VwGH 2010/21/0434

VwGH2010/21/043428.8.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des M in G, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom 2. September 2010, Zl. UVS 30.12-32/2010-8, betreffend Bestrafung wegen einer Übertretung des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

B-VG Art140 Abs1;
B-VG Art140 Abs7;
FrÄG 2009;
FrG 1997 §107 Abs1 Z4;
FrG 1997 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §120 Abs1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §120 Abs1 Z2 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §120 Abs4 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §31 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs4;
NAG 2005 §44 Abs5 idF 2009/I/122;
NAG 2005 §44 Abs5 Z1 idF 2009/I/122;
NAG 2005 §44 Abs5 Z2 idF 2009/I/122;
VStG §44a Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
B-VG Art140 Abs1;
B-VG Art140 Abs7;
FrÄG 2009;
FrG 1997 §107 Abs1 Z4;
FrG 1997 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §120 Abs1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §120 Abs1 Z2 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §120 Abs4 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §31 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs4;
NAG 2005 §44 Abs5 idF 2009/I/122;
NAG 2005 §44 Abs5 Z1 idF 2009/I/122;
NAG 2005 §44 Abs5 Z2 idF 2009/I/122;
VStG §44a Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 27. November 2003 nach Österreich ein und stellte hier einen Asylantrag. Dieser wurde letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10. März 2009 rechtskräftig abgewiesen, außerdem wurde der Beschwerdeführer in die Türkei ausgewiesen.

Am 12. Mai 2009 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 4 NAG. Jedenfalls bis zur Erlassung des hier gegenständlichen Bescheides erging hierüber keine Entscheidung.

Am 7. April 2010 wurde der Beschwerdeführer bei einer fremdenrechtlichen Kontrolle in seiner Wohnung angetroffen. In der Folge verhängte die Bundespolizeidirektion Graz gegen ihn, weil er sich am 7. April 2010 "trotz in II. Instanz rechtskräftige(r) Ausweisung und ohne die für den rechtmäßigen Aufenthalt maßgeblichen Dokumente im Bundesgebiet aufgehalten" habe, "gemäß § 120 FPG" eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 1.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe acht Tage); als verletzte Rechtsvorschrift gab die Bundespolizeidirektion Graz "§ 120 FPG" an.

Der gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Berufung gab der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark (die belangte Behörde) mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 2. September 2010 mit der Maßgabe keine Folge, dass die Ersatzfreiheitsstrafe auf fünf Tage herabgesetzt werde. Außerdem nahm die belangte Behörde eine Neuformulierung des Spruches vor, erklärte als verletzte Rechtsvorschrift § 31 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009 und sprach aus, dass die Verhängung der Geld- und Ersatzfreiheitsstrafe auf § 120 Abs. 1 Z 2 FPG beruhe.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. § 120 Abs. 1 FPG lautete in der hier maßgeblichen, am 1. Jänner 2010 in Kraft getretenen Fassung des FrÄG 2009 (BGBl. I Nr. 122) unter der Überschrift "Rechtswidrige Einreise und rechtswidriger Aufenthalt" auszugsweise wie folgt:

"§ 120. (1) Wer als Fremder

  1. 1. nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet einreist oder
  2. 2. sich nicht recht(s)mäßig im Bundesgebiet aufhält,

    begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von 1.000 Euro bis zu 5.000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu drei Wochen, zu bestrafen. …"

    2. Der Beschwerdeführer wurde im Hinblick auf die zitierte Bestimmung wegen seines unrechtmäßigen Aufenthalts in Österreich am 7. April 2010 bestraft.

2.1. Er hält dem primär entgegen, dass ihm angesichts des noch offenen Verfahrens nach § 44 Abs. 4 NAG faktischer Abschiebeschutz zukomme, was der erfolgten Bestrafung entgegen stehe.

Dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden. Zu Anträgen auf Erteilung einer quotenfreien "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 4 NAG normiert § 44 Abs. 5 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung nach dem FrÄG 2009) nämlich Folgendes:

"(5) Anträge gemäß Abs. 4 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach diesem Bundesgesetz. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Behörde über einen solchen Antrag hat die zuständige Fremdenpolizeibehörde jedoch mit der Durchführung der eine Ausweisung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn

1. ein Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung erst nach einer Antragstellung gemäß Abs. 4 eingeleitet wurde und

2. die Erteilung einer 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' gemäß Abs. 4 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des Abs. 4 Z 1 und 2 jedenfalls vorzuliegen haben.

Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Z 2 hat die zuständige Fremdenpolizeibehörde vor Durchführung der Abschiebung eine begründete Stellungnahme der Behörde einzuholen. Verfahren gemäß Abs. 4 gelten als eingestellt, wenn der Fremde das Bundesgebiet verlassen hat."

Im Ausschussbericht (387 BlgNR 24. GP 8) war diese Regelung wie folgt begründet worden:

"Im neuen § 44 Abs. 5 NAG wird, wie auch in der bisherigen Rechtslage gemäß § 44b Abs. 3 NAG, explizit normiert, dass eine Antragstellung gemäß § 44 Abs. 4 NAG kein Aufenthalts- oder Bleiberecht begründet. Auf Grund der spezifischen Sonderstellung des § 44 Abs. 4 NAG ist in diesen Fällen allerdings in Abweichung des in §§ 21 Abs. 6, 44b Abs. 3 und 69a NAG normierten Grundsatzes, dass die Durchführung fremdenpolizeilicher Maßnahmen durch eine Antragstellung nach dem NAG nicht hintangehalten werden kann, mit der auf Grund einer Ausweisung durchzuführenden Abschiebung unter bestimmten Voraussetzungen zuzuwarten. Mit dieser Regelung wird daher weder die Einleitung eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung (Ausweisung oder Aufenthaltsverbot), noch die Erlassung der diesbezüglichen Entscheidung verhindert, sondern ist lediglich die Vollstreckung dieser Entscheidung gegebenenfalls aufzuschieben. Von dieser Ausnahme umfasst sind Fremde, gegen die zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung gemäß § 44 Abs. 4 NAG weder eine Ausweisung vorliegt, noch ein Ausweisungsverfahren bereits eingeleitet war.

...

Weiters hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 44 Abs. 4 NAG wahrscheinlich zu sein. Dies ist jedenfalls nur dann der Fall, wenn die in § 44 Abs. 4 Z 1 und 2 normierten Voraussetzungen vorliegen."

(Auch) die zitierten Gesetzesmaterialien lassen keinen Zweifel daran, dass ein Antrag nach § 44 Abs. 4 NAG der Erlassung und - grundsätzlich - ebenso der Durchführung fremdenpolizeilicher Maßnahmen nicht entgegensteht und daher in fremdenpolizeilichen Verfahren keine aufschiebende Wirkung entfalten kann. Davon macht § 44 Abs. 5 NAG nur unter den dort genannten Bedingungen eine Ausnahme. Es kommt einem Fremden während eines Verfahrens über den von ihm gestellten Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 4 NAG demzufolge nur (mehr) dann ein Abschiebeschutz bis zur rechtskräftigen Antragserledigung zu, wenn die im zweiten Satz des § 44 Abs. 5 NAG in der Z 1 und 2 (kumulativ) angeführten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. so schon den hg. Beschluss vom 1. März 2010, Zl. AW 2010/21/0032).

Aus den Überlegungen des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtslage vor dem FrÄG 2009 (vgl. diesbezüglich grundlegend das hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293, Punkt 4.3.4. der Entscheidungsgründe) lässt sich, entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers, nichts Anderes ableiten. Soweit er aber unter Bezugnahme auf den letzten Satz des § 44 Abs. 5 NAG verfassungsrechtliche Bedenken äußert, die dahingehend zusammenzufassen sind, dass die Zulässigkeit einer Außerlandesschaffung während eines anhängigen Verfahrens nach § 44 Abs. 4 NAG mit der Wirkung, dass dieses Verfahren sodann als eingestellt gilt, dem Gebot praktisch effizienten Rechtsschutzes nicht gerecht werde, ist ihm zu entgegnen, dass diesen Bedenken mittlerweile Rechnung getragen wurde. Mit Erkenntnis vom 28. Februar 2011, G 201/10, VfSlg. 19.324, hat der Verfassungsgerichtshof nämlich § 44 Abs. 5 letzter Satz NAG als verfassungswidrig aufgehoben. Die Zulässigkeit der Abschiebung eines Fremden, der einen - noch nicht entschiedenen - Antrag nach § 44 Abs. 4 NAG gestellt hat, der jedoch die Voraussetzungen des § 44 Abs. 5 zweiter Satz Z 1 und 2 NAG nicht erfüllt, hat der Verfassungsgerichtshof dabei aber, wenngleich ausdrücklich auf eine solche Abschiebung bezugnehmend (vgl. Punkt III. 2.2. der Entscheidungsgründe), nicht in Zweifel gezogen.

Dass im Fall des Beschwerdeführers jedenfalls - wie schon im bekämpften Bescheid ausgeführt - § 44 Abs. 5 zweiter Satz Z 1 NAG nicht erfüllt ist, stellt dieser gar nicht in Abrede. Abschiebeschutz kam ihm daher nach dem Gesagten nicht zu.

2.2. Dem Beschwerdeführer ist einzuräumen, dass zum ihm zur Last gelegten Tatzeitpunkt der - dann vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene - letzte Satz des § 44 Abs. 5 NAG noch geltendes Recht war. Er war daher vor die Alternative gestellt, entweder eine Bestrafung wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes (und allenfalls im Hinblick auf das Vorgesagte auch seine Abschiebung) in Kauf zu nehmen, um - käme es nicht zur Abschiebung - der Möglichkeit eines Abspruches über seinen Antrag nach § 44 Abs. 4 NAG nicht verlustig zu gehen, oder aber zwecks Vermeidung einer Bestrafung Österreich zu verlassen und damit den Anspruch auf eine Entscheidung nach § 44 Abs. 4 NAG de facto aufzugeben. Diese Konfliktsituation ergibt aber auch unter Außerachtlassung des Umstandes, dass der Beschwerdeführer bei Verlassen Österreichs letztlich auf die im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. Februar 2011 ersichtliche Weise selbst die Aufhebung des § 44 Abs. 5 letzter Satz NAG durch den Verfassungsgerichtshof hätte erwirken können, noch keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund. Insbesondere ist nicht zu sehen, dass von einer Notstandssituation im Sinn der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. dazu die Nachweise bei W. Wessely in N. Raschauer und W. Wessely, VStG (2010), unter Rz 8 zu § 6 VStG) auszugehen wäre. Es liegen aber auch nicht gegenläufige gesetzliche Anordnungen vor. Dem Beschwerdeführer wurde im Ergebnis nämlich lediglich zugemutet, von der Verfolgung einer - letztlich eben nur mit Vorbehalt - eingeräumten gesetzlichen Berechtigung abzusehen. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass § 44 Abs. 4 NAG nicht der Umsetzung grundrechtlicher Positionen dient, sondern in sogenannten "Altfällen" die Erteilung eines Aufenthaltstitels auch dann ermöglicht, wenn dies nach Art. 8 EMRK nicht geboten wäre (vgl. dazu Punkt 4.3.3. der Entscheidungsgründe des schon erwähnten hg. Erkenntnisses vom 22. Oktober 2009). Von daher ist die gegenständliche Konstellation aber - anders als im Fall des hg. Erkenntnisses vom 29. Februar 2012, Zlen. 2010/21/0049 und 2010/21/0050 - auch nicht mit jener zu vergleichen, die dem vom Beschwerdeführer ergänzend ins Treffen geführten hg. Erkenntnis vom 6. November 1998, Zlen. 97/21/0085 und 98/21/0065, VwSlg. 15.002 A/1998, zugrunde lag.

Zusammenfassend ergibt sich damit, dass die zuvor angesprochene Konfliktsituation, wenn sie nicht zu einem - hier allerdings nicht geltend gemachten - strafausschließenden Irrtum geführt hat, nur im Wege eines Milderungsgrundes Berücksichtigung finden kann.

3. Dennoch ist die Beschwerde im Ergebnis berechtigt. Diesbezüglich kann zunächst, was den Ausspruch über die verhängte Strafe anlangt, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Begründung des hg. Erkenntnisses vom 30. August 2011, Zl. 2011/21/0056, verwiesen werden. Anders als im Fall des zuletzt genannten Erkenntnisses ist gegenständlich aber auch der Schuldspruch mit Rechtswidrigkeit belastet. Die belangte Behörde führte im Spruch ihres Bescheides - in ausdrücklicher Abänderung des erstinstanzlichen Bescheidspruches - nämlich nur § 31 Abs. 1 FPG als verletzte Verwaltungsvorschrift im Sinn des § 44a Z 2 VStG an. Das begründete sie mit dem Verweis auf das noch zum Fremdengesetz 1997 - FrG ergangene hg. Erkenntnis vom 24. Oktober 2007, Zl. 2007/21/0303, dessen Aussage auch auf eine Bestrafung nach § 120 Abs. 1 Z 2 FPG übertragen werden könne.

Letzterem ist nicht entgegenzutreten. Die belangte Behörde hat allerdings übersehen, dass im genannten Erkenntnis vom 24. Oktober 2007 nicht nur ausgesprochen wurde, dass als übertretene Norm "allein § 31 Abs. 1 FrG insgesamt" (und nicht bloß einzelne Ziffern dieser Bestimmung) anzuführen ist (sind). Vielmehr wurde zum Ausdruck gebracht, dass es daneben auch der Angabe des § 107 Abs. 1 Z 4 FrG bedürfe, an dessen Stelle - bezogen auf den Tatzeitpunkt - jetzt (insofern) § 120 Abs. 1 Z 2 FPG (in der wiedergegebenen Fassung) getreten ist. Die belangte Behörde hätte daher als verletzte Verwaltungsvorschrift im Sinn des § 44a Z 2 VStG (auch) § 120 Abs. 1 Z 2 FPG zu nennen gehabt. Da sie das unterlassen hat, war der angefochtene Bescheid letztlich insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 28. August 2012

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