VfGH V433/2020

VfGHV433/20209.3.2021

Gesetzwidrigkeit einer Verordnung der Landespolizeidirektion Wien nach dem SicherheitspolizeiG betreffend die Verweisung von "Besetzern" aus dem Gebäude der Technischen Universität Wien; keine Berechtigung zur Auflösung der – auf Grund der konkreten Umstände als Versammlung zu wertenden – Zusammenkunft auf Grund des SicherheitspolizeiG

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z1
SicherheitspolizeiG §36, §37
VersammlungsG 1953 §13
Verordnung des Landespolizeidirektion vom 10.12.2019 betreffend das Verweisen von Besetzer aus dem Gebäude der TU Wien
VfGG §7 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:V433.2020

 

Spruch:

I. Die auf §37 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019, kundgemacht durch Verlesen im Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.38 Uhr bis 21.39 Uhr und am Gang beim Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.43 Uhr bis 21.44 Uhr, war gesetzwidrig.

II. Der Bundesminister für Inneres ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Verwaltungsgericht Wien wörtlich (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"[D]er Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass

1. die auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung des Landespolizeipräsidenten von Wien vom 10.12.2019 mit dem Wortlaut 'Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der TU Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.' kundgemacht durch Verlesen am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der TU Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der TU Wien ihrem gesamten Inhalt nach

in eventu

2. die auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung ihrem gesamten Inhalt nach

in eventu

3. die §§1 bis 3 der auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte[n] Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

4. die §§2 und 3 der auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte[n] Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

5. §3 der auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte[n] Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

6. die auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 mit dem Wortlaut 'Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der TU Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.' kundgemacht durch Verlesen am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der TU Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der TU Wien ihrem gesamten Inhalt nach sowie die auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung des Landespolizeipräsidenten von Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung ihrem gesamten Inhalt nach gesetzwidrig war."

II. Rechtslage

Die hier maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die angefochtene Verordnung ist hervorgehoben):

1. §37 des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei in der in Geltung stehenden Stammfassung BGBl 566/1991 (Sicherheitspolizeigesetz – SPG) lautet:

"Auflösung von Besetzungen

§37. (1) Kommen mehrere Menschen ohne Duldung des Besitzers auf einem Grundstück oder in einem Raum in gemeinsamer Absicht zusammen, ohne daß diese Ansammlung den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterliegt, so hat die Sicherheitsbehörde mit Verordnung das Verlassen des Grundstückes oder Raumes anzuordnen und zugleich dessen Betreten zu untersagen, wenn

1. die Auflösung der Besetzung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig ist oder

2. die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Besitzers darstellt und dieser die Auflösung verlangt.

Die Sicherheitsbehörde hat in diesen Fällen die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu ermächtigen, die Besetzer vom Grundstück oder aus dem Raum zu weisen. Für solche Verordnungen gilt §36 Abs4.

(2) Sobald eine Besetzung für aufgelöst erklärt ist, sind alle Anwesenden verpflichtet, den Ort der Besetzung sofort zu verlassen und auseinanderzugehen."

 

2. Die auf §37 SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019, kundgemacht durch Verlesen im Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.38 Uhr bis 21.39 Uhr und am Gang beim Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.43 Uhr bis 21.44 Uhr, lautet:

"Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der TU Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird."

3. Die schriftliche Fassung der auf §37 SPG gestützten Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019 lautet:

"VERORDNUNG

der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019

 

Gemäß §37 des Sicherheitspolizeigesetzes 1991, BGBI 1991/566, in der derzeit geltenden Fassung wird verordnet:

 

§1. Die Technische Universität Wien, Karlsplatz 13, 1040 Wien, wurde am 10.12.2019 um 15:30 Uhr im dortigen Festsaal von mehreren Personen (ca 75) unrechtmäßig ohne Duldung des Verfügungsberechtigten besetzt.

 

§2. Es wird das Verlassen der Technischen Universität Wien, Karlsplatz 13, 1040 Wien, angeordnet. Des Weiteren wird ein Betreten des Gebäudes untersagt, nachdem die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Verfügungsberechtigten darstellt und diese die Auflösung verlangen.

 

§3. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der Technischen Universität Wien zu weisen. Die Räumung ist gemäß §50 SPG mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen.

 

§4. Die Verordnung ist in geeigneter Weise durch den Behördenvertreter vor Ort kundzumachen und tritt unmittelbar nach Verlautbarung in Kraft.

 

§5. Wer diesem angeordneten Betretungsverbot zuwiderhandelt[,] begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 500 Euro, im Wiederholungsfall mit Geldstrafe bis zu 2300 Euro, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu be[s]trafen.

 

§6. Das Betretungsverbot endet mit Außerkrafttreten der Verordnung.

 

§7. Diese Verordnung tritt am 10.12.2019 um 21:39 Uhr in Kraft und am 11.12.2019 um 03:39 Uhr außer Kraft."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beim Verwaltungsgericht Wien ist eine Maßnahmenbeschwerde anhängig, in der sich die Beschwerdeführerin durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Organe der Landespolizeidirektion Wien in ihren Rechten verletzt erachtet.

Die Beschwerdeführerin nahm am Nachmittag des 10. Dezember 2019 an einer Versammlung zum Thema Hochschulpolitik vor der Technischen Universität (im Folgenden: TU) Wien teil. Nach Beendigung dieser Versammlung gegen 15.10 Uhr verschafften sich zirka 60 Personen – vorbei an von der TU Wien beauftragten Sicherheitskräften – Zutritt zum Festsaal der TU Wien im ersten Stock und verharrten dort. Gemeinsam mit diesen wollte die Beschwerdeführerin ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse an den Hochschulen kundtun, sich aber nicht an den vor dem Eingang zum Festsaal postierten Sicherheitskräften vorbeidrängeln, und setzte sich deshalb vor dem Festsaal auf den Boden, um den Entwicklungen folgen zu können.

Vom Balkon des Festsaals aus riefen mehrere der anwesenden Personen Parolen und hissten ein Transparent. Am Balkon vor dem Saal zum Resselpark hin skandierten weitere Personen Forderungen und entfalteten ein Transparent mit der Aufschrift: "BESETZT DIE UNIS! #WIEDERBRENNEN FÜR FREIE BILDUNG". Im Festsaal wurde ein Plenum abgehalten, um Themen (zB Platzmangel, Anwesenheitspflicht bei bestimmten Studien, Studiengebühren) und Forderungen zu besprechen.

Das Interesse der Teilnehmer an den Aktivitäten im Festsaal der TU Wien war nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien zu diesem Zeitpunkt darauf gerichtet, einerseits auf Missstände an Österreichs Hochschulen aufmerksam zu machen und andererseits Druck auf Vertreter der TU Wien auszuüben und die Aufnahme zuvor verweigerter Verhandlungen zu erzwingen.

Nach Eintreffen der Polizei gegen 15.30 Uhr erklärte der "Gesamtprojektleiter" der TU Wien und Sicherheitsverantwortliche dieser, dass sich die im Festsaal verharrenden Personen ohne Einwilligung dort aufhielten; nach etwa zwei Stunden und mehreren Gesprächen wollten sie der Rektorin ihren "Forderungskatalog" und Bedingungen für ihren "Abzug" vortragen.

Gegen 17.55 Uhr erfolgte die Übergabe der Bedingungen, welche ua darin bestanden, dass sich Vertreter der Regierung (sofort) vor Ort zu Gesprächen zur weiteren Bildungspolitik stellen sollten. Gefordert wurde auch mehr Geld für Studierende. Die Rektorin der TU Wien konnte dies nicht zusichern, erklärte sich aber bereit, den Festsaal für solche Gespräche nach vorheriger Terminvereinbarung zur Verfügung zu stellen. Die Sprecher der Zusammenkunft im Festsaal begaben sich zur Berichterstattung und Beratung zurück. In weiterer Folge wurde dem Verwaltungsgericht Wien zufolge "länger darüber diskutiert, ob man der Rektorin vertrauen könne, und anschließend wurde im Plenum abgestimmt."

Gegen 19.15 Uhr fand eine weitere Besprechung mit dem Rektorat statt, in der die Sprecher erklärten, dass die im Festsaal verharrenden Personen diesen unter den gegebenen Umständen nicht verlassen würden. Nach einer weiteren vom Rektorat eingeräumten Stunde Bedenkzeit erklärten die Sprecher gegen 20.30 Uhr erneut, dass die sich im Festsaal aufhaltenden Personen weiter dort verharren würden, bis ihre Forderungen erfüllt würden.

Etwa gleichzeitig wurde seitens der Rektorin der TU Wien und von deren Vertretern der Polizeieinsatzleitung mitgeteilt, dass ein Verbleib der eingedrungenen Personen im Festsaal über Nacht nicht geduldet werden würde, weil "geordnete Verhältnisse" gewünscht seien.

Gegen 20.55 Uhr stufte die Polizeieinsatzleitung vor Ort die Zusammenkunft im Festsaal der TU Wien als Besetzung gemäß §37 SPG ein und bereitete – in der Überzeugung, die Voraussetzungen des §37 Abs1 Z2 SPG lägen vor – die Erlassung einer auf §37 SPG gestützten Verordnung vor; und dies nach Rücksprache mit dem diensthabenden Präsidialjournalbeamten, der wiederum in Kontakt mit dem Landespolizeipräsidenten stand und zur Erlassung einer solchen Verordnung ermächtigt war.

Im Festsaal der TU Wien bzw am Gang beim Festsaal verlas in der Folge ein Polizeibeamter von 21.38 Uhr bis 21.39 Uhr bzw von 21.43 Uhr bis 21.44 Uhr wörtlich Folgendes:

"Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der TU Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird."

Die schriftliche Fassung dieses verlesenen Textes mit Ergänzungen insbesondere im Hinblick auf das In- und Außerkrafttreten sowie die Folgen des Zuwiderhandelns (s auch Pkt. II.3.) wurde in etwa zeitgleich im Büro des Präsidialjournalbeamten angefertigt und in späterer Folge fertiggestellt.

Etwa zwei bis drei Personen verließen innerhalb der gesetzten Frist das Universitätsgebäude; die Beschwerdeführerin blieb am Boden vor dem Festsaal sitzen.

Nach Ablauf von zehn Minuten wurden die weiterhin anwesenden Personen, die der Räumung nicht freiwillig nachkamen, – so auch die Beschwerdeführerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren – unter Anwendung von Zwangsgewalt aus dem Gebäude ins Freie verbracht (getragen).

2. Das Verwaltungsgericht Wien legt seine Bedenken wörtlich wie folgt dar (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"1. Das Verwaltungsgericht Wien hegt folgende Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der antragsgegenständlichen Verordnung:

Die eindeutige Rechtsgrundlage für die antragsgegenständliche Verordnung des §37 des Sicherheitspolizeigesetzes sieht vor, dass eine auf ihre[r] Grundlage erlassene Verordnung unzulässig ist, wenn es sich bei der Zusammenkunft von mehreren Menschen ohne Duldung des Besitzers um eine Ansammlung handelt, die den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterliegt.

[…]

Aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens erachtet das Verwaltungsgericht Wien die 'Besetzung' von unter anderem des Festsaals samt der davor befindlichen Räume bzw des davor befindlichen Gangs der TU-Wien am 10.12.2019 durch zahlreiche Personen als eine spontane Ansammlung von Menschen, die den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterlag. Die daran teilnehmenden Personen kamen zusammen in der Absicht durch gemeinsames Wirken ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse an den Hochschulen kundzutun. Dazu wurden vom Balkon aus Parolen gerufen und ein Transparent gehisst, auch am Balkon vor dem Saal zum Resselpark hin, skandierten mehrere Personen ihre Forderungen und entfalteten ein Transparent mit der Aufschrift: 'BESETZT DIE UNIS! #WIEDERBRENNEN FÜR FREIE BILDUNG'. Im Plenum wurden Diskussionen und Abstimmungen gehalten. Das Interesse der Versammlungsteilnehmer war dabei darauf gerichtet auf den aktuellen Platzmangel an Österreichs Hochschulen, die schlechten Studienbedingungen, die Beschränkung der Hochschulbindung und des Zugangs zu den Hochschulen aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck 'besetzten' sie die genannten Räumlichkeiten auch um Druck aufzubauen, um in Verhandlungen zu treten, die zuvor verweigert worden waren. Insbesondere forderten sie für ihren Abzug, dass sich Vertreter der Regierung vor Ort zu Gesprächen zur weiteren Bildungspolitik stellen sollten bzw mehr Geld für Studierende. Ziel war dabei aber nicht der bloße Verbleib in den Räumlichkeiten, weshalb nicht von einer Besetzung im Sinne des §37 SPG auszugehen ist; Ziel der zusammenkommenden Personen war vielmehr ein hochschulpolitischer Protest (Platzmangel an Österreichs Hochschulen, schlechte Studienbedingungen, Beschränkung der Hochschulbindung und des Zugangs zu den Hochschulen) samt Verhandlungsbestreben. […]

Die belangte Behörde hätte folglich keine auf §37 des Sicherheitspolizeigesetzes gestützte Verordnung erlassen dürfen [(vgl dazu auch VfGH vom 28.09.2018, V1/2018 = VfSlg 20.275/2018) und in weiterer Folge auch keine auf diese Verordnung gestützten individuellen Befehle und Zwangsmaßnahmen (auch) gegen die Beschwerdeführerin richten dürfen].

2. Das Verwaltungsgericht Wien hegt des weiteren Bedenken im Hinblick auf die zum Ausdruck kommende in Anspruch genommene gesetzliche Grundlage des §37 Abs1 Z2 des Sicherheitspolizeigesetzes: Danach kann eine Verordnung mit der Anordnung des Verlassens eines Raumes (oder Grundstückes) und zugleich der Untersagung dessen Betretung angeordnet werden, wenn die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Besitzers darstellt und diese die Auflösung verlangt.

In der Beschwerdesache ist nach Einsichtnahme in den vorliegenden Verordnungsakt und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich, dass seitens des verordnungserlassenden Organs die Frage eines schwerwiegenden Eingriffes ansatzweise geprüft bzw hinterfragt wurde. Auch in der von der belangten Behörde vorgelegten Meldung vom 10.12.2019 findet sich kein Anhaltspunkt für die Beurteilung dieser Frage – darin ist lediglich vermerkt, dass die Rektorin zum Ausdruck gebracht habe, dass der Verbleib der Studierenden im Festsaal nicht geduldet werde, respektive, dass seitens der TU Wien beschlossen wurde von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und die Entfernung aller Personen auch aus dem Gang- und Foyerbereich erreichen zu wollen, weil ein Verbleib der Studierenden im Festsaal über Nacht nicht geduldet werden würde bzw, weil 'geordnete Verhältnisse' gewünscht waren. Dem Wortlaut des §37 Abs1 Z2 SPG nach ist dies aber nicht maßgeblich – vielmehr kommt es auf die mangelnde Duldung des Zusammenkommens an – das anfängliche Zusammenkommen fand gleichwohl zunächst noch Duldung (vgl etwa Hauer/Keplinger, Handbuch zum Sicherheitspolizeigesetz4, 362). Auch aus diesem Grund findet die gegenständliche Verordnung keine gesetzliche Deckung."

3. Die verordnungserlassende Behörde hat die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der den im Antrag dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"1) Das Landesverwaltungsgericht Wien (nachfolgend kurz: 'VwG') äußert […] das Bedenken, dass die in Rede stehende Ansammlung von Menschen als Versammlung iSd VersammlungsG 1953 zu qualifizieren sei. […]

a) Dagegen ist auszuführen, dass die Zusammenkunft der Personen im Festsaal zu Beginn ohne Zweifel als Versammlung zu werten war (Parolen, Transparent, Diskussion). Mit Fortdauer des Geschehens änderte sich jedoch der Charakter der Zusammenkunft. Die Bemühungen der Personengruppe, an Ort und Stelle ein Gespräch mit Regierungsvertretern zu erzwingen, stellten sich nach wiederholten Unterredungen mit Vertretern der Universität letztlich als gescheitert dar. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, kann es doch von Vertretern der Universität realistischer Weise nicht erwartet werden, dass sie Vertreter der Regierung zu einer Verhandlung mit einer ihrer Unzufriedenheit ausdrückenden, relativ kleinen Personengruppe veranlassen können.

Das Scheitern der Intention der Personengruppe wird auch aus den Aussagen der Zeugen […] deutlich, die berichteten, dass die Vertreter der Personengruppe nach ihrer Rückkehr von der Unterredung mit den Vertretern der Universität den Anwesenden berichteten, dabei aber kaum beachtet wurden. Damit endete aber auch der Versammlungscharakter im Sinne einer Diskussion, Manifestation o.ä.

So wurde die Situation von der Behörde schließlich dahingehend eingeschätzt, dass nur mehr die faktische Verfügungsgewalt über den Festsaal das Ziel der Zusammengekommenen darstellte. Wäre diese Einschätzung unrichtig gewesen, hätte die Personengruppe wohl eines der ihnen von der Universität unterbreiteten Angebote, zB jenes, den Festsaal zu einer gemeinsam festzulegenden Zeit für Gespräche oder sonstiges gemeinsames Wirken zu nutzen, angenommen. In der Einschätzung der Behörde war das Besetzthalten des Festsaals auf unbestimmte Dauer das am Ende verbliebene Motiv der Zusammengekommenen. Dass bei dem Verbleib im Festsaal ein gewisses (durchaus auch politisches) Ziel im Hintergrund stand, ändert nach Meinung der Behörde nichts am Vorliegen einer Besetzung gemäß §37 SPG. Denn die meisten, wenn nicht alle, Besetzungen iSd §37 SPG, werden wohl nicht um der Besetzung selbst Willen durchgeführt, sondern zu einem bestimmten Zweck. Beispielsweise ist in diesem Zusammenhang auf den Sachverhalt zu verweisen, der dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 13.12.1988, B756, 757/88 (VfSlg 11935) zugrunde lag. Dort wurde durch den Aufenthalt verschiedener Gruppen in einer Fußgängerpassage zunächst die Wohnungspolitik und die Überbelegung von Obdachlosenheimen thematisiert. In weiterer Folge stellte sich die Situation als 'stationärer' Aufenthalt einer Personengruppe in einer Fußgängerpassage dar, wobei freilich das anfängliche Ziel weiter im Hintergrund fortbestand. War doch vorgesehen, nach einigen Tagen eine 'Obdachlosen-Demo' durchzuführen. Dennoch wurde diese Sachlage in dem genannten Erkenntnis nicht als Versammlung iSd VersammlungsG qualifiziert. Die im vorliegenden Fall zu beurteilende Situation war jener aus dem o.a. Erkenntnis durchaus vergleichbar. Dabei ist nicht zuletzt auf das von den Besetzern auf unbestimmte Dauer geplante Verharren im Festsaal hinzuweisen.

b) Die vom VwG in seinem Antrag enthaltene Sachverhaltsdarstellung bezieht sich auf die Situation im Festsaal der Technischen Universität. Die beim VwG Beschwerde führende Partei war unbestrittener Maßen nicht im Festsaal anwesend. Sie kam ihren eigenen Angaben nach erst später in das Gebäude der Technischen Universität, nämlich, als sich die Personengruppe bereits im Festsaal aufhielt. Sie verblieb, wie sie erklärte, außerhalb des Festsaals, da sie sich an den beim Saaleingang befindlichen Angehörigen eines Sicherheitsdienstes nicht vorbeidrängen habe wollen. Dass dies möglich war, zeigt das Beispiel anderer Personen, die nach Angaben der Beschwerde führenden Partei auf diese Art in den Festsaal gelangten. Die Behörde ist der Ansicht, dass die vor dem VwG Beschwerde führende Partei, nicht zu jener – wie auch immer zu qualifizierenden – Veranstaltung gehörte, die im Festsaal vor sich ging. Dabei wird nicht übersehen, dass sich die Beschwerde führende Partei mit den Zielen der Personengruppe im Festsaal identifizierte und dafür aktiv werden wollte. Wesentlich erscheint jedoch demgegenüber, dass die Beschwerde Führende an der zuvor stattgefundenen Versammlung vor dem Gebäude nicht teilnahm und auch im Zeitpunkt des Eindringens der Personengruppe in den Festsaal noch nicht dabei war. Die Beschwerde führende Partei war sohin nicht Teilnehmerin an der anfänglichen Versammlung und späteren Besetzung im bzw des Festsaal/s. Die Zusammenkunft der Personen, welche sich vor dem Festsaal aufhielten und zu denen die Beschwerde Führende gehörte, ist mangels jeglicher Manifestation, Diskussion o.ä. keinesfalls als Versammlung iSd VersammlungsG anzusehen.

2) [D]as VwG [äußert zudem] das Bedenken, dass kein Anhaltspunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Besitzers darstelle, existiere.

Dem ist entgegenzuhalten, dass unter schwerwiegenden Eingriffen iSd §37 SPG dieser Bestimmung nach dem Ausschussbericht zu BGBI. Nr 566/1991, solche zu verstehen sind, die durch Selbsthilfe nicht abzuwehren sind. Ein solcher Fall liegt hier vor. Wesentlich ist hiebei, dass das Eindringen der Personen in den Festsaal unter Anwendung körperlicher Gewalt erfolgte, wodurch ein Sicherheitsmitarbeiter der Universität eine Verletzung davontrug […]. Der Versuch der Verfügungsberechtigten, die Besetzung durch Übung von Selbsthilfe zu verhindern, war daher erfolglos.

Damit ist auch das Argument des VwG, 'das anfängliche Zusammenkommen fand gleichwohl zunächst noch Duldung', widerlegt. Wenn der Besitzer dem Eindringen von Besetzern durch beauftragte Personen (eines Sicherheitsdienstes) physisch entgegentritt und es dabei sogar zu einer Körperverletzung kommt, kann von einer Duldung des Zusammenkommens gerade keine Rede sein."

4. Der Bundesminister für Inneres hat keine Äußerung erstattet.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist unter einer Verordnung eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene, generelle – dh an einen durch Gattungsmerkmale bezeichneten Personenkreis adressierte – Rechtsvorschrift zu verstehen (vgl etwa VfSlg 2071/1950, 10.882/1986). Für die normative Wirkung eines Verwaltungsaktes ist ausschließlich sein Inhalt, nicht aber die äußere Bezeichnung oder die Art der Verlautbarung entscheidend. Wird durch eine generelle, von einer Verwaltungsbehörde erlassene Rechtsvorschrift die Rechtslage der Betroffenen gestaltet und wendet sich diese ihrem Inhalt nach an die Allgemeinheit, liegt eine Verordnung vor (zB VfSlg 17.869/2006).

Der Verfassungsgerichtshof vertritt zu Art89 Abs1 B‑VG beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt. Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B‑VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich (vgl zB VfSlg 20.251/2018).

1.2. Jedenfalls der im Gebäude der TU Wien am 10. Dezember 2019 von 21.38 Uhr bis 21.39 Uhr und von 21.43 Uhr bis 21.44 Uhr im Festsaal und am Gang verlesene – an die Adressaten der Anordnung gerichtete und verständliche – Text ist eine Verordnung. Dieser im Festsaal und am Gang verlesene Text wurde, wie in §37 SPG angeordnet, gemäß §36 Abs4 SPG in geeigneter Weise kundgemacht. Die erst nach Kundmachung des verlesenen Textes fertiggestellte schriftliche Fassung der Verordnung hingegen wurde zu keinem Zeitpunkt – weder durch Anschlag im Universitätsgebäude noch auf irgendeine andere geeignete Art und Weise (vgl zB VfSlg 14.154/1995) – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sodass es hier (auch nach neuerer Auffassung des Verfassungsgerichtshofes, s.o.) an einer Kundmachung fehlt.

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Da in der auf §37 SPG gestützten (verlesenen) Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019 das Verlassen des gesamten Gebäudes und dessen allenfalls notwendige Räumung angeordnet wurde, geht das Verwaltungsgericht Wien jedenfalls denkmöglich davon aus, dass die Verordnung auch im Hinblick auf die Beschwerdeführerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die vor der Tür des Festsaals gesessen war, anzuwenden ist. Die Verordnung ist präjudiziell.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag vor dem Hintergrund der Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien als zulässig, weshalb auf die Eventualanträge nicht weiter einzugehen ist.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

2.3. Vorauszuschicken ist, dass §37 SPG in seiner noch heute geltenden Fassung im Zuge der Beratungen des Sicherheitspolizeigesetzes im Ausschuss für Innere Angelegenheiten in dieses eingefügt wurde; begründend wird zu dem diesbezüglichen Antrag Folgendes ausgeführt (AB 240 BlgNR 18. GP , 4):

"Zu Z18 (§37):

Von der Sicherheitsexekutive wird ein Einschreiten auch dann erwartet, wenn die unrechtmäßige Besetzung eines Hauses/Raumes oder eines Grundstückes durch mehrere Personen nicht mit einer strafbaren Handlung ‑ etwa einer Sachbeschädigung oder einem Hausfriedensbruch ‑ verbunden ist und deshalb ein Vorgehen nach §37 Abs2 und 4 der Regierungsvorlage nicht in Betracht kommt. Ein Einschreiten nach den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 scheidet jedoch nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes mangels Erfüllung des Versammlungsbegriffes dann aus, wenn die Zusammenkunft mehrerer zwar in gemeinsamer Absicht erfolgt, jedoch nicht den gemeinsamen Zweck der Erörterung oder der Kundgabe von Meinungen verfolgt (Erkenntnis vom 12. März 1988, Zl B926/87). Der Abänderungsantrag hält in solchen Fällen eine Ergänzung der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 dann für erforderlich, wenn die Besetzung entweder eine erhebliche Störung der öffentlichen Ordnung oder einen schwerwiegenden (d.h. durch Selbsthilfe nicht abzuwehrenden) Eingriff in die Rechte des nach den zivilrechtlichen Bestimmungen Verfügungsberechtigten bedeutet. In diesem Fall, der in die Nähe einer zivilrechtlichen Besitzstörung rückt, soll ein Einschreiten ‑ über das Fehlen der Duldung des Verfügungsberechtigten hinaus ‑ nur auf dessen Verlangen erfolgen.

Eine Besetzung im Sinne dieser Bestimmung liegt nur bei einer Zusammenkunft mehrerer Menschen 'in gemeinsamer Absicht' vor. es muß sich mithin um eine verabredete, nicht bloß zufällige Zusammenkunft handeln. Der Fall, daß in einem leerstehenden Gebäude nach und nach Personen Unterstand suchen, wird von dieser Bestimmung demnach nicht erfaßt.

[…]"

Demnach sucht §37 SPG für die Sicherheitsbehörden eine rechtliche Grundlage für das Einschreiten in Konstellationen zu schaffen, in denen die Auflösung einer Besetzung ‑ mag eine solche prima vista auch wie eine Versammlung wirken bzw einige Elemente einer solchen erfüllen ‑ vom Besitzer der besetzten Räumlichkeiten verlangt wird und die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in dessen Rechte darstellt.

Ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte des Besitzers kann jedenfalls dann angenommen werden, wenn die Besetzung nicht mehr durch "Selbsthilfe" abgewehrt werden kann (vgl erneut AB 240 BlgNR 18. GP , 4).

2.4. Ungeachtet der im Abänderungsantrag als "Ergänzung der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes" bezeichneten Intention geht der Gesetzeswortlaut des §37 SPG deutlich davon aus, dass dieser nur zur Anwendung kommt, wenn die "Ansammlung" den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 nicht unterliegt. Mit Blick darauf hegt das Verwaltungsgericht Wien zusammengefasst das Bedenken, dass im vorliegenden Fall der Auflösung der Zusammenkunft im Festsaal der TU Wien keine auf §37 SPG gestützte Verordnung hätte erlassen werden dürfen. Dies deshalb, da die im und vor dem Festsaal der TU Wien verharrenden Personen eine spontane Ansammlung von Menschen, die den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterlag, kurz gesagt eine Versammlung, gebildet hätten.

Die verordnungserlassende Behörde bringt dagegen vor, dass die Zusammenkunft der Personen im Festsaal (und nicht außerhalb des Festsaals) lediglich zu Beginn als Versammlung zu werten gewesen sei (Parolen, Transparent, Diskussion), sich jedoch mit der Fortdauer des Geschehens der Charakter der Zusammenkunft änderte. Nach Einschätzung der Behörde war "das Besetzthalten des Festsaals auf unbestimmte Dauer das am Ende verbliebene Motiv der Zusammengekommenen", weshalb von einer Besetzung gemäß §37 SPG auszugehen gewesen sei.

2.5. Diese Auffassung teilt der Verfassungsgerichtshof nicht:

Wie bereits oben dargestellt, müssen mehrere Voraussetzungen gemäß der in §37 SPG enthaltenen Ermächtigung erfüllt sein, um eine Verordnung gesetzmäßig zu erlassen. Eine davon ist auch, dass keine Versammlung vorliegen darf (VfSlg 20.275/2018).

Das Versammlungsgesetz 1953 definiert den Begriff der von ihm erfassten "Versammlung" nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine Zusammenkunft mehrerer Menschen dann eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes 1953, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht (vgl etwa VfSlg 15.109/1998 und die dort nachgewiesene Rechtsprechung). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt nicht zuletzt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl etwa VfSlg 11.935/1988). Im Hinblick auf die in der Judikatur entwickelten Maßstäbe und Grundsätze (vgl insbesondere zur Voraussetzung eines gemeinsamen Wirkens: VfSlg 8685/1979, 15.680/1999, 18.483/2008, 18.560/2008 mwN sowie zur Dauer der Veranstaltung und der Zahl ihrer Teilnehmer: VfSlg 11.866/1988), ist davon auszugehen, dass auch Spontanversammlungen und ad hoc entstehende Demonstrationen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen können (VfSlg 14.366/1995).

Vor diesem Hintergrund und unter Zugrundelegung des vom Verwaltungsgericht Wien durchgeführten Beweisverfahrens gelangt der Verfassungsgerichtshof zur Ansicht, dass die Zusammenkunft im Festsaal der TU Wien auf Grund ihrer Zielsetzung (auf schwierige Studienbedingungen aufmerksam zu machen und Verbesserungen für die Studierenden zu erwirken) und Aktionen (Hissen von Transparenten, Skandieren von Parolen, Abhalten von Debatten im Plenum) eine Versammlung war.

Der Verfassungsgerichtshof hat in bestimmten Konstellationen zwar ausgesprochen, dass der Einsatz von Kommunikationsmitteln wie etwa das Aufstellen eines Informationsstandes das erforderliche Entstehen einer Assoziation der Zusammengekommenen (s.o.) für sich genommen noch nicht belegt (VfSlg 10.608/1985 und 11.651/1988), oder unter Bedachtnahme auf den konkreten Sachverhalt den Charakter als Versammlung verneint (vgl VfSlg 11.935/1988, "ungestörtes Schlafen in der Kärntnertorpassage"; VfSlg 12.161/1989).

Im Regelfall ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes einer Zusammenkunft mehrerer Personen aber nicht der Versammlungscharakter abzusprechen, und zwar auch dann nicht, wenn mit der Zusammenkunft auch eine (womöglich sogar beabsichtigte) Blockadewirkung unter Ausnutzung der räumlichen Gegebenheiten verbunden ist (vgl bereits VfSlg 8685/1979, weiters VfSlg 12.257/1990 sowie 14.761/1997, jüngst VfSlg 20.275/2018).

Gerade die Weigerung, einen an sich (vorerst) zugänglichen Veranstaltungssaal einer Universität freiwillig zu verlassen, kann eine spezifische Ausdrucksform bzw ein Unterstreichen des der Versammlung inhärenten gemeinsamen Wirkens und des Themas einer Versammlung sein.

Der Verfassungsgerichtshof vermag deshalb der Auffassung der verordnungserlassenden Behörde, es habe sich im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Verordnung der Charakter der Zusammenkunft im Festsaal der TU Wien gewandelt, nicht zu folgen. Weder hatte sich nämlich das Anliegen der verharrenden Personen geändert noch das gemeinsame Wirken. Auch die gestellten Forderungen belegen, dass die Weiterführung der angestoßenen Debatte (nunmehr auch mit Regierungsvertretern) beabsichtigt war, deren sofortiges Erscheinen die Versammelten so zu erwirken suchten.

2.6. Da im Ergebnis die Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien hinsichtlich des Vorliegens einer Versammlung zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung zutreffen, ist bereits aus diesem Grund auszusprechen, dass die auf §37 SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019 gesetzwidrig war (vgl VfSlg 20.275/2018). Die Vorgangsweise der Landespolizeidirektion Wien kann auch nicht als Auflösung einer Versammlung gemäß §13 Versammlungsgesetz 1953 gedeutet werden, da die diesbezüglichen Voraussetzungen sich von jenen des §37 SPG unterscheiden.

2.7. Auf das weitere Bedenken, dass es sich bei der Besetzung nicht um einen schwerwiegenden Eingriff gehandelt habe, ist daher nicht weiter einzugehen.

V. Ergebnis

1. Die auf §37 SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10. Dezember 2019, kundgemacht durch Verlesen im Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.38 Uhr bis 21.39 Uhr und am Gang beim Festsaal der Technischen Universität Wien von 21.43 Uhr bis 21.44 Uhr, ist gemäß §36 Abs4 SPG iVm §37 Abs1 letzter Satz SPG sechs Stunden nach ihrer Erlassung außer Kraft getreten. Der Verfassungsgerichtshof hat sich daher gemäß Art139 Abs4 B‑VG auf die Feststellung zu beschränken, dass diese Verordnung gesetzwidrig war.

2. Die Verpflichtung des Bundesministers für Inneres zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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