VwGH 2013/22/0019

VwGH2013/22/001917.4.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde 1. der H, und 2. des A, beide in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres je vom 17. Dezember 2012, Zl. 161.886/3-III/4/12 (ad. 1.), und Zl. 161.886/4-III/4/12 (ad. 2.), betreffend Anmeldebescheinigung (ad. 1.) und Aufenthaltskarte (ad. 2.), zu Recht erkannt:

Normen

11997E039 EG Art39;
12010E045 AEUV Art45;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7;
62008CJ0127 Metock VORAB;
62011CC0040 Iida Schlussantrag;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
EURallg;
NAG 2005 §2 Abs2;
NAG 2005 §51 Abs1;
NAG 2005 §51;
NAG 2005 §53 Abs1;
NAG 2005 §54;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2013:2013220019.X00

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde im Instanzenzug den Antrag der Erstbeschwerdeführerin, einer deutschen Staatsangehörigen, auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung gemäß § 51 Abs. 1 und § 53 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zurück.

Mit dem zweitangefochtenen, gleichfalls im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Zweitbeschwerdeführers, des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin und nigerianischen Staatsangehörigen, auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG ab.

Zur Begründung verwies die belangte Behörde in den angefochtenen Bescheiden im Wesentlichen darauf, dass die Erstbeschwerdeführerin ihr Unionsrecht auf Freizügigkeit im Sinn des Art. 7 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (im Folgenden: RL) nicht ausgeübt habe. Die Erstbeschwerdeführerin komme nämlich lediglich für wenige Tage zu ihrem Ehemann nach Österreich, um ihrer geringfügigen Beschäftigung im Ausmaß von zehn Stunden monatlich für Marketingtätigkeit nachzukommen. Ihr sei mitgeteilt worden, dass Aufenthalte unter drei Monate nicht in den Anwendungsbereich des NAG fielen. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich bis dato nie länger als drei Monate im Bundesgebiet aufgehalten. Es habe auch keine Absicht für einen Aufenthalt von über drei Monaten festgestellt werden können. Deshalb fänden auf sie die Bestimmungen der §§ 51ff NAG keine Anwendung.

Der Zweitbeschwerdeführer sei am 23. Mai 2006 in Österreich eingereist und habe am selben Tag einen Asylantrag eingebracht. Derzeit sei eine Beschwerde beim Asylgerichtshof anhängig. Am 28. Dezember 2010 habe er die Erstbeschwerdeführerin geheiratet.

Die belangte Behörde verwies auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-40/11 , wonach das nach der RL zustehende Recht, bei einem Unionsbürger Wohnung zu nehmen, nur im Aufnahmemitgliedstaat in Anspruch genommen werden könne, in dem dieser Bürger wohne. Der Zweitbeschwerdeführer sei der Erstbeschwerdeführerin nicht in den Aufnahmemitgliedstaat nachgezogen und die Erstbeschwerdeführerin beabsichtige auch nicht, sich länger als drei Monate in Österreich aufzuhalten. Daher könne dem Zweitbeschwerdeführer auf Grundlage der RL kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht dokumentiert werden.

Da der Zweitbeschwerdeführer über ein asylrechtliches Aufenthaltsrecht verfüge, könne in seinem Fall davon ausgegangen werden, dass - auch wenn ihm keine Aufenthaltskarte ausgestellt werde - kein De-facto-Zwang im Sinn des Urteiles des EuGH in der Rechtssache Dereci vorliege, der den Zusammenführenden (den Unionsbürger) zum Verlassen der Europäischen Union zwingen würde.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

In der Beschwerde wird darauf verwiesen, dass die Erstbeschwerdeführerin in Deutschland im Rahmen eines öffentlichrechtlichen Dienstverhältnisses vollzeitbeschäftigt sei und in Wien seit 26. April 2011 einer geringfügigen Beschäftigung nachgehe. Zu diesem Zweck und zur Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft mit dem Zweitbeschwerdeführer komme sie einbis zweimal monatlich für jeweils mehrere Tage nach Wien. Der Zweitbeschwerdeführer lebe seit Juni 2006 als Asylwerber in Österreich und sei hier zum vorläufigen Aufenthalt berechtigt. Das gemeinsame Eheleben finde in Österreich statt. Dass sich die Erstbeschwerdeführerin überwiegend in Deutschland aufhalte und dort auch einer Vollzeitbeschäftigung nachgehe, ändere nichts daran, dass sie ihr Unionsrecht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe.

§ 2 Abs. 2 NAG definiert die Niederlassung als den tatsächlichen oder zukünftig beabsichtigten Aufenthalt im Bundesgebiet zum Zweck u.a. der Aufnahme einer nicht bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit (Z 3).

Die §§ 51 ff NAG (hier maßgeblich in der Fassung BGBl. I Nr. 50/2012) knüpfen in den Bestimmungen über die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger und einer Aufenthaltskarte für deren Angehörige an die Ausübung des Unionsrechts auf Freizügigkeit nach der RL an.

Gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. a RL hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist.

Die belangte Behörde sprach der Erstbeschwerdeführerin die Inanspruchnahme dieses Rechts mit der Begründung ab, dass diese sich nie länger als zwei Wochen pro Monat im Bundesgebiet aufgehalten habe.

Damit hat sie die Rechtslage verkannt.

Nach ständiger Rechtssprechung des EuGH (vgl. etwa die Urteile vom 8. November 2012, C-40/11 , "Iida"; vom 25. Juli 2008, C-127/08 "Metock u.a.", und vom 15. November 2011, C-256/11 "Dereci u.a.") steht das Nachzugsrecht jenen Drittstaatsangehörigen zu, die im Sinn dieser Richtlinie "Familienangehörige" eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat.

Die belangte Behörde verneinte das Vorliegen einer "Niederlassung" als Voraussetzung einer Ausübung des Freizügigkeitsrechts allein mit dem Fehlen eines ständigen Aufenthalts, ohne die berufliche Tätigkeit der Erstbeschwerdeführerin in Österreich einer Prüfung zu unterziehen.

Bemerkt sei dazu, dass nicht jede auch noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts Relevanz entfaltet (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2012, 2010/22/0011). Vielmehr ist es erforderlich, dass mit einer gewissen Nachhaltigkeit von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht wird. Was die Festlegung der Nachhaltigkeitsgrenze anlange, so liegt es nahe, auf die Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff abzustellen. Der EuGH verlangt für die Qualifikation als Arbeitnehmer im Sinn von Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) jenseits des Erfordernisses einer abhängigen Beschäftigung gegen Entgelt in einem anderen Mitgliedstaat einschränkend eine "tatsächliche und echte Tätigkeit", die keinen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine "völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit" handelt. Dieser Maßstab lässt sich allgemein dergestalt auf alle Freizügigkeitsrechte übertragen, dass eine "tatsächliche und effektive" Ausübung derselben vorliegen muss. In der erwähnten Rechtsprechung zum Arbeitnehmerbegriff hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass die Höhe der Vergütung, die der Arbeitnehmer erhält, ebensowenig von alleiniger Bedeutung ist wie das Ausmaß der Arbeitszeit und die Dauer des Dienstverhältnisses (vgl. das hg.  Erkenntnis vom 29. September 2011, 2009/21/0386 mwN).

Der belangten Behörde ist aber jedenfalls vorzuwerfen, ausgehend von ihrer unrichtigen Rechtsansicht, es müsse ein durchgängiger Aufenthalt von über drei Monaten gegeben sein, um von einer Niederlassung sprechen zu können, Feststellungen über die Tätigkeit der Erstbeschwerdeführerin in Österreich unterlassen zu haben. Läge eine "tatsächliche und echte" Erwerbstätigkeit vor, wäre - neben der Verwirklichung des Tatbestandes des § 2 Abs. 2 Z 3 NAG - die Ausübung des Unionsrechts auf Freizügigkeit zu bejahen.

In diesem Fall dürfte dann auch ein abgeleitetes Niederlassungsrecht des Zweitbeschwerdeführers als Familienangehörigen der Erstbeschwerdeführerin nicht verneint werden. Die Begründung der belangten Behörde, dieser habe seine Ehefrau nicht in den Aufnahmemitgliedstaat begleitet bzw. sei ihr nicht nachgezogen, ist unionsrechtlich nicht haltbar. Dazu genügt es, auf das bereits zitierte Urteil des EuGH in der Rechtssache "Metock u.a." zu verweisen. Dass die beschwerdeführenden Parteien in Österreich kein Familienleben führen, wurde von der belangten Behörde nicht festgestellt.

Beide angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 17. April 2013

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