VwGH 2010/11/0058

VwGH2010/11/005820.4.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl, Mag. Samm und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der N L in A, vertreten durch Dr. Lucas Lorenz und Mag. Sebastian Strobl, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Adamgasse 9A, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 10. Dezember 2009, Zl. 41.550/894-9/09, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz, zu Recht erkannt:

Normen

VOG 1972 §1 Abs1 Z2;
VOG 1972 §1;
VwRallg;
VOG 1972 §1 Abs1 Z2;
VOG 1972 §1;
VwRallg;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung von Hilfeleistung gemäß § 1 Verbrechensopfergesetz (VOG) abgewiesen. In der Begründung stellte die belangte Behörde fest, dass der ehemalige Lebensgefährte der Beschwerdeführerin, der auch der Vater der gemeinsamen Tochter D. sei, gestanden habe, im Februar 2008 pornographische Fotos der damals neun Monate alten Tochter angefertigt und auf den PC übertragen zu haben. Diese Fotos, auf denen sein Geschlechtsteil sowie der unbekleidete Unterleib des Babys zu sehen seien, habe man der Beschwerdeführerin im Zuge der Zeugenvernehmung am 19. Februar 2009 vorgelegt. Die Beschwerdeführerin habe bei dieser Vernehmung angegeben, dass sie niemals Verletzungen, Blutungen oder Veränderungen im Genitalbereich ihrer Tochter festgestellt habe. Aus dem Strafakt seien keine Hinweise auf schwerste Verletzungen zu entnehmen. Diese Konfrontation mit dem Ausmaß des Vertrauensbruches durch den Kindesvater sowie den Missbrauchshandlungen am gemeinsamen Kind habe bei der Beschwerdeführerin nach ihren Angaben eine Traumatisierung ausgelöst. Sie habe daher einen Antrag auf Hilfeleistung nach dem VOG gestellt, der von der Behörde erster Instanz mit der Begründung abgewiesen worden sei, dass die Nachricht von der Straftat kein nach dem VOG ersatzfähiger Schockschaden sei.

In der Berufung gegen den Erstbescheid habe die Beschwerdeführerin eingewendet, dass sich der Personenkreis gemäß § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG auch auf Unbeteiligte erstrecke, und die Auffassung vertreten, dass entgegen der Rechtsansicht der Erstbehörde der Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem VOG nicht durch die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (OGH) zu Schockschäden eingeschränkt werden könne. Sie habe daher in der Berufung u.a. beantragt, ein nervenfachärztliches Sachverständigengutachten zur Frage der Gesundheitsschädigung der Beschwerdeführerin einzuholen.

Ausgehend davon vertrat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid die Rechtsansicht, dass das Vorliegen einer psychischen Gesundheitsschädigung bei der Beschwerdeführerin schon deshalb nicht zu prüfen sei, weil ihre Zugehörigkeit zum Kreis der nach dem VOG anspruchsberechtigten Personen zu verneinen sei. Sie verwies dazu einerseits auf Entscheidungen des OGH, in denen zwar die Ersatzfähigkeit von Schockschäden, somit von psychischen Beeinträchtigungen, die ein Dritter durch das Miterleben eines Unfallgeschehens erlitten habe, unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt worden seien. Nach dieser Judikatur sei aber von Bedeutung, ob der Täter durch sein primär schädigendes Verhalten auch rechtswidrig gegenüber dem Dritten (Schockgeschädigten) gehandelt habe, wofür entscheidend sei, ob das Verhalten des Schädigers gerade auch gegenüber dem Dritten besonders gefährlich sei, also die Verletzungshandlung in hohem Maße geeignet erscheine, einen Schockschaden herbeizuführen. Der OGH habe jedoch die Ausweitung der Haftung des Schädigers nur in besonderen Fällen anerkannt, um die Ersatzpflicht des Schädigers nicht unangemessen und unzumutbar zu erweitern.

Andererseits verwies die belangte Behörde in ihrer rechtlichen Beurteilung auf § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG. Demnach hätten österreichische Staatsbürger Anspruch auf Hilfe, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass sie als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z. 1 (mit mehr als einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung) eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten hätten und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert worden sei. Im vorliegenden Fall sei zunächst anzunehmen, dass der Lebenspartner der Beschwerdeführerin eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung begangen habe. Was die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG betreffe, so zeigten die Erläuterungen zu dieser Bestimmung, dass jene Personen, gegen die sich die verbrecherische Handlung nicht unmittelbar gerichtet habe, zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach dem VOG zählten, wenn sie "im Zusammenhang mit einer tatbildmäßigen Handlung" im Sinne des § 1 VOG - sei es durch Sicherheitsorgane oder andere Personen, vor allem infolge Waffengebrauchs - verletzt worden seien. Diese Formulierung bringe eine Eingrenzung des Personenkreises zum Ausdruck. Im vorliegenden Falle sei durch die "bloße Zeugenschaft, ohne direkte persönliche und örtliche Einbeziehung in das Geschehen" kein solcher Zusammenhang mit einer strafbaren Handlung gegeben, wie er in § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG vorausgesetzt werde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes; BGBl. Nr. 288/1972 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 40/2009, lauten:

"Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

2. als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl. Nr. 20/1949, bestehen,

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z 1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs. 6 Z 1) begangen wurde.

(2) Hilfe ist auch dann zu leisten, wenn

1. die mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen worden ist oder der Täter in entschuldigendem Notstand gehandelt hat,

2. die strafgerichtliche Verfolgung des Täters wegen seines Todes, wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund unzulässig ist oder

3. der Täter nicht bekannt ist oder wegen seiner Abwesenheit nicht verfolgt werden kann.

(3) ...

...

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

  1. 1. Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;
  2. 2.

    Heilfürsorge

    ...

    10. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld."

    Im Beschwerdefall ist die belangte Behörde davon ausgegangen, dass die neun Monate alte Tochter der Beschwerdeführerin im Februar 2008 Opfer einer strafbaren Handlung wurde, indem sie vom Kindesvater auf pornographischen Fotos abgebildet wurde. Auch die Beschwerdeführerin geht in ihrer Beschwerde davon aus, dass diese Straftat mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedroht sei. Unstrittig ist weiters, dass die Beschwerdeführerin mit der strafbaren Handlung bzw. den diesbezüglichen Fotos erstmals im Zuge einer Befragung am 19. Februar 2009 (also etwa ein Jahr nach der Tat) konfrontiert wurde und in der Folge einen Antrag auf Entschädigung nach dem Verbrechensopfergesetz gestellt hat, weil sie infolge der genannten Konfrontation mit der strafbaren Handlung eine Traumatisierung erlitten habe.

    Strittig ist im vorliegenden Fall die Rechtsfrage, ob die Beschwerdeführerin, die von der strafbaren Handlung nicht unmittelbar betroffen war, sondern als an der Tat Unbeteiligte eine Gesundheitsschädigung behauptet, aus § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG einen Anspruch auf Hilfeleistung ableiten kann.

    Der Beschwerde ist zunächst zuzugestehen, dass die Beantwortung dieser Frage auf der Rechtsgrundlage des Verbrechensopfergesetzes und nicht an Hand der in der zivilrechtlichen Rechtsprechung zu Schockschäden entwickelten Judikatur zu erfolgen hat.

    Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG verneint, weil zwischen der behaupteten Gesundheitsschädigung der Beschwerdeführerin und der strafbaren Handlung nicht der geforderte "Zusammenhang" im Sinne der letztgenannten Bestimmung bestehe, zumal eine direkte persönliche oder örtliche Einbeziehung der Beschwerdeführerin in das strafbare Geschehen nicht erfolgt sei.

    Dieser Rechtsauffassung ist aus folgenden Gründen beizupflichten:

    Der zitierte § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG geht auf die Novelle BGBl. Nr. 620/1977 zurück - die genannte Z 2 war damals allerdings noch im Abs. 2 VOG verankert -, zu der die Erläuterungen (RV 629 BlgNR XIV. GP) ausführen:

    "Vielfach wurde es als Mangel empfunden, dass unbeteiligte Personen, die bei der Verfolgung fliehender Täter durch Organe der Sicherheitsbehörden oder andere Verfolger verletzt wurden, mit ihren Schadenersatzansprüchen leer ausgingen, weil zumeist das Amtshaftungsgesetz auf derartige Fälle nicht anwendbar ist. Künftighin soll in solchen Fällen unter der Voraussetzung Abhilfe geschaffen werden, dass die Körperverletzung des unbeteiligten Dritten im Zusammenhang mit einer rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung steht, die mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedroht ist.

    ...

    Das Bundesgesetz über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen sieht die Hilfe für jene Opfer (Hinterbliebene) vor, die unmittelbare Geschädigte aus einer rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung sind, die mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedroht ist. Durch die vorgeschlagene Änderung soll nun klargestellt werden, dass auch jene Personen bzw. im Falle ihres Todes ihre Hinterbliebenen zum anspruchsberechtigten Personenkreis zu zählen sind, gegen die sich die verbrecherische Handlung nicht unmittelbar richtet, die aber im Zusammenhang mit einer tatbildmäßigen Handlung im Sinne des § 1 Abs. 2 Z. 1, sei es durch Sicherheitsorgane oder andere Personen - vor allem infolge Waffengebrauches - verletzt werden."

    In den zitierten Erläuterungen wird somit beispielhaft angeführt, in welchen Fällen auch unbeteiligte Personen "im Zusammenhang mit einer tatbildmäßigen Handlung" stehen und daher Anspruch auf Hilfe nach dem VOG haben. Dazu zählen typischerweise Personen, die Verletzungen nicht unmittelbar durch die verbrecherische Handlung erleiden, die aber bei der Verfolgung fliehender Täter insbesondere durch Waffengebrauch verletzt werden. Auch wenn es sich dabei um keine abschließende Umschreibung des unter den § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG fallenden Personenkreises handelt, ergibt sich doch, dass nur solche Fälle unter diese Bestimmung zu subsumieren sind, in denen Verletzungen von Unbeteiligten in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der unmittelbaren Straftat (wie eben "vor allem" durch den Schusswaffengebrauch bei der Verfolgung von fliehenden Tätern) stehen.

    Ein solcher Fall liegt gegenständlich aber nicht vor. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die behauptete Gesundheitsschädigung der Beschwerdeführerin erst durch die - ein Jahr nach der Tat erfolgte - Konfrontation der Beschwerdeführerin mit dem strafbaren Verhalten ihres Lebensgefährten ausgelöst wurde. Ginge man, abgesehen vom fehlenden zeitlichen Konnex, mit der Beschwerdeführerin davon aus, dass der für die Hilfeleistung nach § 1 Abs. 1 Z. 2 VOG erforderliche "Zusammenhang" einer (psychischen) Gesundheitsschädigung mit einer Straftat schon durch das bloße Betrachten von Beweismitteln (oder etwa des Tatortes) hervorgerufen werden kann, so würde dies die aus den zitierten Erläuterungen hervorgehenden gesetzlichen Grenzen der Anspruchsberechtigung zweifellos überschreiten.

    Bei diesem Ergebnis war die belangte Behörde, anders als die Beschwerde meint, nicht verpflichtet, Ermittlungen zu den weiteren Tatbestandsvoraussetzungen (Vorliegen einer Gesundheitsschädigung) anzustellen.

    Die Beschwerde war daher gemäß § 35 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung abzuweisen.

    Wien, am 20. April 2010

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