VwGH 2011/23/0454

VwGH2011/23/045422.11.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des E, vertreten durch Mag. Banu Kurtulan, Rechtsanwältin in 1020 Wien, Praterstraße 66/4/41, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 18. September 2009, Zl. E1/368744/2008, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots, zu Recht erkannt:

Normen

62003CJ0136 Dörr VORAB;
62003CJ0230 Sedef VORAB;
62003CJ0383 Dogan VORAB;
ARB1/80 Art14 Abs1;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6 Abs2;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
AVG §1;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
FrPolG 2005 §9 Abs1;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2012:2011230454.X00

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 57,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügt seit dem 2. September 1999 über eine Niederlassungsbewilligung "Familiengemeinschaft mit Österreicher", die ihm ab 2001 unbefristet erteilt wurde.

Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 29. November 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen der Verbrechen des (mehrfachen) schweren Raubes (teilweise als Beteiligter) nach den §§ 142 Abs. 1, 143 erster und zweiter Deliktsfall, 12 zweite und dritte Alternative StGB, und des teils vollendeten, teils versuchten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Z 1 und 130 erster Satz zweiter Deliktsfall, zweiter Satz zweiter Deliktsfall und 15 StGB sowie wegen des Vergehens der kriminellen Vereinigung nach § 278 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren rechtskräftig verurteilt. Nach dem Wahrspruch der Geschworenen war der Beschwerdeführer für schuldig befunden worden, als Mitglied einer kriminellen Vereinigung gemeinsam mit einem weiteren Mitglied und unter Verwendung einer Waffe - vor allem - Bargeld geraubt zu haben, nämlich am 23. Jänner 2004 unter Verwendung einer Gaspistole einem Opfer EUR 11.413,-- ; am 15. April 2004 einer anderen Person EUR 6.000,--, indem er mit einem Mittäter auf den Überfallenen eingeschlagen und ihm Tritte gegen das Gesicht versetzt habe, als dieser bereits am Boden gelegen sei, wodurch er u. a. einen Bruch des Gesichtsschädels und eine schwere Gehirnerschütterung erlitten habe; am 21. Februar 2004 unter Verwendung einer Gaspistole einem weiteren Opfer EUR 3.000,-- und Autobahnvignetten; am 26. April und am 30. April 2004 zwei Personen unter Verwendung der Gaspistole Bargeldbeträge von EUR 1.000,-- bzw. EUR 2.900,--; am 3. Mai 2004 einem Opfer EUR 5.155,-- sowie am 4. Juni 2004 einem weiteren Opfer EUR 2.500,-

-, wobei dies jeweils unter Verwendung einer Gaspistole erfolgt sei. Überdies habe der Beschwerdeführer in 19 Fällen Mittäter zu den Taten angestiftet und/oder dadurch zur Tatausführung beigetragen, dass er ihnen Waffen übergeben oder sie zum Tatort gebracht bzw. von diesem nach der Tatbegehung abgeholt habe. Weiters habe der Beschwerdeführer mit weiteren Mittätern von März bis Mai 2004 in Supermarkt-, Blumenmarkt- und Bäckereifilialen eingebrochen und Bargeld gestohlen, wobei es teilweise beim Versuch geblieben sei. Zudem habe sich der Beschwerdeführer von Jänner 2004 bis Juni 2004 an einer kriminellen Vereinigung - nämlich einem auf längere Zeit angelegten und auf die Ausführung von Verbrechen ausgerichteten Zusammenschluss mehrerer Personen - beteiligt.

Mit dem durch das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 27. September 2005 abgeänderten Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 11. Februar 2005 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der teils versuchten, teils vollendeten schweren Nötigung nach den §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 und 15 StGB - unter Bedachtnahme auf das zuvor angeführte Urteil - gemäß §§ 31, 40 StGB zu einer Zusatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt. Diesem Schuldspruch lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit Mittätern am 12. Februar 2004 auf einem Autobahnparkplatz eine Person dadurch zur Zahlung von EUR 4.500,-- zu nötigen versucht habe, dass dieser und ihrem Begleiter eine Waffe an den Kopf gehalten und ein Schuss neben dem Kopf abgegeben worden sei. Am 13. Februar 2004 seien diese Personen zu diesem Zweck abermals mit einer Pistole bedroht und abwechselnd in einen etwa 1 m3 großen Käfig gesperrt worden. Anschließend habe der Beschwerdeführer eines der beiden Opfer gegen seinen Willen vom 13. auf den 14. Februar 2004 in diesem Käfig im Keller eines Hauses in Wien gefangen gehalten, um dessen Begleiter den geforderten Geldbetrag abzunötigen.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 18. September 2009 erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer im Hinblick auf diese Verurteilung gemäß §§ 87, 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein unbefristetes Aufenthaltsverbot.

Begründend führte sie zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer seit Juni 1999 durchgehend im Bundesgebiet gemeldet sei. Am 25. Mai 1999 habe er eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Er wohne mit dieser und dem gemeinsamen, am 8. November 2000 geborenen Sohn, der ebenfalls österreichischer Staatsbürger sei, im Inland. Außer dem Kind befänden sich keine Blutsverwandten des Beschwerdeführers im Bundesgebiet. Sein Vater und seine Mutter lebten in der Türkei.

Der Beschwerdeführer sei nach seiner Einreise vom 22. Juni 1999 bis 30. Dezember 2000 und vom 4. April 2001 bis 23. Februar 2003, damit jeweils länger als ein Jahr, bei jeweils einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen. Danach sei er noch vom 10. Juni bis 23. August 2003 und vom 3. November 2003 bis 31. Jänner 2004 bei jeweils anderen Arbeitgebern beschäftigt gewesen. Anschließend sei er bis zu seiner Verhaftung (am 4. Juni 2004) in keinem Beschäftigungsverhältnis mehr gestanden.

Rechtlich führte die belangte Behörde zu ihrer Zuständigkeit aus, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die beschäftigungsrechtlichen Begünstigungen des Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zwangsläufig auch ein Aufenthaltsrecht im jeweiligen EU-Mitgliedstaat implizierten. Dieses bestehe grundsätzlich nur so lange, wie der türkische Arbeitnehmer im Bundesgebiet ordnungsgemäß beschäftigt sei oder dem österreichischen Arbeitsmarkt angehöre. Nur wenn der türkische Staatsangehörige bereits das Recht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 erlangt habe, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, könne ein Aufenthaltsrecht bestehen, ohne dass er beschäftigt sei.

Der Beschwerdeführer habe somit nach dem Ende der beiden, jeweils mehr als einjährigen Beschäftigungsperioden ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 genossen. Dieses habe aber - im Gegensatz zum Aufenthaltsrecht auf Grund der inländischen Aufenthaltstitel - nach Zeiten der Arbeitslosigkeit wegen der Beschäftigungsaufnahme bei einem anderen Arbeitgeber nicht nahtlos fortbestanden, sondern neu zu laufen begonnen. Zuletzt sei der Beschwerdeführer überhaupt in keinem Beschäftigungsverhältnis mehr gestanden. Da der Beschwerdeführer bei keinem Arbeitgeber mindestens drei Jahre und auch nicht insgesamt vier Jahre lang ordnungsgemäß beschäftigt gewesen sei, habe er kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erlangen können. Dies sei für die Frage der Behördenzuständigkeit iSd § 9 Abs. 1 FPG ausschlaggebend, sodass nicht der unabhängige Verwaltungssenat zuständig sei.

In der Sache selbst führte die belangte Behörde aus, dass gegen den Beschwerdeführer als Familienangehörigen iSd § 2 Abs. 4 Z 12 FPG einer nicht freizügigkeitsberechtigten österreichischen Staatsbürgerin unter den Voraussetzungen der §§ 87 und 86 Abs. 1 FPG ein Aufenthaltsverbot erlassen werden könne. Die Voraussetzungen nach der letztgenannten Bestimmung seien auf Grund der Verurteilung und des dieser zu Grunde liegenden Verhaltens des Beschwerdeführers erfüllt.

Wegen des schon über zehnjährigen inländischen Aufenthalts und seiner starken familiären Bindungen in Österreich müsse von einem bedeutenden Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers ausgegangen werden. Dessen ungeachtet sei die aufenthaltsbeendende Maßnahme im Grunde des § 66 FPG zulässig. Im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit der Raub- und Eigentumskriminalität sei nämlich die Erlassung des Aufenthaltsverbots zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele als überaus dringend geboten zu erachten. Das Fehlverhalten des Beschwerdeführers, das er wiederholt und über mehrere Monate hinweg gesetzt habe, verdeutliche augenfällig seine Gefährlichkeit für das Eigentum und die körperliche Integrität der Menschen im Bundesgebiet sowie sein Unvermögen oder seinen Unwillen, die Rechtsvorschriften des Gastlandes einzuhalten. Sein persönliches Verhalten, das sich durch wiederholten schweren Raub und durch wiederholte Einbrüche bzw. schwere Diebstähle und sonstige Straftaten manifestiert habe, stelle ohne Zweifel eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Eine positive Verhaltensprognose sei im Hinblick auf diese Straftaten und die Teilnahme an einer kriminellen Verbindung sowie dem damit verbundenen, überaus erheblichen Unrechtsgehalt unter keinen Umständen möglich. Im Übrigen sei die für jegliche Integration erforderliche soziale Komponente durch das strafbare Verhalten des Beschwerdeführers erheblich beeinträchtigt. Seine privaten Interessen hätten daher gegenüber den hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen in den Hintergrund zu treten.

Abschließend verneinte die belangte Behörde die Möglichkeit, im Rahmen des Ermessens von der Erlassung des Aufenthaltsverbots Abstand nehmen zu können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die zu diesem Zeitpunkt (September 2009) geltende Fassung.

Die Beschwerde macht zum einen die Unzuständigkeit der belangten Behörde geltend. Sie bringt dazu vor, dass die Beschäftigungszeiten des Beschwerdeführers in Österreich für die Frage der Begünstigung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 zusammenzuzählen seien. Da der Beschwerdeführer nicht länger als vier Monate arbeitslos gewesen und keinen Arbeitsplatz selbst gekündigt habe, und auch nicht entlassen worden sei, würden die erworbenen Zeiten nach der Arbeitslosigkeit nicht neu zu laufen beginnen. Der Beschwerdeführer gehöre deshalb zu den Begünstigten nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, weshalb nicht die belangte Behörde, sondern der unabhängige Verwaltungssenat zuständig gewesen wäre.

Gemäß § 9 Abs. 1 FPG entscheiden - als im Verfassungsrang normierte Ausnahme zur grundsätzlichen Zuständigkeit der Sicherheitsdirektionen - über Berufungen gegen nach dem FPG ergangene Bescheide im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die unabhängigen Verwaltungssenate - vor dem Hintergrund des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 2. Juni 2005, Rs C-136/03 (Dörr/Ünal) - aber auch in Berufungssachen nach dem FPG im Fall von türkischen Staatsangehörigen zuständig, sofern diese die Voraussetzungen nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 erfüllen (vgl. hiezu das Erkenntnis vom 5. Juli 2011, Zl. 2008/21/0131, mwN).

Das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 7 ARB 1/80 brachte weder der Beschwerdeführer vor, noch gibt es hiefür Anhaltspunkte im Verwaltungsverfahren.

Art. 6 ARB 1/80 hat folgenden Wortlaut:

"Artikel 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen im Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt.

Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeiten erworbenen Ansprüche.

(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."

Mit Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wurde ein System der abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats geschaffen. Aus der Systematik und der praktischen Wirksamkeit dieses Systems folgt, dass die in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung jeweils aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssen (vgl. das Urteil des EuGH vom 10. Jänner 2006, C - 230/03 , Sedef, Rz. 37).

Aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ergibt sich, dass der erste und der zweite Gedankenstrich dieser Bestimmung lediglich die Voraussetzungen regeln, unter denen ein türkischer Arbeitnehmer, der rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und dort die Erlaubnis erhalten hat, eine Beschäftigung auszuüben, seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausüben kann: Nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung darf er weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten (erster Gedankenstrich) und nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung kann er sich - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs - für den gleichen Beruf auf ein Stellenangebot eines anderen Arbeitgebers bewerben (zweiter Gedankenstrich). Im Gegensatz dazu verleiht Abs. 1 dritter Gedankenstrich (nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung) dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur das Recht, sich auf ein vorliegendes Stellenangebot zu bewerben, sondern auch uneingeschränkten Zugang zu jeder von ihm frei gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (vgl. das Urteil des EuGH vom 7. Juli 2005. C - 383/03 , Dogan, Rz. 13; idS auch Urteil Sedef, Rz. 36, je mwN). Somit kann ein türkischer Wanderarbeitnehmer - wie dem in diese Richtung gehenden Beschwerdevorbringen schon an dieser Stelle zu entgegnen ist - generell ein Recht nach Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nicht allein aufgrund der Tatsache geltend machen, dass er im Aufnahmemitgliedstaat mehr als vier Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er nicht, erstens, mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und, zweitens, zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet hat (Urteil Sedef, Rz. 44).

Nur für die Phase der Entstehung der nach Maßgabe der Dauer der Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis schrittweise erweiterten Rechte, die unter den drei Gedankenstrichen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 festgelegt sind, und damit nur für die Zwecke der Berechnung der insoweit erforderlichen Beschäftigungszeiten sieht Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 vor, dass sich verschiedene Fälle der Unterbrechung der Arbeit auf diese Zeiten auswirken. Dagegen ist von dem Zeitpunkt an, zu dem der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 erfüllt und daher das in dieser Bestimmung vorgesehene uneingeschränkte Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie das diesem entsprechende Aufenthaltsrecht bereits erworben hat, Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 nicht mehr anwendbar (Urteil Dogan, Rz. 15f).

Daher hängt die Rechtsstellung eines türkischen Arbeitnehmers, der in der Vergangenheit den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 erfüllt hat, nicht mehr davon ab, dass die Voraussetzungen der in den drei Gedankenstrichen dieses Absatzes genannten Rechte weiterhin erfüllt sind. Vielmehr ist ein solcher Arbeitnehmer als hinreichend in den Aufnahmemitgliedstaat integriert anzusehen, so dass er sein Arbeitsverhältnis vorübergehend unterbrechen kann (Urteil Sedef, Rz. 46). Dieser Status verleiht dem Betroffenen, der bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert ist, ein uneingeschränktes Recht auf Beschäftigung, das zwangsläufig auch das Recht umfasst, eine Erwerbstätigkeit aufzugeben, um eine andere zu suchen, die er frei wählen kann (Urteil Dogan, Rz. 18). Es kommt in diesem Fall nicht darauf an, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist. Resultiert die fehlende Ausübung einer Beschäftigung aus einer Inhaftierung des Arbeitnehmers, so sind deren Modalitäten grundsätzlich unbeachtlich, wenn die Abwesenheit des betreffenden türkischen Staatsangehörigen vom Arbeitsmarkt zeitlich begrenzt ist (aaO. Rz. 20f). Demzufolge ist der Umstand unbeachtlich, dass die Inhaftierung den Betroffenen - auch langfristig - an der Ausübung einer Beschäftigung hindert, wenn sie nicht seine weitere Teilnahme am Erwerbsleben ausschließt. Die nationalen Behörden können daher außer in den Fällen, in denen der Betroffene dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats endgültig nicht mehr angehört, weil er objektiv keine Möglichkeit mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern, oder in denen er den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach dem Ende seiner Inhaftierung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu linden, die Rechte, die er aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 im Bereich der Beschäftigung und des Aufenthalts herleiten kann, nur auf Grund des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einschränken (aa0., Rz. 22). Zusammenfassend kam der EuGH daher in diesem Urteil Dogan, in der Rz. 25 zu dem Ergebnis, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht nicht deswegen verliert, weil er während seiner - auch mehrjährigen - Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nur vorübergehend ist und er den Zeitraum nicht überschritten hat, der angemessen ist, um nach seiner Freilassung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.

Dagegen muss ein türkischer Arbeitnehmer, der das im dritten Gedankenstrich vorgesehene Recht noch nicht erworben hat, grundsätzlich ohne Unterbrechung eine ordnungsgemäße Beschäftigung von ein, drei und vier Jahren ausüben. Um die Härte dieser letztgenannten Regel abzumildern, führt Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 für die Zwecke der Berechnung der unterschiedlichen Zeiten einer ordnungsgemäßen Beschäftigung, die Voraussetzung für die Entstehung der abgestuft erweiterten Rechte nach Art. 6 Abs. 1 erster bis dritter Gedankenstrich ARB 1/80 sind, bestimmte legitime Gründe für die Unterbrechung der unselbständigen Erwerbstätigkeit an (Urteil Sedef, Rz. 47f). Die Verbüßung einer Strafhaft wird von dieser Bestimmung nicht erfasst (vgl. Urteil Dogan, Rz. 17).

Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer nur die Voraussetzungen nach dem ersten Gedankenstrich des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 erfüllt, zumal eine Beschäftigung in der Dauer von drei Jahren bei demselben Arbeitgeber unstrittig nicht vorlag. Dieses Recht hat der Beschwerdeführer aber nach dem Gesagten jedenfalls im Hinblick auf die Unterbrechung seiner Beschäftigung durch die Verbüßung der Strafhaft - bis zum Bescheiderlassungszeitpunkt in der Dauer von mehr als fünf Jahren -

verloren. Entgegen der Meinung in der Beschwerde war daher nicht der unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung gegen das über den Beschwerdeführer verhängte Aufenthaltsverbot zuständig.

Gegen den Beschwerdeführer als Familienangehörigen (§ 2 Abs. 4 Z 12 FPG) einer Österreicherin ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 86 Abs. 1 FPG (iVm § 87 FPG) nur zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

Entgegen der in der Beschwerde in diesem Zusammenhang vertretenen Ansicht, hat die belangte Behörde bei ihrer - völlig zu Recht vorgenommenen - Gefährdungsprognose iSd § 86 Abs. 1 FPG nicht bloß auf den Umstand der Verurteilung abgestellt, sondern das zu Grunde liegende strafbare Verhalten des Beschwerdeführers dargestellt und bei ihrer Beurteilung ausreichend berücksichtigt. Die Beschwerde führt zwar zu Recht ins Treffen, dass die beiden Strafurteile zueinander in einem solchen Verhältnis stehen, dass sie als Einheit zu werten und nur als eine rechtskräftige Verurteilung anzusehen sind (vgl. das Erkenntnis vom 29. März 2012, Zl. 2011/23/0282, mwN). Davon ging jedoch erkennbar auch die belangte Behörde aus, sprach sie im Rahmen ihrer Gefährdungsprognose doch ebenfalls nur von einer Verurteilung des Beschwerdeführers. Die Beschwerde zeigt aber auch nicht auf, welche weiteren Feststellungen betreffend die der Verurteilung zu Grunde liegenden Tathandlungen zu einem für den Beschwerdeführer positiveren Ergebnis hätten führen können.

Im Übrigen wendet sich die Beschwerde gegen die gemäß § 66 FPG vorgenommene Interessenabwägung. Sie bringt dazu vor, dass die belangte Behörde auf die Intensität der familiären Bindungen nicht eingegangen sei. Der Beschwerdeführer sei seit mehr als zehn Jahren in Österreich niedergelassen und mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet. Auch sein Sohn sei österreichischer Staatsbürger. Die belangte Behörde gehe offenbar davon aus, dass bei derartigen Verurteilungen immer mit einem Aufenthaltsverbot vorzugehen sei, sodass eine Interessenabwägung gar nicht vorgenommen worden sei.

Diesem Beschwerdevorbringen ist zunächst entgegenzuhalten, dass die belangte Behörde ausgehend von der von ihr festgestellten Ehe des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin und seinem Familienleben mit dem gemeinsamen, minderjährigen - ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden - Sohn, wegen der starken familiären Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich und seinem inländischen Aufenthalt einen "bedeutenden" Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers angenommen hat. Weitere Umstände, welche die belangte Behörde in diesem Zusammenhang nicht schon ausreichend berücksichtigt hätte, zeigt die Beschwerde nicht auf.

Diesen gewichtigen persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet setzte die belangte Behörde jedoch zu Recht die massive Gefährdung öffentlicher Interessen gegenüber, die vom Beschwerdeführer ausgeht. So verübte er in äußerst aggressiver Weise mehrere bewaffnete Raubüberfälle im Rahmen einer kriminellen Vereinigung. In einem Fall verletzte er durch den rücksichtslosen Einsatz körperlicher Gewalt überdies sein Opfer schwer. Im Hinblick auf das große öffentliche Interesse an der Verhinderung derartiger Straftaten, die das Strafgericht zur Verlängerung einer besonders hohen Freiheitsstrafe von insgesamt 14 Jahren veranlasste, erweist sich die Ansicht der belangten Behörde, dass das gegen den Beschwerdeführer verhängte Aufenthaltsverbot zur Erreichung im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannter Ziele dringend geboten sei und die persönlichen Interessen die gegenläufigen öffentlichen Interessen nicht überwiegen würden, sodass die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 66 FPG zulässig sei, nicht als rechtswidrig.

Der Beschwerde kann schließlich auch nicht darin beigetreten werden, dass die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots in einem Missverhältnis zu den begangenen Straftaten stehen würde. Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, aus welchem Grund ein Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung bereits konkret absehbar gewesen wäre. Im Übrigen besteht für den Beschwerdeführer, wenn - wie die Beschwerde argumentiert - von ihm "im hohen Alter keine Gefahr mehr" ausgehen sollte, die Möglichkeit, die Aufhebung des Aufenthaltsverbots zu beantragen, sofern die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind. Die in diesem Zusammenhang von der Beschwerde angesprochene Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie ist im öffentlichen Interesse hinzunehmen.

Schließlich zeigt der Beschwerdeführer auch keine Umstände auf, wonach die belangte Behörde im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens von der Erlassung des Aufenthaltsverbots hätte Abstand nehmen müssen.

Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 22. November 2012

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