VwGH 2010/21/0410

VwGH2010/21/041020.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 20. August 2010, Zl. VwSen-401083/4/Gf/Mu, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: F, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH, 8010 Graz, Friedrichgasse 31; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §77 Abs3;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
StPO 1975 §173a idF 2010/I/064;
StVG §156b idF 2010/I/064;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §77 Abs3;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
StPO 1975 §173a idF 2010/I/064;
StVG §156b idF 2010/I/064;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der verschiedene Alias-Identitäten verwendende Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste am 21. Juni 2009 illegal nach Österreich ein und beantragte die Gewährung von internationalem Schutz. Nachdem bekannt geworden war, dass er davor bereits in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte, wurde dieser Antrag vom 21. Juni 2009 mit (unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Bescheid des Bundesasylamtes vom 15. Juli 2009 gemäß § 5 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen. Der Mitbeteiligte wurde aus dem Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen. Nach Verhängung der Schubhaft wurde der Mitbeteiligte am 6. August 2009 nach Ungarn abgeschoben. Mit Bescheid vom 9. September 2009 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck über ihn gemäß § 60 Abs. 1 Z. 1 und Abs. 2 Z. 7 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG ein auf drei Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.

Am 29. Juli 2010 reiste der Mitbeteiligte wiederum von Ungarn kommend nach Österreich ein und beantragte am selben Tag neuerlich - unter Erstattung inhaltsgleichen Vorbringens wie bei der ersten Antragstellung - die Gewährung von internationalem Schutz. Dabei führte er aus, er habe eine Schwester in Österreich, kenne jedoch weder ihren Familiennamen noch ihre Wohnanschrift. Im weiteren Verfahren kam hervor, dass der Mitbeteiligte auch in Ungarn am 10. August 2009 unter Verwendung einer Alias-Identität einen Folgeantrag auf Gewährung von internationalem Schutz gestellt hatte. Am 4. August 2010 wurde ihm mitgeteilt, es wäre beabsichtigt, seinen in Österreich gestellten Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz zurückzuweisen, seit 2. August 2010 würden Dublin-Konsultationen mit Ungarn geführt.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 4. August 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck über ihn gemäß § 76 Abs. 2 Z. 2 FPG iVm § 57 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005. Begründend führte sie aus, der genannte, in Ungarn gestellte Asylfolgeantrag sei "negativ entschieden" worden, die ungarischen Behörden hätten den Mitbeteiligten nach Afghanistan abschieben wollen. Um dieser fremdenpolizeibehördlichen Maßnahme zu entgehen, sei er in Ungarn in die Anonymität abgetaucht, habe unrechtmäßig die Grenze nach Österreich überschritten und auch hier einen Asylfolgeantrag gestellt. Der Mitbeteiligte sei "als ungebundener Erwachsener Ortswechsel betreffend besonders flexibel". Er habe die Kontaktadresse seiner (in Linz lebenden) Schwester verschwiegen, ausdrücklich erklärt, nicht nach Ungarn zurückkehren zu wollen, habe sich mehrfach fremdenpolizeilichen Verfahren ungarischer Behörden entzogen und sei trotz aufrechten Aufenthaltsverbotes wieder nach Österreich eingereist. Es bestehe daher akute Fluchtgefahr, der durch eine bloße Anwendung gelinderer Mittel nicht ausreichend begegnet werden könne.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20. August 2010 stellte die belangte Behörde über Beschwerde des Mitbeteiligten vom 18. August 2010 gemäß § 83 FPG fest, dass dessen Anhaltung in Schubhaft seit dem 4. August 2010 rechtswidrig gewesen sei; die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen lägen nicht vor.

Begründend bejahte sie - nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens und der Rechtslage - die Sicherungsnotwendigkeit, vertrat jedoch die Ansicht, dass dieser bereits durch Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs. 1 FPG begegnet werden könne. Gemäß § 77 Abs. 3 FPG komme als gelinderes Mittel auch die Anordnung, in von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen oder sich in periodischen Abständen bei einem Polizeikommando zu melden, in Betracht. Diese Bestimmung nenne lediglich demonstrativ Beispiele zur effektiven Zielerreichung geeigneter Maßnahmen. Durch die Novelle BGBl. I Nr. 64/2010 sei in den §§ 156b ff StVG die Möglichkeit eines "Strafvollzuges durch elektronisch überwachten Hausarrest" eingeführt worden. Im Wege einer "elektronischen Fußfessel" könne der Aufenthaltsort des Trägers bzw. der Umstand, dass dieser den ihm zugewiesenen Bereich verlasse, ohne Schwierigkeiten festgestellt werden. Eine Kombination der im § 77 Abs. 3 FPG vorgesehenen Anordnung zum Aufenthalt in von der Behörde bestimmten Räumen mit der Verpflichtung zum Tragen einer derartigen Fußfessel wäre zur Abdeckung der Schubhaftzwecke geeignet und bedeutete für den Fremden offensichtlich einen weniger gravierenden Eingriff in seine Persönlichkeitssphäre als die Inschubhaftnahme. Das Fehlen einer den §§ 156b ff StVG vergleichbaren Regelung im FPG sowie des Existierens der entsprechenden technischen Voraussetzungen bei der Fremdenpolizeibehörde sei demgegenüber ohne Bedeutung, weil § 77 Abs. 3 FPG "hinsichtlich der Wahl der Möglichkeiten von vornherein offen" sei. Die Fremdenpolizeibehörde sei daher nicht nur nicht gehindert, sondern vielmehr ermächtigt, nicht explizit angesprochene Möglichkeiten zum Einsatz zu bringen, wenn sie zur Vermeidung der Haft geeignet erschienen. Die dennoch angeordnete Schubhaft erweise sich daher als unverhältnismäßig. Die Unterlassung der Schaffung entsprechender Vorkehrungen (durch den Gesetzgeber oder die Behörde) könne einem Fremden allgemein und somit dem Mitbeteiligten im Besonderen nicht zum Nachteil gereichen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften durch die belangte Behörde und den Mitbeteiligten erwogen hat:

Zunächst ist festzuhalten, dass der unabhängige Verwaltungssenat - nach der (hier zu Recht erfolgten) Bejahung eines Sicherungsbedarfs - bei seiner Entscheidung die Möglichkeit der Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 77 FPG (in der hier noch maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011) an Stelle der Schubhaft im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen hat. Er ist allerdings nicht zur Entscheidung darüber zuständig, welches der im § 77 Abs. 3 FPG demonstrativ aufgezählten gelinderen Mittel anzuwenden wäre. Deren Auswahl bleibt vielmehr der Fremdenpolizeibehörde vorbehalten (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2008, Zl. 2007/21/0246, mwN).

Die Einbeziehung des Strafvollzuges durch elektronisch überwachten Hausarrest gemäß § 156b StVG idF BGBl. I Nr. 64/2010 in die zur genannten Ermessensübung angestellten Erwägungen der belangten Behörde erweist sich aus mehreren Gründen als verfehlt:

Zunächst sind die durch Art. 1 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 64/2010 unter der Überschrift "Strafvollzug durch elektronisch überwachten Hausarrest" eingefügten §§ 156b bis 156 d StVG gemäß § 181 Abs. 20 StVG erst mit 1. September 2010 in Kraft getreten. Dasselbe gilt (gemäß ihrem § 7) für die auf Grund der Ermächtigung des § 156b Abs. 2 StVG erlassene "Hausarrestverordnung" der Bundesministern für Justiz vom 31. August 2010, BGBl. II Nr. 279. Der Vollzug der hier verfahrensgegenständlichen Schubhaft sowie die hierüber ergangene Entscheidung der belangten Behörde vom 20. August 2010 liegen daher außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereiches der eben genannten Bestimmungen.

Dazu kommt, dass § 156b StVG und der mit Art. 2 Z. 4 derselben Novelle eingeführte Hausarrest nach § 173a StPO nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers eine besondere Form des Vollzuges der Straf- bzw. Untersuchungshaft darstellen (vgl. die ErläutRV 772 BlgNR 24. GP, insbesondere 1, 3 und 5). Die Bewilligung der elektronischen Überwachung kann daher nicht - vergleichbar mit einer Anordnung gelinderer Mittel (etwa durch die Weisung, an einem bestimmten Ort zu wohnen) - als Alternative zur Haft gewertet werden (vgl. in diesem Sinne die Entscheidung des OGH vom 23. Dezember 2010, 15 Os 165/10v = JBl 2011, 472). Einer solchen Maßnahme fehlt daher auch die Eignung dafür, als weiteres, in der demonstrativen Aufzählung des § 77 Abs. 3 FPG nicht explizit genanntes gelinderes Mittel zur Anwendung zu kommen.

Schließlich ist es unbestritten geblieben, dass im August 2010 sowohl die technisch erforderlichen Voraussetzungen für eine elektronische Überwachung bei der Vollzugsbehörde als auch die notwendigen Gegebenheiten beim Mitbeteiligten (die nunmehr in Kraft stehenden §§ 156b und 156c Abs. 1 StVG führen dazu etwa eine eigene Unterkunft und Erwerbstätigkeit bzw. eine dieser gleichzuhaltende nicht entlohnte Beschäftigung, § 156b Abs. 3 StVG weiters regelmäßig eine Abdeckung der aus dem Vollzug entstehenden Kosten durch den Betroffenen an) gefehlt haben. Eine auf § 77 Abs. 3 FPG gestützte Anordnung, in von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen, wurde von der belangten Behörde zur Abdeckung der von ihr festgestellten "Sicherungsnotwendigkeit" nicht als ausreichend eingestuft, sodass auch die Verfügbarkeit entsprechender Räume letztlich ungeprüft geblieben ist.

Die Berücksichtigung der - weder gesetzlich begründeten noch faktisch existierenden - Möglichkeit zur (zusätzlichen) elektronischen Überwachung eines Fremden als gelinderes Mittel nach § 77 Abs. 3 FPG durch die belangte Behörde erweist sich nach dem Gesagten insgesamt als verfehlt, sodass der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Wien, am 20. Oktober 2011

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