VwGH 2013/22/0303

VwGH2013/22/030326.3.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Beschwerde des A in Wien, vertreten durch Mag. Nikolaus Rast, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottengasse 10, gegen den am 19. November 2012 mündlich verkündeten und am 22. Jänner 2013 schriftlich ausgefertigten Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien, Zl. UVS-FRG/46/7487/2012, betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §52 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs2;
FrPolG 2005 §61 Abs1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §52 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs2;
FrPolG 2005 §61 Abs1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (im Folgenden als "Behörde" bezeichnet) gegen den Beschwerdeführer, einen algerischen Staatsangehörigen, gemäß § 52 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von achtzehn Monaten befristetes Einreiseverbot.

Begründend führt die Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei am 1. April 2003 gemeinsam mit seiner Ehefrau, ebenfalls algerische Staatsangehörige, illegal nach Österreich eingereist und habe einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 16. November 2010 sei der Asylantrag abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt worden.

Während des Asylverfahrens sei der Beschwerdeführer zweimal straffällig geworden. Am 27. August 2003 habe er einer dritten Person Geld im Gesamtwert von mehr als EUR 3.000,-- gestohlen, indem er durch widerrechtliche Bankomatbehebungen bzw. Überweisungen mit einer fremden Bankomatkarte in insgesamt vierzehn Angriffen fremdes Geld für eigene Zwecke abgehoben bzw. abgebucht habe. Wegen dieses Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten schweren Diebstahls sei der Beschwerdeführer am 1. Oktober 2004 vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt worden.

Im Zeitraum vom 14. September 2005 bis 7. Oktober 2008 habe der Beschwerdeführer mit dem Vorsatz, sich unrechtmäßig zu bereichern, aus einer Anlage, die der Zuführung von elektrischer Energie diene, Energie im Wert von EUR 3.102,-- entzogen, indem er das Zählwerk in seiner Wohnung fachmännisch umgangen habe. Deswegen sei der Beschwerdeführer am 6. April 2009 vom Landesgericht für Strafsachen Wien neuerlich zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden.

Der Beschwerdeführer habe zu seiner letzten strafgerichtlichen Verurteilung in der mündlichen Verhandlung vor der Behörde befragt angegeben, dass er die Plombe vom Stromzähler in seinem Wohnhaus entfernt habe; er versichere aber, keinen Strom gestohlen zu haben. Ihm wären bloß die Stromrechnungen ihrer Höhe nach suspekt gewesen.

Der Beschwerdeführer - so die Behörde in ihrer Bescheidbegründung weiter - beherrsche die deutsche Sprache so gut wie es bei einem nunmehr bereits knapp zehn Jahre währenden Aufenthalt in Österreich zu erwarten sei. Die berufliche Integration des Beschwerdeführers am regulären Arbeitsmarkt sei nicht erfolgt. Für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels habe der Beschwerdeführer eine Einstellungszusage einer Werbeverteilerfirma. Außerdem habe der Beschwerdeführer freiwillig und unentgeltlich Dienste für die Caritas geleistet und bei der Wirtschaftskammer Österreich eine Ausbildung zum Staplerfahrer abgeschlossen.

Familiäre Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich lägen - abgesehen von jenen zu seiner ebenfalls illegal aufhältigen Ehegattin - nicht vor.

Weiters führte die Behörde aus, die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers in den Jahren 2004 und 2009 beruhten auf der gleichen schädlichen Neigung. Dies rechtfertige gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG die Annahme, dass der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. In diesem Zusammenhang sei auf die in der mündlichen Verhandlung gezeigte Uneinsichtigkeit des Beschwerdeführers betreffend seine letzte Verurteilung sowie auf den Umstand hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer und seine Gattin zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf Zuwendungen der Caritas angewiesen seien und daher durchaus die Gefahr gegeben sei, der Beschwerdeführer könnte sich in Ermangelung anderer Erwerbsmöglichkeiten neuerlich an fremdem Eigentum vergreifen.

In ihrer Abwägung berücksichtigte die Behörde den langjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich, der zu einem großen Teil den von ihm nicht verschuldeten Verzögerungen im Asylverfahren zuzurechnen sei, und seine Bereitschaft, die deutsche Sprache zu erlernen. Diese für den Beschwerdeführer sprechenden Umstände würden gegenüber dem sich aus den Straftaten des Beschwerdeführers ergebenden öffentlichen Interesse an der Hintanhaltung der Eigentumskriminalität sowie dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremden- und Migrationswesen in den Hintergrund treten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen gerichtete Beschwerde nach Aktenvorlage durch die Behörde erwogen:

Soweit durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist, sind gemäß § 79 Abs. 11 VwGG in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren die bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Bestimmungen weiter anzuwenden. Dies trifft auf den vorliegenden Fall zu.

Im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides im November 2012 sind die Bestimmungen des FPG in der Fassung vor dem BGBl. I Nr. 87/2012 anzuwenden.

§ 52, § 53 und § 61 FPG lauteten in dieser Fassung auszugsweise:

"§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen ist, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

..."

"§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung wird ein Einreiseverbot unter Einem erlassen. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von mindestens 18 Monaten, höchstens jedoch für fünf Jahre zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, ob der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. ...

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

..."

"§ 61. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

..."

Die Beschwerde wendet sich gegen das Ergebnis der behördlichen Interessenabwägung und ist damit im Recht.

Der Beschwerdeführer war bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung beinahe zehn Jahre im Bundesgebiet aufhältig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt ausgesprochen, dass ein beinahe zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet ein großes Gewicht verleihen kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 9. September 2014, 2013/22/0247, mwN). Bei einer solchen, dermaßen langen Aufenthaltsdauer wird regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit der Unverhältnismäßigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung auszugehen sein. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden ausnahmsweise Ausweisungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. das Erkenntnis vom 30. Juli 2014, 2013/22/0290).

Von einem Fehlen jeglicher Integration kann aber im gegenständlichen Beschwerdefall nicht die Rede sein. Der Beschwerdeführer absolvierte eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1. Weiters verfügt der Beschwerdeführer, der gemeinsam mit seiner Ehefrau in Österreich lebt, über eine Einstellungszusage, absolvierte in Österreich eine Ausbildung zum Staplerfahrer und war ehrenamtlich für die Caritas tätig.

Soweit die Behörde die strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers zu jeweils bedingten Haftstrafen anführt, berücksichtigt sie nicht in ausreichendem Maße, dass seit der letzten Tathandlung bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung etwa viereinhalb Jahre vergangen sind, in denen sich der Beschwerdeführer gemäß der Aktenlage nichts zu Schulden kommen hat lassen. Vor diesem Hintergrund stehen den Ausführungen der Behörde, wonach die Gefahr gegeben sei, der Beschwerdeführer könne sich neuerlich an fremdem Eigentum vergreifen, weil er und seine Ehegattin zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf Zuwendungen der Caritas angewiesen seien, der angeführte Lebenswandel des Beschwerdeführers sowie die Einstellungszusage im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegen. Anhand der behördlichen Feststellungen kann sohin nicht gesagt werden, die Begehung der mehrere Jahre zurückliegenden strafbaren Handlungen wäre fallbezogen geeignet gewesen, das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung in einem solchen Ausmaß zu vergrößern, sodass trotz des beinahe zehn Jahre währenden Aufenthalts des Beschwerdeführers mit seiner Ehegattin und der in dieser Zeit erlangten Integration die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (allenfalls: immer noch) als zulässig anzusehen wäre.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines damit verbundenen Einreiseverbotes stellt sich daher als unverhältnismäßig dar.

Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008 und § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die verzeichnete Umsatzsteuer bereits im pauschalierten Schriftsatzaufwand enthalten ist.

Wien, am 26. März 2015

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