Zl. 2006/09/0188, und vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154, jeweils mwN). Auch das "schlichte" Fotografieren im Zuge einer Amtshandlung wurde vom Verfassungsgerichtshof nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt beurteilt (vgl. z.B. die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom 23. September 1983, VfSlg. 9783/1983, und vom 13. Dezember 1988, VfSlg. 11935/1988). Hingegen hat er das mit der Auferlegung einer impliziten Duldungspflicht verbundene Filmen einer Person durch ein Polizeiorgan als Akt der unmittelbaren verwaltungsbehördlichen Befehls- und Zwangsgewalt qualifiziert (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 30. November 2011, VfSlg. 19563/2011).

Für die Qualifikation der gegenständlichen Amtshandlung ist angesichts der dargestellten Rechtsprechung daher von wesentlicher Bedeutung, ob durch sie ein Eingriff in die Rechtssphäre der Revisionswerber dadurch bewirkt wurde, dass Gr. Insp. F. ohne die Zustimmung der Revisionswerber das vom Erstrevisionswerber genutzte und im Eigentum des Zweitrevisionswerbers stehende Grundstück betrat, dort Erhebungen pflog und ob sein Verhalten in objektiver Hinsicht darauf abzielte, eine diesbezügliche Duldungspflicht der Revisionswerber zu bewirken (vgl. nochmals die Erkenntnisse vom 20. November 2006, Zl. 2006/09/0188, und vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154).

Aus den insofern übereinstimmenden Aussagen des Erstrevisionswerbers und des Zeugen Gr. Insp. F. in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht und den in den Akten erliegenden Lichtbildern geht hervor, dass das Grundstück durch einen - wenn auch schadhaften - Zaun nach außen abgegrenzt war. Nach seinen eigenen Angaben ist Gr. Insp. F. am 19. Februar 2014 in Abwesenheit der Revisionswerber über eine schadhafte Stelle im Zaun und das Durchschreiten der Hecke auf das Grundstück gelangt, um dort eine Kontrolle durchzuführen. Dabei wurden auch die im Akt erliegenden Lichtbilder angefertigt (vgl. zur insoweit vergleichbaren Vorgangsweise wieder das hg. Erkenntnis vom 22. Februar 2007, Zl. 2006/11/0154). Nun kann aber im Betreten eines Grundstückes über eine Lücke im Zaun und der dortigen Durchführung von Erhebungen, insbesondere der Anfertigung von Lichtbildern, keineswegs eine Verhaltensweise gesehen werden, "die im ländlichen Raum zur Feststellung, ob sich jemand dort aufhält, durchaus üblich" ist. Sie hatte ganz offensichtlich einen über eine solche Feststellung hinausgehenden, anderen Zweck. Angesichts dieser Umstände erweist sich die rechtliche Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die gegenständliche Amtshandlung am 19. Februar 2014 sei nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im Sinne des Art. 132 Abs. 2 B-VG zu qualifizieren, aber als verfehlt.

Im Übrigen wird zum notwendigen Inhalt der Begründung der Entscheidung eines Verwaltungsgerichts auf das hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, Zl. Ro 2014/03/0076, hingewiesen.

4. Aufgrund obiger Erwägungen war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

5. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013, idF der Novelle BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 28. Jänner 2016

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