BFG RV/7101946/2019

BFGRV/7101946/201916.4.2019

Neu entstandene Tatsachen und rechtliche Würdigungen sind keine geeigneten Wiederaufnahmsgründe

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BFG:2019:RV.7101946.2019

 

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R in der Beschwerdesache Bf (Beschwerdeführer, Bf.), AdrBf, über die Beschwerde (ursprünglich: Berufung) des Bf. vom 16. September 2010 gegen die Bescheide des Finanzamtes Wien (belangte Behörde) vom 31. August 2010 betreffend Einkommensteuer 2006, St.Nr. StNr

I.) zu Recht erkannt:
Soweit die Beschwerde vom 16. September 2010 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 31. August 2010, mit welchem das Einkommensteuerverfahren für das Jahr 2006 wiederaufgenommen wurde, gerichtet ist, wird der Beschwerde gemäß § 279 BAO Folge gegeben. Der Bescheid vom 31. August 2010, mit welchem das Einkommensteuerverfahren für das Jahr 2006 wiederaufgenommen wurde, wird ersatzlos aufgehoben.

II.) beschlossen:
Soweit die Beschwerde vom 16. September 2010 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 31. August 2010, mit welchem die Einkommensteuer für das Jahr 2006 (neu) festgesetzt wurde, gerichtet ist, wird die Beschwerde gemäß § 260 Abs. 1 lit. a BAO als unzulässig (geworden) zurückgewiesen.

III.) Gegen diese Entscheidungen ist eine (ordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 ivm Abs. 9 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Die Einkommensteuer des Beschwerdeführers (Bf.) für das Jahr 2006 wurde zuerst durch Einkommensteuerbescheid 2006 vom 6. Juli 2007 mit 182,00 € festgesetzt.

Sodann erließ das Finanzamt Wien (belangte Behörde) folgende, mit 5. Juni 2009 datierte Bescheide an den Bf., welche in Rechtskraft erwuchsen:

Schließlich erließ die belangte Behörde folgende, mit 31. August 2010 datierte Bescheide an den Bf.:

Der Bf. erhob mit Schreiben vom 16. September 2010 Berufung, welche sich einerseits („Wiederaufnahmebescheid“) gegen den zuvor erstangeführten Bescheid vom 31. August 2010 über die Verfügung der Wiederaufnahme des Einkommensteuerverfahrens für 2006 gemäß § 303 Abs. 4 BAO und andererseits („… beantrage daher die Berücksichtigung der steuerfreien Einkommensgrenze von 730,- EUR für das nebenberufliche Einkommen“) gegen den zuvor zweitangeführten Einkommensteuer(sach)bescheid 2006 richtet.

Das Finanzamt erließ eine abweisende, mit 27. September 2010 datierte Berufungsvorentscheidung mit der Begründung: „Bei einer Lohnsteuerprüfung der yGmbH wurden Ihre Einnahmen als Einkünfte aus Nichtselbständiger Arbeit im Sinne des Einkommensteuergesetzes festgestellt. Die Abgabebehörde ist an diese Feststellungen gebunden. Ihrem Antrag ist daher nicht stattzugeben.“

Dagegen erhob der Bf. am 15. Oktober 2010 ein – als Vorlageantrag aufzufassendes – Rechtsmittel mit dem zusätzlichen Vorbringen der Erzielung der 312,00 € Einkünfte aus selbständiger Arbeit als freiberuflicher, selbständiger Beruf.

Die belangte Behörde setzte die Entscheidung über die gegenständliche Berufung gemäß § 281 Abs. 1 BAO (alte Fassung, aF) mit Bescheid vom 8. November 2012 zu dem beim damaligen Unabhängigen Finanzsenat (UFS) anhängigen Verfahren GZ. z aus. Für dieses Verfahren wurde am 1. Jänner 2014 das Bundesfinanzgericht (BFG) zuständig, welches darüber am 7. April 2015 entschied. Wie sich noch zeigen wird (ungenügend begründete Wiederaufnahme im Falle des Bf.) ist die Richtung der Entscheidung des BFG vom 7. April 2015 für das Verfahren des Bf. unerheblich; von Bedeutung ist nur der Zeitpunkt der Entscheidung, weil damit nunmehr die Entscheidungssperre aufgrund der Aussetzung der Entscheidung weggefallen ist.

Die belangte Behörde legte die Beschwerde (ursprünglich: Berufung) des Bf. vom 16. September 2010 mit einem Vorlagebericht vom 8. April 2019 an das BFG vor, worin sowohl der Einkommensteuer(sach)bescheid 2006 als auch der Wiederaufnahmebescheid gemäß § 303 BAO als angefochtene Bescheide angeführt waren. Die belangte Behörde habe vom Abschluss des Verfahrens, zu welchem die Entscheidung über das Rechtsmittel des Bf. ausgesetzt worden war, erst im März 2019 erfahren.

Erwägungen:

Mit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeitsreform zum 1. Jänner 2014 hat das BFG im Wesentlichen die früheren Aufgaben des UFS übernommen. Am 1. Jänner 2014 unerledigte Berufungen sind gemäß § 323 Abs. 37 BAO nunmehr als Beschwerden zu erledigen.

Die Berufung bzw. nunmehr Beschwerde des Bf. erfüllt die Anforderungen des § 250 Abs. 1 lit. b bis d BAO auch hinsichtlich der Anfechtung des Wiederaufnahmebescheides: § 250 Abs. 1 lit. b und lit. c BAO sind bei der Anfechtung eines Wiederaufnahmebescheides inhaltsleer, weil die Beschwerde gegen einen solchen nur auf dessen Aufhebung gerichtet sein kann (vgl. Ritz, BAO6, § 250 Tz 10 mit Verweis auf VwGH). Das Vorbringen des Bf., wonach seine von der Y GmbH stammenden Einkünfte als Einkünfte aus selbständiger Arbeit zu qualifizieren seien mit dem Ergebnis, dass die gegenständlichen 312,00 € durch den Veranlagungsfreibetrag (§ 41 Abs. 3 EStG) neutralisiert würden, stellt auch eine Begründung gegen die Wiederaufnahme dar, indem nämlich die Eignung, einen anders lautenden Bescheid herbeizuführen (vgl. Ritz, BAO6, § 303 Tz 43 f.), bestritten wird.

Aufgrund der umfassenden Kognitionsbefugnis des BFG insb. im Verfahren nach der BAO ist der angefochtene Bescheid vom 31. August 2010, mit welchem die belangte Behörde die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügte, vom BFG von Amts wegen auch hinsichtlich der hier fehlenden Bezeichnung eines tauglichen Wiederaufnahmsgrundes zu untersuchen.

Soweit es sich – wie hier – um die amtswegige Verfügung der Wiederaufnahme handelt, hat sich die Rechtslage (gemäß § 303 Abs. 4 BAO aF) durch die per 1.1.2014 wirksam gewordene Novellierung des § 303 BAO aufgrund des Finanzverwaltungsgerichtsbarkeitsgesetzes nicht geändert. § 303 Abs. 1 BAO idF BGBl. I 14/2013, d.h. in der neuen Fassung (nF) lautet wie folgt:

„(1) Ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren kann auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn
a) der Bescheid durch eine gerichtlich strafbare Tat herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist, oder
b) Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorgekommen sind, oder
c) der Bescheid von Vorfragen (§ 116) abhängig war und nachträglich über die Vorfrage von der Verwaltungsbehörde bzw. dem Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden worden ist,
und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.“

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur erkennt, besteht die Aufgabe der Berufungsbehörde (nunmehr des Verwaltungsgerichtes) bei Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen die amtswegige Wiederaufnahme durch das Finanzamt darin, zu prüfen, ob dieses das Verfahren aus den von ihm gebrauchten Gründen wiederaufnehmen durfte, nicht jedoch, ob die Wiederaufnahme auch aus anderen Wiederaufnahmsgründen zulässig gewesen wäre (vgl. zB VwGH 2.2.2000, 97/13/0199 mwN). Das Bundesfinanzgericht (BFG) als Verwaltungsgericht des Bundes für Finanzen gemäß Art. 129 B-VG kann zwar gemäß § 279 Abs. 1 BAO nF in der Sache auch durch Abänderung des angefochtenen Bescheides nach jeder Richtung entscheiden; die Abänderung müsste aber jedenfalls innerhalb der „Sache“ bleiben; die Heranziehung eines zusätzlichen Wiederaufnahmsgrundes durch das BFG wäre eine Überschreitung der Begrenzung durch die „Sache“.

Um die Prüfung der vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmsgründe vornehmen zu können, muss erkennbar sein, aus welchen Gründen das Finanzamt die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügte. Dabei genügt es, wenn der vom Finanzamt herangezogene Wiederaufnahmsgrund aus dem Zusammenhang des Wiederaufnahmebescheides und des gleichzeitig zu erlassenden neuen Sachbescheides ersichtlich ist (vgl. VwGH 24.9.2007, 2005/15/0041).

Aus der Zusammenschau der Begründungen der Bescheide vom 31. August 2010 sind als herangezogene Wiederaufnahmsgründe (maximal) folgende zwei erkennbar:

Der hier erstgenannte Wiederaufnahmsgrund bezieht sich erkennbar auf den Neuerungstatbestand, d.h. wenn Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen.

Eine Tatsache (bzw. Beweismittel) ist „neu hervorgekommen“ (nova reperta), wenn sie schon vor Erlassung des das wieder aufzunehmende Verfahren zuletzt abschließenden Bescheides (hier: vom 5. Juni 2009) bestanden hat, aber erst nach diesem Zeitpunkt bekannt wird. Erst nach Erlassung des das wieder aufzunehmende Verfahren zuletzt abschließenden Bescheides entstandene Tatsachen (nova producta) sind keine Wiederaufnahmsgründe. (Ellinger et al., § 303 BAO, Anm. 14, E 61 mit Verweis auf zahlreiche VwGH-Entscheidungen).

Die Wendung „im abgeschlossenen Verfahren“ in § 303 Abs. 1 lit. b BAO idF BGBl. I 14/2013 beruht erkennbar auf einem Redaktionsversehen. Zweck des Neuerungstatbestandes ist die Berücksichtigung von bisher unbekannten, aber entscheidungswesentlichen Sachverhaltselementen. Gemeint sind Tatsachen, die zwar im Zeitpunkt der Bescheiderlassung „im abgeschlossenen Verfahren“ bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen sind. (Ellinger et al., § 303 BAO, Anm. 14 mit Verweis auf VwGH 19.10.2016, Ra 2014/15/0058 und VwGH 26.11.2015, Ro 2014/15/0035)

Die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes ist keine Tatsache iSd § 303 Abs. 1 lit. b BAO nF (bzw. iSd § 303 Abs. 4 BAO aF) und somit als Wiederaufnahmsgrund für den Neuerungstatbestand jedenfalls ungeeignet (vgl. Ellinger et al., § 303 BAO E 66 mit Verweis auf zahlreiche VwGH-Entscheidungen). Die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes (aller relevanter Tatsachen, Sachverhaltselemente) kann nur hinsichtlich der zusätzlichen Wiederaufnahms-Voraussetzung der Entscheidungswesentlichkeit (Eignung, einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeizuführen) Relevanz haben.

Der gegenständliche, von der Lohnsteuerprüfung (GPLA) stammende Lohnzettel ist laut elektronischer Aktenlage am 28. August 2010 in die Lohnzettel-Datenbank aufgenommen worden. Der Lohnzettel ist der belangten Behörde im Verfahren des Bf. nach dem hier maßgebenden 5. Juni 2009 (vorheriger Einkommensteuerbescheid 2006) bekannt geworden. Allerdings ist der Lohnzettel – egal ob man ihn als Tatsache oder als Beweismittel ansieht – erst nach dem hier maßgebenden 5. Juni 2009 neu entstanden (nova producta) . Er ist also nicht neu hervorgekommen und als Wiederaufnahmsgrund ungeeignet.

Der hier zweitgenannte Wiederaufnahmsgrund dürfte sich auch auf den Neuerungstatbestand beziehen. Dieser vermeintliche Wiederaufnahmsgrund ist aber keine Tatsache iSd § 303 BAO, sondern das Ergebnis einer rechtlichen Würdigung, nämlich:

Konkrete Tatsachen (Sachverhaltselemente), deren rechtliche Würdigung zu den vorgenannten Einstufungen geführt haben, werden in den Begründungen der Bescheide vom 31. August 2010 nicht genannt. Somit wird in den Bescheiden vom 31. August 2010 kein einziger tauglicher Wiederaufnahmsgrund genannt

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. nochmals VwGH 2.2.2000, 97/13/0199 mwN) ist die Abgabenbehörde zweiter Instanz (nunmehr das Verwaltungsgericht) nicht berechtigt, den vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmsgrund durch einen anderen, zutreffenderen zu ersetzen. Liegt der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmsgrund nicht vor oder hat dieses die Wiederaufnahme tatsächlich auf keinen Wiederaufnahmsgrund gestützt, muss die Berufungsbehörde (nunmehr das Verwaltungsgericht) den vor ihr angefochtenen Wiederaufnahmebescheid des Finanzamtes ersatzlos beheben (vgl. VwGH 10.3.2016, 2013/15/0280).

Dies geschieht mit Spruchpunkt I. der vorliegenden Entscheidung des BFG.

Durch die Aufhebung des Wiederaufnahmebescheides vom 31. August 2010 tritt nach § 307 Abs. 3 BAO das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor seiner Wiederaufnahme befunden hat. Unter „Verfahren“ ist laut VwGH 4.3.2009, 2008/15/0327 (= E 93 zu § 307 BAO bei Ellinger et al.) das „Besteuerungsverfahren“ zu verstehen, hier also die Einkommensteuerverfahren für das Jahr 2006. Laut VwGH 28.2.2012, 2009/15/0170 (= E 94 zu § 307 BAO bei Ellinger et al.) tritt durch die Aufhebung des Wiederaufnahmsbescheides der neue Sachbescheid (hier: Einkommensteuerbescheid 2006 vom 31. August 2010) ex lege aus dem Rechtsbestand und der alte Sachbescheid (hier: Einkommensteuerbescheid 2006 vom 5. Juni 2009) erlangt wieder Rechtswirksamkeit.

Soweit die Beschwerde gegen den außer Kraft getretenen Einkommensteuerbescheid 2006 vom 31. August 2010 gerichtet ist, richtet sie sich gegen ein rechtlich nicht mehr existierendes Anfechtungsobjekt und ist gemäß § 260 Abs. 1 lit. a BAO beschlussmäßig zurückzuweisen (Spruchpunkt II.). Auf inhaltliche Streitpunkte hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 2006 kann mangels meritorischer Entscheidung nicht eingegangen werden.

Zur (Un)Zulässigkeit einer Revision

Gegen Entscheidungen des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Hier handelt es sich um keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, weil das Bundesfinanzgericht in rechtlicher Hinsicht der in der Begründung dieser Entscheidung dargestellten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes folgt. Das Erkennen der gegenständlichen Aktenlage und die Interpretation der angefochtenen Bescheide stellen hier - bezogen auf die Wiederaufnahme - keine Rechtsfragen, sondern Tatfragen dar, die nicht revisibel sind.
Die Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 iVm Abs. 9 B-VG sind daher nicht erfüllt und die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

 

 

Wien, am 16. April 2019

 

Zusatzinformationen

Materie:

Steuer

betroffene Normen:

§ 303 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 307 Abs. 3 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 25 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 47 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988

Verweise:

VwGH 02.02.2000, 97/13/0199
VwGH 24.09.2007, 2005/15/0041
VwGH 19.10.2016, Ra 2014/15/0058
VwGH 26.11.2015, Ro 2014/15/0035
VwGH 10.03.2016, 2013/15/0280
VwGH 04.03.2009, 2008/15/0327
VwGH 28.02.2012, 2009/15/0170

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