VwGH 2006/01/0626

VwGH2006/01/062623.9.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde der Bundesministerin für Inneres in 1014 Wien, Herrengasse 7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 22. August 2006, Zl. 304.267-C1/E1-XVII/56/06, betreffend § 66 Abs. 2 AVG iVm § 6 sowie §§ 8, 10 Asylgesetz 2005 (mitbeteiligte Partei: MG alias BAK, BAN, LBMH, AB, AMB, GMG, AMS in W, vertreten durch Dr. Helge Doczekal, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Wickenburggasse 3), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §13 Abs2;
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4;
MRK Art8;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

I.

1. Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Tunesien und stellte am 6. März 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes (BAA) vom 4. August 2006 wurde dieser Antrag gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100 (AsylG 2005) ohne weitere Prüfung abgewiesen und dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Bezug auf den Herkunftsstaat Tunesien nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), der Mitbeteiligte gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Tunesien ausgewiesen (Spruchpunkt III.) sowie einer Berufung gegen diesen Bescheid gemäß § 38 Abs. 1 Z. 2 und Z. 6 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).

Begründend stellte das BAA zunächst fest, die Identität des Mitbeteiligten stehe nicht fest, dieser sei im Jahre 1993 illegal in das Bundesgebiet eingereist und halte sich seither unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sodann traf das BAA folgende Feststellungen:

"Der ASt. wurde am 24.10.1995 vom Landesgericht für Strafsachen Wien 6A zur Zahl VR 9638/95 HV 6263/95 wegen §§ 12/1 SuchtgiftG., 15 StGB, 16/1 SuchtgiftG. zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, rechtskräftig mit 24.10.1995, verurteilt. Vollzugsdatum 14.06.1996. Dazu wurde der Rest der Freiheitsstrafe bedingt und auf eine Probezeit von 3 Jahren nachgesehen. Beginn der Probezeit 14.12.1995, gemäß Entschließung des Bundespräsidenten vom 14.12.1995, Erlass des BMFJ, Zahl 4723/100- IV 5/95. Vom LG F.STRAFS.WIEN 4 B VR 2164/96 wird mit 01.04.1996 der bedingt nachgesehene Teil der Freiheitsstrafe widerrufen.

Der ASt. wurde vom LG F.STRAFS.WIEN 4 B zu Zahl VR 2164/96 HV 1782/96 vom 01.04.1996 RK, am 16.04.1996 gem. §§ 12/1 SUCHTGIFTG, 15 StGB, 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren mit Vollzugsdatum 20.01.1999 verurteilt.

Der ASt. wurde weiters vom LG für Strafsachen Wien 6 D zur Zahl VR 12743/96 HV 1659/97 vom 10.06.1997, rechtskräftig mit 18.06.1997 gem. § 16/1 SuchtgiftG. zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt. Vollzugsdatum 20.05.1999.

Der ASt. wurde weiters vom LG für Strafsachen Wien 6 D zur Zahl VR 2734/97 HV 7210/97 vom 09.03.1999, rechtskräftig mit 09.03.1999 gem. § 28/2 SuchtmittelG. verurteilt. Vollzugsdatum 09.03.1999.

Der ASt. wurde weiters vom BG Krems a.d. Donau zur Zahl 3 U 174/99Y, vom 17.05.1999, rechtskräftig 17.05.1999 gem. § 83/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monaten verurteilt. Vollzugsdatum 20.06.1999.

Der ASt. wurde weiters vom LG für Strafsachen Wien 5 A E zur Zahl VR 142/2000 HV 299/2000, vom 16.02.2000, rechtskräftig mit 18.02.2000 gem. §§ 127, 129/1, 15 i.V.m. 269/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Vollzugsdatum 07.06.2000.

Der ASt. wurde weiters vom LG für Strafsachen Wien 9 B zur Zahl VR 5905/2000 HV 3492/2000 vom 03.08.2000, rechtskräftig mit 18.12.2000 gem. §§ 15 i.V.m. 127, 129/1 und 288/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Vollzugsdatum 30.12.2002.

Der ASt. wurde weiters vom LG Wr. Neustadt 38 zur Zahl HV 116/2002A vom 28.10.2002, rechtskräftig mit 09.12.2002 gem. §§ 15 i.V.m. § 269/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt. Vollzugsdatum 28.03.2003.

Der ASt. wurde weiters vom LG für Strafsachen Wien 24 zur Zahl HV 124/2003H vom 14.10.2003, rechtskräftig mit 07.06.2004, gem. §§ 15 i.V.m. 127,128 Abs.1/4, 129/1, 130 (2.Fall), 223/2 und 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Vollzugsdatum 29.06.2006.

Aufgrund der Verurteilung wurde mit Bescheid vom 17.06.1999, Magistrat der Stadt Krems/Donau, ein Aufenthaltsverbot gegen den ASt. erlassen. Das Aufenthaltsverbot erwuchs am 02.07.1999 in Rechtskraft."

Sodann führte das BAA (im Rahmen der Feststellungen) aus, auf Grund der Vielzahl der wiederholten Verurteilungen, wegen der zum Teil auf derselben schändlichen Neigung beruhender Delikte, und der Gesamtzahl, der Schwere und der wiederholten Begehung dieser Delikte innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes, könne von keiner positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden und stelle dies somit einen Asylausschlussgrund dar. Der Asylantrag sei daher ohne weitere Prüfung abzuweisen gewesen. Der eventuelle Vollzug einer Freiheitsstrafe in Tunesien, wobei dem dahingehenden Vorbringen des Mitbeteiligten zur Gänze die Glaubwürdigkeit abgesprochen werde, stelle keine unmenschliche Behandlung dar. Diesbezüglich verwies das BAA auf die im erstinstanzlichen Bescheid wiedergegebene Berichtslage zu Tunesien.

Sodann traf das BAA Feststellungen zur Lage in Tunesien, zur aktuellen politischen Lage, zu den Menschenrechten, zur Religion, zur Situation der Frauen und zur sozialen Situation, wobei die dabei herangezogenen Berichte (des deutschen auswärtigen Amtes aus April 2006 sowie des US-Department of State aus März 2006) zitiert wurden.

Danach führte das BAA im Rahmen der Beweiswürdigung aus, im konkreten Fall sei es gleichgültig, mit welcher Strafdrohung das Suchtmittelgesetz (SMG) die vom Mitbeteiligten begangenen Taten bedrohe. Denn bei Drogenhandel handle es sich um ein typischerweise besonders schweres Verbrechen. Als Erschwerungsgrund müsse beim Mitbeteiligten gewertet werden, dass er mehrere strafbare Handlungen derselben Art begangen habe und außerdem, dass er schon wegen einer auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Tat verurteilt worden sei. Für die Behörden ist der Weiterverkauf von Suchtmittel insbesondere deshalb als schwerwiegende Straftat zu bezeichnen, da durch das In-Umlaufbringen solcher Suchtmittel eine Gefährdung der Volksgesundheit unter dem Gesichtspunkt, sich durch den Erlös des Verkaufes zu bereichern, als besonders schwer zu beurteilen sei. Im gegenständlichen Fall kämen die unter § 34 Abs. 1 StGB subsumierten besonderen Milderungsgründe nicht zum Tragen. Das BAA verkenne nicht, dass die erste Straftat bereits fast elf Jahre zurückliege, jedoch sei es dem Mitbeteiligten nicht möglich gewesen, sich trotz der bewussten Folgen an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Insbesondere durch die Vielzahl der Verurteilungen nach dem SMG sei der objektive Tatbestand des § 6 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 jedenfalls erfüllt. Des Weiteren gelange das BAA auf Grund der weiteren Verurteilungen wegen § 27 SMG zur Auffassung, dass der Mitbeteiligte sohin jedenfalls wegen seines wiederholten strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft darstelle, weshalb die Asylgewährung zu versagen gewesen sei. Die gewünschte präventive Wirkung der ersten Verurteilung und der daraus resultierten Strafe habe beim Mitbeteiligten nicht die gewünschte Wirkung gezeigt und es sei daher nicht anzunehmen, dass der Mitbeteiligte auch in Zukunft als Rückfallstäter nicht wiederum straffällig werde. Der Mitbeteiligte sei bereits zwei Jahre nach seiner Einreise in Österreich zum ersten Mal straffällig geworden, indem er gewerbsmäßig Suchtmittel zum Zweck des Wiederverkaufes erworben und besessen habe, um sich offensichtlich durch den Erlös zu bereichern. Der Mitbeteiligte sei dabei zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden, welche nach sechs Monaten Haft gemäß Entschließung des Bundespräsidenten nachgesehen und eine Probezeit von drei Jahren vorgesehen worden sei. Bereits vier Monate nach seiner Enthaftung, also während seiner Probezeit, sei der Mitbeteiligte erneut straffällig geworden. Durch das In-Umlaufbringen von Suchtmitteln sei die Volksgesundheit der Bewohner der Republik Österreich in erheblichem Maße gefährdet worden und es könne festgestellt werden, dass der Mitbeteiligte durch sein strafbares Verhalten eine Gefahr für die Gemeinschaft und für die Sicherheit der Republik darstelle. Auf Grund der Vielzahl der Verurteilungen sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte eine Gefahr für die Gesellschaft darstelle, zumal er nach dem ersten Verfahren keinerlei Einsicht oder Besserungsabsicht gezeigt habe und binnen kürzester Zeit erneut mit der gleichen Straftat wiederum straffällig geworden sei. Des Weiteren sei die Gleichgültigkeit des Mitbeteiligten gegenüber der österreichischen Rechtsordnung klar zu erkennen gewesen.

Sodann führte das BAA in rechtlicher Hinsicht zu Spruchpunkt I. aus, auf Grund obiger Feststellung stehe fest, dass der Mitbeteiligte wegen Vorliegens eines Asylausschlussgrundes nach § 6 Abs. 1 AsylG 2005 von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen sei.

Zu Spruchpunkt II. führte das BAA in rechtlicher Hinsicht fallbezogen aus, im konkreten Fall könne "keinerlei Bedrohung hinsichtlich von subsidiären Schutzgründen festgestellt werden". Jeglichen Behauptungen des Mitbeteiligten müsse auf Grund der in den Feststellungen angeführten und in der Beweiswürdigung behandelten unzweifelhaften Länderfeststellungen (zu Tunesien) die Glaubwürdigkeit versagt werden.

3. Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 22. August 2006 wurde der oben angeführte Bescheid des BAA behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das BAA zurückverwiesen.

Begründend stellte die belangte Behörde zunächst fest, der Mitbeteiligte habe vorgebracht, sich Anfang 1990 (in Tunesien) mit Freunden zu einer Gruppe zusammengeschlossen zu haben, welche zum Ziel gehabt habe, die Bevölkerung vor der herrschenden Diktatur zu warnen. Dabei habe er regimekritische Gedichte verfasst, vervielfältigt und unter der Bevölkerung verteilt. Im Jänner 1993 seien er und seine Freunde dabei von der Polizei beobachtet worden. Ein Polizist hätte auf ihn geschossen und ihn am Unterschenkel getroffen. Eine Woche später sei ein Freund des Mitbeteiligten verhaftet und zu 40 Jahren Gefängnis wegen Anstiftung zum Landesverrat verurteilt worden. Weiters traf die belangte Behörde Feststellungen zu den gerichtlichen Verurteilungen des Mitbeteiligten und zum bisherigen Verfahrensgang.

Sodann führte die belangte Behörde in rechtlicher Hinsicht aus, § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 AsylG 2005 seien ident mit § 13 Abs. 2 Asylgesetz 1997 (AsylG) und verwies auf die diesbezüglichen Erläuterungen der Regierungsvorlage. Deshalb sei die zu dieser Bestimmung ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch für § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 AsylG 2005 maßgeblich.

Im Beschwerdefall sei fraglich, ob die vom Mitbeteiligten gesetzten strafbaren Handlungen im Bereich der Drogendelikte, welche in Summe eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ausmachten, die erforderliche Qualifikation für ein besonders schweres Verbrechen (nach § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005) aufwiesen. Das BAA habe dabei die Verurteilungen des Mitbeteiligten lediglich unter einem formalen Blickwinkel gewürdigt, indem es sich - der Aktenlage zufolge - ausschließlich auf den Strafregisterauszug und somit auf die Tatsache der strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt habe. Die den Verurteilungen zugrundeliegenden Urteilsbegründungen sowie die Umstände der Strafbegehungen seien vom BAA nicht herangezogen worden. Damit ignoriere das BAA die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach im konkreten Einzelfall ermittelt werden müsse, ob sich die Tat als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweise. Für diese Beurteilung sei es erforderlich, den Strafakt einzusehen und die - durch das Strafausmaß indizierten - Milderungsgründe sowie auch gegebenenfalls Erschwerungsgründe, welche für die Festsetzung der Höhe der Strafe für das Gericht maßgeblich gewesen seien sowie die Umstände der Strafbegehungen in die Beweiswürdigung einfließen zu lassen. Das Ermittlungsverfahren des BAA erweise sich somit bereits hinsichtlich des Vorliegens eines besonders schweren Verbrechens im Sinn des § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 aus Sicht der belangten Behörde als mangelhaft.

Aber auch hinsichtlich der nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erforderlichen Zukunftsprognose und Güterabwägung sei das Ermittlungsverfahren des BAA mangelhaft gewesen. So habe das BAA zur Güterabwägung lediglich ausgeführt, warum der Mitbeteiligte eine Gefahr für die Gemeinschaft und für die Sicherheit der Republik Österreich sei, jedoch zur Frage der dem Mitbeteiligten (in Tunesien) drohenden Maßnahmen lediglich festgestellt, dass der eventuelle Vollzug einer Freiheitsstrafe, wobei dem dahingehenden Vorbringen zur Gänze die Glaubwürdigkeit abgesprochen werde, in Tunesien keine unmenschliche Behandlung darstelle. Eine Begründung, welche den Anforderungen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes an die Beweiswürdigung entspreche, fehle dem erstinstanzlichen Bescheid zur Gänze. Darüber hinaus verwies die belangte Behörde auf einen Bericht von Amnesty International (Jahresbericht 2006) zu Tunesien, wonach im Berichtsjahr "zahlreiche Menschen unter der Anklage terroristischer Straftaten nach unfairen Prozessen zu langen Freiheitsstrafen verurteilt" worden seien. Nach diesem Bericht "trafen Meldungen über Folterungen und Misshandlungen ein". Daher sei es für die belangte Behörde nicht nachvollziehbar, wie das BAA zu der oben zitierten Feststellung gelangt sei.

Weiters führte die belangte Behörde aus, die Verurteilungen des Mitbeteiligten erfüllten auch nicht die von § 6 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 geforderte Kategorie der Delikte gegen den Staat, weshalb die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen sei. Unter diese Bestimmung fielen nur strafbare Handlungen, die eine Gefahr für den Staat selbst, also für dessen Bestand und Sicherheit darstellten. In Frage kämen Delikte wie Planung eines Umsturzes oder Spionage für einen fremden Staat.

Auch die Begründung zu Spruchpunkt II. des erstinstanzlichen Bescheides sei mangelhaft, da sich das BAA mit dem individuellen Vorbringen des Mitbeteiligten überhaupt nicht auseinander gesetzt habe und ebenso wenig die individuelle Gefährdungslage in Tunesien überprüft habe.

Auf Grund dieser Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens des BAA hätte die belangte Behörde eine erstmalige Prüfung des Asylvorbringens des Mitbeteiligten durchführen müssen und wäre somit der Großteil des Ermittlungsverfahrens vor die belangte Behörde verlagert worden. Da dies die Zweiinstanzlichkeit des Asylverfahrens aushöhlen würde, sei das Ermessen gemäß § 66 Abs. 2 und 3 AVG im Sinn einer kassatorischen Entscheidung auszuüben und das Verfahren spruchgemäß an das BAA zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides zurückzuverweisen gewesen.

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Bundesministerin für Inneres, in der im Wesentlichen vorgebracht wird, beim Mitbeteiligten läge in exemplarischer und offensichtlicher Weise ein besonders schweres Verbrechen nach § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 vor, zumal darunter zumindest Drogendelikte zu subsumieren seien. Die subjektiven Beweggründe der Taten seien von den Strafbehörden zu beurteilen. Das BAA habe sich daher ausreichend auf eine genaue Auflistung sämtlicher Straftaten des Mitbeteiligten gestützt und aus der eklatanten Anzahl von Delikten eine ausreichende, negative Zukunftsprognose getroffen. Auch die vorgenommene Güterabwägung sei ausreichend, da auf Grund der getroffenen Länderfeststellungen selbst eine Strafhaft in Tunesien per se keine Rechtsverletzung iS der EMRK darstellen würde. Die von der belangten Behörde vertretene Auslegung von § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 würde dazu führen, dass auch in so gravierenden Fällen schwerer Verbrechen (wie im Beschwerdefall) eine alle denkbaren subjektiven Elemente umfassende Prüfung der einzelnen Deliktstatbestände zu erfolgen hätte, selbst wenn das subjektive Gesamtbild bereits eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose zulassen würde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte, die Amtsbeschwerde als unbegründet abzuweisen.

II.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Voraussetzungen einer Behebung nach § 66 Abs. 2 AVG:

Zu den Voraussetzungen einer Behebung nach § 66 Abs. 2 AVG kann im vorliegenden Fall gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom 13. November 2008, Zl. 2006/01/0191, und die dort dargestellte ständige Rechtsprechung verwiesen werden.

2. Zur Rechtslage des § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 AsylG 2005:

§ 6 AsylG lautet auszugsweise:

"Ausschluss von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

§ 6. (1) Ein Fremder ist von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, wenn

...

3. er aus gewichtigen Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder

4. er von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.

(2) Wenn ein Ausschlussgrund nach Abs. 1 vorliegt, kann der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden. § 8 gilt."

Die Erläuterungen zu dieser Bestimmung (vgl. RV 952 BlgNR XXII. GP, 36) führen wie folgt aus:

"Die Z 3 und 4 des Abs. 1 entsprechen inhaltlich dem bisherigen § 13 Abs. 2 AsylG. Unter den Begriff 'besonders schweres Verbrechen' fallen nach Kälin, Grundriss des Asylverfahrens (1990), S 182 und 228 (ua. mit Hinweis auf den UNHCR) und Rohrböck, (Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (1999) Rz 455, mit weiteren Hinweisen auf die internationale Lehre), nach herrschender Lehre des Völkerrechts nur Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen. Typischerweise schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (vgl. VwGH 10. 6.1999, 99/01/0288). Zu denken wäre aber auch - auf Grund der Gefährlichkeit und Verwerflichkeit an besondere Formen der Schlepperei, bei der es zu einer erheblichen Gefährdung, nicht unbedeutenden Verletzung oder gar Tötung oder während der es zu erheblichen - mit Folter vergleichbaren Eingriffen in die Rechte der Geschleppten kommt. Die aktuelle Judikatur in Österreich, wie in anderen Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, verdeutlicht, dass der aus dem Jahre 1951 stammende Begriff des 'besonders schweren Verbrechens' des Art 33 Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention einer Anpassung an sich ändernde gesellschaftliche Normenvorstellungen zugänglich ist."

Davon ausgehend ist für die Auslegung des § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 AsylG 2005 - wie die belangte Behörde zu Recht ausführt - die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 13 Abs. 2 AsylG 1997 maßgeblich.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zu den Ausschlussgründen nach § 13 Abs. 2 erster und zweiter Fall Asylgesetz 1997 (AsylG) - welche § 6 Abs. 1 Z. 3 und 4 AsylG 2005 entsprechen - im hg. Erkenntnis vom 27. April 2006, Zl. 2003/20/0050, Stellung genommen und gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die im hg. Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 99/01/0449, entwickelten Kriterien verwiesen.

Nach dieser Rechtsprechung müssen für die Anwendung des § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG (entspricht § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005) kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Flüchtling trotz drohender Verfolgung in den Herkunftsstaat verbracht werden dürfe: Er müsse erstens ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, dafür zweitens rechtskräftig verurteilt worden und drittens gemeingefährlich sein, und schließlich müssten die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen (vgl. das zitierte Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 99/01/0449, mit Verweis auf das hg. Erkenntnis vom 6. Oktober 1999, Zl. 99/01/0288, auf welches auch die Erläuterungen zu § 6 AsylG 2005 verweisen).

Bei der Beurteilung, ob ein "besonders schweres Verbrechen" nach § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG (und § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005) vorliegt, ist eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen. Im zitierten Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 99/01/0449, führte der Verwaltungsgerichtshof unter Verweis auf das Erkenntnis vom 6. Oktober 1999, Zl. 99/01/0288, aus, Drogenhandel sei "typischerweise" ein "besonders schweres Verbrechen". Dieser vom Verwaltungsgerichtshof vertretenen Wertung schloss sich der Bundesgesetzgeber im Bereich des AsylG 2005 an, wie die obzitierten Erläuterungen zu § 6 AsylG 2005, die auf das Erkenntnis vom 6. Oktober 1999, Zl. 99/01/0288 verweisen, zeigen. Allerdings genüge es nicht, so der Verwaltungsgerichtshof weiter, wenn ein abstrakt als "schwer" einzustufendes Delikt verübt worden sei. Die Tat müsse sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwer wiegend erweisen, sodass unter anderem auf Milderungsgründe Bedacht zu nehmen sei. In dem dem Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 99/01/0449 zu Grunde liegenden Beschwerdefall wurde es vom Verwaltungsgerichtshof sodann fallbezogen als entscheidend angesehen, dass - ausgehend von den Feststellungen im Strafurteil - die Größe der gehandelten Suchtgiftmenge zu einer vergleichsweisen geringen Freiheitsstrafe führte und dies daher - es handelte sich dort um die einzige Verurteilung - (noch) nicht als "besonders schweres Verbrechen" iSd § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG gewertet wurde.

Darüber hinaus ist bei der (in der oben angeführten Rechtsprechung als vierte Voraussetzung aufgezählten) Güterabwägung auch eine Rückkehrgefährdung des Asylwerbers zu prüfen (vgl. das zitierte hg. Erkenntnis vom 27. April 2006, Zl. 2003/20/0050, Punkt 2. und 4.).

Für das Vorliegen eines Deliktes nach § 13 Abs. 2 erster Fall AsylG (dem entspricht § 6 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005) muss dagegen eine konkrete Gefahr für die "nationale Sicherheit" vorliegen und es sich dabei daher um Umstände handeln, die den Bestand des Staats gefährden (vgl. das obzitierte hg. Erkenntnis vom 27. April 2006, Zl. 2003/20/0050).

3. Fallbezogene Beurteilung des angefochtenen Bescheides:

Ausgehend von dieser Rechtslage ist der angefochtene Bescheid nicht als rechtswidrig zu erkennen:

3.1. Zunächst ist die Auffassung der belangten Behörde nicht als rechtswidrig zu erkennen, wonach die festgestellten Delikte des Mitbeteiligten nicht den Tatbestand des § 6 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 erfüllen, zumal die Feststellungen nicht erkennen lassen, dass diese den Bestand des Staates (im oben angeführten Sinn) gefährdeten.

3.2. Zum Asylausschlussgrund nach § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 hat das BAA Feststellungen zu den zahlreichen gerichtlichen Verurteilungen des Mitbeteiligten getroffen und dabei eine genaue Auflistung sämtlicher Straftaten des Mitbeteiligten vorgenommen. Im Hinblick auf die solcherart festgestellte Vielzahl an einschlägigen rechtskräftigen Verurteilungen des Mitbeteiligten wegen Drogenhandels und die verhängten, zum Teil beträchtlichen Freiheitsstrafen - wodurch sich der Beschwerdefall auch von der oben angeführten Konstellation im Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 99/01/0499 unterscheidet - konnte das BAA zu Recht zur Auffassung gelangen, dass im Beschwerdefall die Voraussetzungen des "besonders schweren Verbrechens" nach § 6 Abs. 1 Z. 4 AsylG 2005 gegeben sind.

Es ist nämlich der Amtsbeschwerdeführerin zu folgen, wenn sie vorbringt, dass in so gravierenden Fällen schwerer Verbrechen wie im Beschwerdefall bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose zulässig ist. Eine derartige Wertung findet nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes auch in der zu Art. 8 EMRK ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Deckung, nach welcher der EGMR das harte Vorgehen der nationalen Behörden gegen Drogenhandel, den der EGMR ausdrücklich als "Plage" ("scourge") bezeichnet, billigt (vgl. das Urteil der Großen Kammer des EGMR, Maslov gegen Österreich, vom 23. Juni 2008, Beschwerdenummer 1638/03, Randnr. 80, mwN).

3.3. Die belangte Behörde hat jedoch im angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, dass sich das BAA nur unzureichend mit einer (allfälligen) Rückkehrgefährdung des Mitbeteiligten auseinandergesetzt hat.

So ist dem erstinstanzlichen Bescheid des BAA weder eine ausreichende Beweiswürdigung im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Mitbeteiligten noch eine ausreichende Berücksichtigung der einschlägigen Berichtslage zu Tunesien zu entnehmen (zu den Anforderungen an eine schlüssige Beweiswürdigung vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), 686, E 268 zu § 45 AVG, wiedergegebene hg. Rechtsprechung und zur Berichtslage betreffend Tunesien insbesondere das Urteil des EGMR vom 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien, Beschwerdenummer 37.201/06, Randnrn. 143 und 170).

Zur Güterabwägung ist auf das Vorabentscheidungsersuchen des deutschen Bundesverwaltungsgerichtes an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in den Rechtssachen C-57/09 , Bundesrepublik Deutschland gegen B., sowie C-101/09 , Bundesrepublik Deutschland gegen D., hinzuweisen, in denen unter anderem die Frage nach der Erforderlichkeit einer auf den Einzelfall bezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 2 lit. b und c der Richtlinie 2004/83/EG gestellt wird. Diese Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG sind im Beschwerdefall jedoch nicht einschlägig.

3.4. Hinzu tritt, dass eine allfällige Rückkehrgefährdung des Mitbeteiligten in seinen Herkunftsstaat Tunesien jedenfalls nach § 8 AsylG 2005 zu prüfen gewesen wäre. § 6 Abs. 2 AsylG 2005 spricht zwar davon, dass der Antrag auf internationalen Schutz im Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden kann, wenn ein Ausschlussgrund nach Abs. 1 vorliegt, normiert jedoch auch in diesem Fall die Anwendung des § 8 AsylG 2005 (arg.: "§ 8 gilt."). So sprechen auch die Erläuterungen (952 BlgNR XXII. GP, 36) davon, dass das Vorliegen eines Asylausschlusstatbestandes nicht zwangsläufig bedeutet, dass auch eine Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung zulässig wäre, da etwa Art. 3 EMRK Vorrang gegenüber Art. 33 Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (FlKonv) habe.

Nach dieser Rechtslage hätte daher das BAA jedenfalls - unabhängig von einem allfälligen Asylausschlussgrund nach § 6 AsylG 2005 - zu prüfen gehabt, ob einer Abschiebung des Mitbeteiligten in seinen Herkunftsstaat Art. 3 EMRK entgegenstehen würde (vgl. insoweit auch das Urteil des EGMR vom 28. Februar 2008, Saadi gegen Italien, Beschwerdenummer 37.201/06, Randnrn. 127 und 137 zu Art. 3 EMRK als absolutes Recht sowie die Randnrn. 143 zur Lage in Tunesien, sowie die an dieses Urteil anschließende einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu Tunesien, z. B. das Urteil vom 24. März 2009, Abdelhedi gegen Italien, Beschwerdenummer 2638/07), was wiederum eine beweiswürdigende Auseinandersetzung mit seinem Vorbringen erfordert hätte.

4. Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 23. September 2009

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