Normen
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2014:RA2014160010.L00
Spruch:
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Der am 7. August 1968 geborene Revisionswerber beantragte durch seinen Sachwalter die Gewährung (erhöhter) Familienbeihilfe für sich.
Das Finanzamt wies mit Bescheid vom 15. November 2012 diesen Antrag für den Zeitraum ab September 2012 ab.
Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesfinanzgericht die gegen den Bescheid des Finanzamtes erhobene, gemäß § 323 Abs. 38 BAO als Beschwerde zu erledigende Berufung des Revisionswerbers als unbegründet ab. Das Bundesfinanzgericht sprach aus, dass eine Revision gegen sein Erkenntnis nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei und begründete dies damit, dass im Revisionsfall keine Rechtsfrage strittig sei und der Sachverhalt vom Bundesfinanzgericht in freier Beweiswürdigung festgestellt worden sei.
Das Bundesfinanzgericht ging dabei von folgendem Sachverhalt aus:
Der Revisionswerber habe die Volks- und Hauptschule besucht und eine Lehre als Einzelhandelskaufmann abgeschlossen. Im Jahr 1989 habe er den Präsenzdienst (gemeint: Grundwehrdienst) geleistet. Er sei ledig, wohne in einer eigenen Wohnung, sei besachwaltet und beziehe seit Mai 2010 eine Invaliditätspension. Er habe im Zeitraum von Dezember 1984 bis Juli 2007 rund 70 Monate gearbeitet, dabei häufig den Dienstgeber gewechselt, weshalb die Arbeitsverhältnisse oft nur von kurzer Dauer gewesen und immer wieder durch Arbeitslosenzeiten unterbrochen worden seien.
Im Zuge des Verwaltungsverfahrens sei der Revisionswerber zweimal fachärztlich untersucht worden. In den darauf vom Bundessozialamt vorgelegten, im angefochtenen Erkenntnis im einzelnen wiedergegebenen Gutachten vom 13. November 2012 und vom 12. Juni 2013 (letzteres Gutachten wurde erstellt am 4. Juli 2013 nach einer Untersuchung des Revisionswerbers am 12. Juni 2013) hätten die befassten Ärzte eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit schizoiden Anteilen festgestellt und die Erkrankung unter die Richtsatzposition 030402 der Einschätzungsverordnung BGBl. II Nr. 261/2010 eingereiht. Der Grad der Behinderung von 50 % und der Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit sei letztlich rückwirkend ab Bezug der Invaliditätspension bescheinigt worden. Befunde, die eine Erwerbsunfähigkeit vor Beendigung des 21. Lebensjahres oder bis zur Beendigung der Schul-/Lehrausbildung belegen könnten, lägen nicht vor.
Das Gutachten vom 4. Juli 2013 enthalte folgende Anamnese "1984 erste stationäre Aufnahme im AKH mit der Vermutungsdiagnose 'juvenile Psychose' (Clozapinverordnung), anschließende 11 Jahre unauffälliger Verlauf, bis zu einem Suizidversuch mit Tabletten im Jahr 1995. Start der Behandlung beim PSD im Jahr 2001. Das PSD führt an, dass der AW wohl in vielen Phasen seines Berufslebens nicht in der Lage war, den Anforderungen zu entsprechen. Sozialanamnestisch ist zu erfahren, dass der AW die Lehre zum EHKF abgeschlossen hat, diverse Arbeitstätigkeiten, zuletzt 2008 ausgeübt habe. Seit 2010 wird Invaliditätspension bezogen. Seit 02/2012 besachwaltet. 2010 wäre er in U-Haft nach Streitigkeiten mit der Lebensgefährtin gewesen. Er wäre ein Jahr vorübergehend untauglich geschrieben gewesen (lt. eigenen Angaben 'starker' Jahrgang). Keine Medikation, unregelmäßige Betreuung durch den PSD."
Das Bundesfinanzgericht erachtete die Gutachten für ausführlich und schlüssig und hielt dazu fest:
"Der Begriff der 'Persönlichkeitsstörung' umfasst ein weites Spektrum recht verschiedener Störungsbilder, die durch die besonders extreme Ausprägung gewisser Charakterzüge bzw. 'Eigenheiten' gekennzeichnet sind.
Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter.
Die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen stellt komplexe Anforderungen an den Untersucher. Gründe dafür sind beispielsweise unterschiedliche Ausprägungen, unterschiedliche Krankheitsverläufe, verschiedene psychische Krankheitsbilder.
Die Festsetzung des Zeitpunktes, wann ein psychisch kranker Mensch erwerbsunfähig geworden ist, gestaltet sich daher schwierig.
Viele Personen sind nämlich trotz ihrer psychischen Erkrankung(en) mehr oder weniger lang berufstätig, auch wenn ihnen dadurch die Ausübung des Berufes schwer fällt. Typischerweise häufen sich bei psychisch kranken Menschen Krankenstände. Es wird erfahrungsgemäß auch der Dienstgeber meist häufiger gewechselt als dies bei nicht psychisch kranken Arbeitnehmern der Fall ist.
Damit aber eine Person die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe erfüllt, muss die Erwerbsunfähigkeit bereits vor dem 21. Lebensjahr eingetreten sein und dies durch das Bundessozialamt aufgrund der erstellten Sachverständigengutachten bescheinigt werden.
Die Sachverständigen im Bundessozialamt ziehen bei ihrer Diagnoseerstellung bzw. um den Zeitpunkt des Eintrittes der Erwerbsunfähigkeit feststellen zu können, neben den Untersuchungsergebnissen und ihrem Fachwissen regelmäßig die von den Antragstellern vorgelegten Befunde heran. Hilfreich sind dabei vor allem 'alte' Befunde, Arztbriefe etc., die darauf schließen lassen, dass die Erkrankung bereits vor dem 21. Lebensjahr bzw. während einer schulischen Ausbildung aufgetreten ist; aber derartige Befunde stehen den Sachverständigen erfahrungsgemäß kaum zur Verfügung, vermutlich auch deswegen, weil sich viele Erkrankungen mit zunehmendem Alter verschlechtern und demgemäß ärztliche Hilfe erst später in Anspruch genommen wird. Vorgelegt werden daher häufig Befunde, die kaum älter als drei oder vier Jahre alt sind.
Die Ärzte haben somit medizinische Feststellungen über Zeiträume zu treffen, die oft dreißig Jahre und mehr zurückliegen.
Damit kann aber die vom Gesetzgeber geforderte Feststellung des tatsächlichen Eintrittes der Erwerbsunfähigkeit eines Antragstellers immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen."
Aus den Sachverständigengutachten leitete das Bundesfinanzgericht ab, dass eine dauernde Erwerbsunfähigkeit jedenfalls erst ab 2010 anzunehmen sei. Der in einem vorgelegten Befundbericht zur Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension enthaltene Hinweis auf eine Vermutungsdiagnose "juvenile Psychose" ändere daran nichts, weil die Tatsache der zusammen sechsjährigen Berufstätigkeit bis Juli 2007 für die vom Sachverständigen getroffene Festsetzung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit mit 2010 spreche.
Dagegen richtet sich die vorliegende Revision. Der Revisionswerber erachtet sich in seinem Recht auf Gewährung erhöhter Familienbeihilfe verletzt.
Das Finanzamt Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf unterließ es, eine Revisionsbeantwortung einzureichen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 6 Abs. 2
lit. d des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 (FLAG) haben volljährige Vollwaisen bei Vorliegen näher genannter weiterer Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie
"wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden."
Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben gemäß § 6 Abs. 5 FLAG unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat.
Gemäß § 8 Abs. 6 FLAG ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtliche dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Dies gilt gemäß § 8 Abs. 7 FLAG sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 leg. cit. Anspruch auf Familienbeihilfe haben.
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Das Bundesfinanzgericht hat gemäß § 25a Abs. 1 VwGG im Spruch seines Erkenntnisses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Der Verwaltungsgerichtshof ist gemäß § 34 Abs. 1a VwGG bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Bundesfinanzgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 leg. cit. nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 leg. cit.) zu überprüfen.
Der Revisionswerber begründet die Zulässigkeit seiner Revision damit, es liege keine "höchstgerichtliche Judikatur zu der Frage vor, ob der Zeitpunkt des Eintritts der Behinderung mit dem des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit" zusammen zu fallen habe oder nicht.
Die außerordentliche Revision ist zulässig.
Eine ausdrückliche Rechtsprechung zu der vom Revisionswerber aufgeworfenen Frage besteht - soweit ersichtlich - nicht. Lediglich implizit hat der Verwaltungsgerichtshof diese Frage in den Erkenntnissen jeweils vom 22. Dezember 2011, 2009/16/0307 und 2009/16/0310, bejaht.
Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.
Unstrittig ist, dass der Revisionswerber im Streitzeitraum wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande war, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Strittig ist im Revisionsfall, ob diese körperliche oder geistige Behinderung des Revisionswerbers vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder allenfalls während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Im Revisionsfall kann dahin gestellt bleiben, ob der Revisionswerber Vollwaise ist oder ob er seine Anspruchsberechtigung auf § 6 Abs. 5 FLAG gründet.
Die Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 lit. c FLAG und des § 6 Abs. 2 lit. d leg. cit. und damit auch des § 6 Abs. 5 FLAG unterscheiden sich im hier strittigen Punkt nicht.
Der Revisionswerber trägt vor, wie sich aus der Krankengeschichte ergebe, habe er sich seit seiner Jugend in einem derart schlechten psychischen Zustand befunden, der es ihm nicht ermöglicht habe, für sich selbst zu sorgen. Jedenfalls sei bereits im jugendlichen Alter oder während der Berufsausbildung eine psychische Erkrankung vorgelegen. Selbst wenn die Erwerbsunfähigkeit erst im Jahr 2010 aufgetreten sei, sei dies auf diese Erkrankung zurückzuführen.
§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG stellt darauf ab, dass der Vollwaise auf Grund einer zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenen Behinderung außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Eine derartige geistige oder körperliche Behinderung kann durchaus die Folge einer Krankheit sein, die schon seit längerem vorliegt (bei angeborenen Krankheiten oder genetischen Anomalien etwa seit Geburt), sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestiert. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Behinderung führt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Tatbestand des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG erfüllt. Mithin kommt es weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt.
Diesen Zeitpunkt hat das Bundesfinanzgericht auf Grund der ihm vorliegenden Gutachten in zutreffender rechtlicher Beurteilung mit dem Jahr 2010 festgelegt, weshalb bei dem im Jahr 1968 geborenen Revisionswerber der Tatbestand des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG zweifellos nicht erfüllt ist.
Eine Unschlüssigkeit der Gutachten vermag der Revisionswerber mit dem Hinweis auf das Vorliegen eines schlechten psychischen Zustandes seit seiner Jugend und auf mehrere nicht näher konkretisierte stationäre psychiatrische Behandlungen vor dem Jahr 1995 nicht aufzuzeigen.
Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte aus den Gründen des § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 20. November 2014
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