EGMR Bsw43835/11

EGMRBsw43835/111.7.2014

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache S.A.S. gg. Frankreich, Urteil vom 1.7.2014, Bsw. 43835/11.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK - Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK und Art. 10 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK oder Art. 9 EMRK (15:2 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK oder Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK alleine oder iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die 1990 geborene Bf. ist Staatsangehörige Frankreichs. Sie bezeichnet sich selbst als tiefgläubige Muslima und trägt ihrem Glauben, ihrer Kultur und ihren persönlichen Überzeugungen entsprechend die Burka und den Niqab. Nach ihrer Erklärung handelt es sich bei der Burka um eine Verhüllung des gesamten Körpers einschließlich eines Netzes vor dem Gesicht und beim Niqab um einen Gesichtsschleier, der nur eine Öffnung für die Augen hat. Die Bf. betont, dass weder ihr Ehemann noch ein anderes Mitglied ihrer Familie sie dazu dränge, sich so zu kleiden.

Sie fügt hinzu, den Niqab sowohl in der Öffentlichkeit als auch im privaten Bereich zu tragen, allerdings nicht systematisch. So trage sie ihn etwa nicht, wenn sie einen Arzt besuche, Freunde an einem öffentlichen Ort treffe oder wenn sie Kontakte knüpfen wolle. Sie sei daher damit einverstanden, an öffentlichen Orten nicht immer den Niqab zu tragen. Sie wolle ihn aber tragen können, wenn sie sich selbst dazu entscheide. Es gäbe bestimmte Zeiten (beispielsweise während religiöser Ereignisse wie dem Ramadan), wenn sie glaube, ihn in der Öffentlichkeit tragen zu müssen, um ihren Glauben auszudrücken. Ihr Ziel sei nicht, andere zu stören, sondern einen inneren Frieden mit sich selbst zu empfinden.

Sie behauptet nicht, dass sie den Niqab bei Sicherheitskontrollen, auf Flughäfen oder in Banken anbehalten lassen können sollte und sie stimmt zu, ihr Gesicht zu zeigen, wenn sie dazu für notwendige Identitätskontrollen aufgefordert wird.

Seit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 2010-1192 vom 11.10.2010 am 11.4.2011 ist es in Frankreich generell verboten, an öffentlichen Orten das Gesicht zu verhüllen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet, das an öffentlichen Orten geltende Verbot des Tragens von Kleidung, mit der das Gesicht verdeckt wird, begründe eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der erniedrigenden Behandlung), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 11 EMRK (hier: Vereinigungsfreiheit) jeweils alleine und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zu den prozessualen Einreden der Regierung

Opfereigenschaft der Bf.

(53) Die Regierung stellte den Status der Bf. als »Opfer« in Frage. Sie habe nicht nachgewiesen, dass sie Muslima sei und den Gesichtsschleier aus religiösen Gründen tragen wolle und behaupte nicht einmal, wegen des Tragens des Gesichtsschleiers von der Polizei aufgehalten worden zu sein [...]. Nach Ansicht der Regierung handelt es sich bei der Beschwerde um eine actio popularis. [...]

(55) Diese Einrede betrifft vor allem den Status der Bf. als Opfer unter Art. 9 EMRK. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bezieht sich nur auf solche Ansichten, die ein gewisses Maß an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Verbindlichkeit und Bedeutung aufweisen. Wenn dem entsprochen wird, ist die staatliche Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit aber unvereinbar mit jeder Befugnis seitens des Staates, die Legitimität religiöser Ansichten oder der Art und Weise, wie diese zum Ausdruck gebracht werden, zu beurteilen. [...] Bf., die behaupten, dass eine Handlung in ihre Freiheit der Religionsausübung fällt, müssen nicht nachweisen, dass sie in Erfüllung einer ihnen durch die jeweilige Religion auferlegten Verpflichtung handelten.

(56) Es kann von der Bf. daher nicht verlangt werden zu beweisen, dass sie eine praktizierende Muslima ist oder dass sie ihr Glaube dazu verpflichtet, einen Gesichtsschleier zu tragen. Ihre Angaben sind ausreichend, da kein Zweifel daran besteht, dass dies für bestimmte muslimische Frauen eine Form der praktischen Befolgung ihrer Religion ist und als »Praktizieren« iSv. Art. 9 Abs. 1 EMRK angesehen werden kann. Die Tatsache, dass es sich um die Praxis einer Minderheit handelt, hat keine Auswirkung auf ihre rechtliche Beurteilung.

(57) Die Bf. behauptet nicht, wegen des Tragens des Gesichtsschleiers verurteilt oder auch nur von der Polizei angehalten und kontrolliert worden zu sein. Eine Person kann allerdings vorbringen, von einem Gesetz auch ohne eine spezifische Umsetzungsmaßnahme in ihren Rechten verletzt zu werden und damit behaupten, ein »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK zu sein, wenn sie entweder ihr Verhalten ändern muss oder riskiert, strafrechtlich verfolgt zu werden, oder wenn sie Mitglied einer Gruppe ist, die riskiert, direkt von diesem Gesetz betroffen zu sein. Dies ist bei dem Gesetz vom 11.10.2010 für Frauen der Fall, die wie die Bf. in Frankreich leben und aus religiösen Gründen den Gesichtsschleier tragen wollen. Sie sind daher mit einem Dilemma konfrontiert, das mit jenem vergleichbar ist, das der GH in Dudgeon/GB und Norris/IRL identifiziert hat: Entweder sie befolgen das Verbot und verzichten darauf, sich ihrer Haltung zur Religion entsprechend zu kleiden, oder sie verweigern die Befolgung und werden strafrechtlich verfolgt.

(58) Die Einrede der Regierung muss daher zurückgewiesen werden (einstimmig).

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel

(61) [...] Die Frage der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel ist im Kontext des französischen Rechtssystems insofern ohne Bedeutung, als der GH feststellte, dass die Bf. auch ohne individuelle Maßnahme den Opferstatus beanspruchen kann. [...] Außerdem stellte der Conseil constitutionnel am 7.10.2010 fest, dass das Gesetz mit der Religionsfreiheit vereinbar sei. Die Strafrechtskammer des Cour de cassation [...] wies eine Beschwerde unter Art. 9 EMRK ab. [...] Wie dieses Urteil zeigt, wäre eine Nichtigkeitsbeschwerde der Bf. im Fall ihrer Verurteilung abgewiesen worden. Der GH muss daher diese Einrede zurückweisen (einstimmig).

Missbrauch des Beschwerderechts

(62) Die Regierung kritisierte eine unangemessene Ausübung des Individualbeschwerderechts. [...]

(65) Nach Ansicht des GH sollte dieses Vorbringen der Regierung nach Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK geprüft werden, der es dem GH erlaubt, eine Beschwerde für unzulässig zu erklären, wenn er sie als einen Missbrauch des Individualbeschwerderechts erachtet.

(68) [...] Es gibt keine Hinweise, die dem GH den Schluss nahelegen würden, dass die Bf. durch ihr Verhalten versucht hätte, das angemessene Funktionieren des GH oder die reibungslose Abwicklung der Verfahren vor ihm zu behindern. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Unzulässigkeit einer Beschwerde wegen eines Missbrauchs des Beschwerderechts die Ausnahme bleiben muss, weist der GH die Einrede der Regierung zurück (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(69) Die Bf. bringt vor, sie würde sich durch das gesetzlich verbotene Tragen des Gesichtsschleiers an öffentlichen Orten nicht nur der Gefahr von Sanktionen aussetzen, sondern auch von Belästigung und Diskriminierung. [...]

(70) Der GH stellt fest, dass das für die Anwendung von Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im vorliegenden Fall nicht erreicht ist. Die Beschwerde unter diesem Artikel ist daher offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da die umstrittenen Umstände somit nicht in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fallen, kann Art. 14 EMRK nicht in Verbindung mit dieser Bestimmung geltend gemacht werden.

(71) Dieser Teil der Beschwerde ist somit unzulässig und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 alleine und iVm. Art. 14 EMRK

(73) Die Bf. ließ nicht erkennen, wie das durch das Gesetz vom 11.10.2010 eingeführte Verbot ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzen oder sie bei dessen Ausübung diskriminieren würde. Dieser Teil der Beschwerde ist unsubstantiiert und daher offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und unzulässig. Er muss daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8, Art. 9 und Art. 10 alleine und iVm. Art. 14 EMRK

(74) Die Bf. rügt aus denselben Gründen eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens, der Religionsfreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit sowie eine Diskriminierung im Zusammenhang mit diesen Rechten. [...]

Zulässigkeit

(75) Diese Beschwerdepunkte sind nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 und 9 EMRK

(106) Das Verbot des Tragens von Kleidung, die das Gesicht verhüllt, an öffentlichen Orten wirft Fragen hinsichtlich des Rechts auf Achtung des Privatlebens von Frauen auf, die aus Gründen ihres Glaubens den Gesichtsschleier tragen wollen, und hinsichtlich ihres Rechts, diesen Glauben auszuüben.

(107) Persönliche Entscheidungen über die gewünschte Erscheinung einer Person, sei es an öffentlichen oder privaten Orten, betreffen den Ausdruck ihrer Persönlichkeit und fallen daher unter den Begriff des Privatlebens. Der GH hat dies in Bezug auf einen Haarschnitt festgestellt. Dies trifft auch auf die Wahl der Kleidung zu. Eine von einer staatlichen Autorität ausgehende Maßnahme, die eine Entscheidung dieser Art einschränkt, begründet daher grundsätzlich einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK. Das im Gesetz vom 11.10.2010 enthaltene Verbot, an öffentlichen Orten Kleidung zu tragen, die dazu gedacht ist, das Gesicht zu verhüllen, fällt daher unter Art. 8 EMRK.

(108) Soweit das Verbot von Personen kritisiert wird, die sich wie die Bf. darüber beschweren, dass sie daran gehindert werden, an öffentlichen Orten Kleidung zu tragen, die ihnen die Ausübung ihrer Religion vorschreibt, wird vor allem eine Angelegenheit hinsichtlich der Freiheit der Religionsausübung aufgeworfen. Die Tatsache, dass es sich um die Praxis einer Minderheit handelt und sie umstritten zu sein scheint, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

(109) Der GH wird daher diesen Teil der Beschwerde sowohl unter Art. 8 als auch unter Art. 9 EMRK prüfen, aber mit Betonung auf der zweiten Bestimmung.

Zum Vorliegen einer »Einschränkung« oder eines »Eingriffs«

(110) Wie der GH bereits festgestellt hat, stellt das Gesetz vom 11.10.2010 die Bf. vor ein Dilemma: Entweder sie befolgt das Verbot und verzichtet damit darauf, sich ihren religiösen Ansichten entsprechend zu kleiden, oder sie verweigert die Befolgung und riskiert strafrechtliche Sanktionen. [...] Es liegt daher ein »Eingriff« in die oder eine »Einschränkung« der Ausübung der durch Art. 8 und 9 EMRK geschützten Rechte vor.

(111) Solch ein Eingriff oder eine Einschränkung ist unvereinbar mit diesen Artikeln, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist, nicht eines oder mehrere der genannten legitimen Ziele verfolgt oder nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, um dieses Ziel oder diese Ziele zu erreichen.

Zur gesetzlichen Grundlage

(112) Die fragliche Einschränkung ist in den §§ 1,2 und 3 des Gesetzes vom 11.10.2010 vorgesehen. Die Bf. bestritt nicht, dass diese Bestimmungen den in der Rechtsprechung des GH zu Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK dargelegten Kriterien entsprechen.

Zum legitimen Ziel

(113) Der GH erinnert daran, dass die Auflistung der Ausnahmen von der Freiheit des Einzelnen, seine Religion oder seine Weltanschauung zu bekennen, in Art. 9 Abs. 2 EMRK taxativ und ihre Definition eng ist. Um mit der Konvention vereinbar zu sein, muss eine Einschränkung dieser Freiheit insbesondere ein Ziel verfolgen, das mit einem der in der Bestimmung genannten verknüpft werden kann. Dasselbe gilt für Art. 8 EMRK.

(114) Es ist die Praxis des GH, eher knapp zu sein, wenn er sich des Bestehens eines legitimen Ziels im Sinne der zweiten Absätze von Art. 8 bis 11 EMRK vergewissert. Im vorliegenden Fall gebietet aber der Gehalt der von der Regierung geltend gemachten und von der Bf. stark bestrittenen Ziele eine eingehende Erörterung. [...] Die Regierung brachte vor, dass das Gesetz zwei legitime Zwecke verfolge: die öffentliche Sicherheit und den »Respekt für einen Mindestbestand an Werten für eine offene und demokratische Gesellschaft«. [...]

(115) Was die öffentliche Sicherheit betrifft [...], nimmt der GH das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach das umstrittene Verbot des Tragens von Kleidung, die das Gesicht verhüllt, an öffentlichen Orten dem Bedürfnis entspricht, Personen zu identifizieren, um Gefahren für die Sicherheit von Personen und Eigentum abzuwehren und Identitätsbetrug zu bekämpfen. [...] Der GH akzeptiert, dass der Gesetzgeber mit dem umstrittenen Verbot auf Probleme der »öffentlichen Sicherheit« iSv. Art. 8 und 9 EMRK reagieren wollte.

(116) Hinsichtlich des zweiten geltend gemachten Ziels – der Sicherstellung von »Respekt für einen Mindestbestand an Werten für eine offene und demokratische Gesellschaft« – bezieht sich die Regierung auf drei Werte: Achtung der Gleichheit zwischen Männern und Frauen, Achtung der Menschenwürde und Achtung der Mindestanforderungen für ein Leben in der Gesellschaft. Sie brachte vor, dieses Ziel könne mit dem »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« iSv. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK verknüpft werden.

(117) Diese drei Werte entsprechen nicht ausdrücklich einem der in den zweiten Absätzen der Art. 8 und 9 EMRK aufgelisteten Ziele. Von diesen Zielen können im vorliegenden Fall hinsichtlich der fraglichen Werte nur die »öffentliche Ordnung« und der »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« relevant sein. Erstere ist allerdings in Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht genannt. Außerdem bezog sich die Regierung darauf weder in ihrer schriftlichen Stellungnahme noch in der öffentlichen Verhandlung, sondern zog es vor, sich nur auf den »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« zu stützen. Der GH wird daher seine Prüfung auf dieses legitime Ziel konzentrieren. [...]

(118) Der GH ist nicht vom Vorbringen der Regierung überzeugt, soweit es die Achtung der Gleichheit von Männern und Frauen betrifft.

(119) Er bezweifelt nicht, dass die Geschlechtergleichheit einen Eingriff in bestimmte Konventionsrechte und -freiheiten rechtfertigen kann. [...] Ein Mitgliedstaat, der es im Namen der Geschlechtergerechtigkeit verbietet, Frauen dazu zu zwingen, ihr Gesicht zu verhüllen, verfolgt daher ein Ziel, das dem »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« iSv. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK entspricht. Nach Ansicht des GH kann sich aber ein Staat nicht auf die Geschlechtergleichheit berufen, um eine Praxis zu verbieten, die von Frauen – wie der Bf. – im Zusammenhang mit der Ausübung der in diesen Bestimmungen garantierten Freiheiten verteidigt wird, solange nicht davon ausgegangen wird, dass Individuen auf dieser Grundlage vor der Ausübung ihrer eigenen fundamentalen Rechte und Freiheiten geschützt werden könnten. [...]

(120) Zweitens vertritt der GH die Ansicht, das die Achtung der Menschenwürde, wie essentiell sie auch sein mag, ein absolutes Verbot des Tragens eines Gesichtsschleiers an öffentlichen Orten nicht legitimerweise rechtfertigen kann. Dem GH ist bewusst, dass die umstrittene Kleidung von vielen, die sie beobachten, als seltsam empfunden wird. Er weist jedoch darauf hin, dass es Ausdruck einer kulturellen Identität ist, die zum Pluralismus beiträgt, der einer Demokratie inhärent ist. Er bemerkt in diesem Zusammenhang die Wandelbarkeit der Vorstellungen von Tugendhaftigkeit und Anstand, die auf eine Verhüllung des menschlichen Körpers angewendet werden. Außerdem liegen ihm keine Beweise vor, die ihn zur Auffassung bringen könnten, dass Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, damit eine Form der Verachtung gegenüber jenen ausdrücken wollen, die sie treffen, oder sonst die Würde anderer verletzen wollen.

(121) Im Gegensatz dazu findet der GH drittens, dass unter bestimmten Voraussetzungen der »Respekt für einen Mindestbestand an Werten für eine offene und demokratische Gesellschaft«, auf den sich die Regierung bezieht – oder des »Zusammenlebens«, wie es in den Erläuterungen zum Gesetz ausgeführt wird – mit dem legitimen Ziel des »Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer« verknüpft werden kann.

(122) Der GH berücksichtigt das Argument des belangten Staates, wonach das Gesicht bei der sozialen Interaktion eine wichtige Rolle spielt. Er kann die Ansicht verstehen, dass Personen, die sich an für alle zugänglichen Orten aufhalten, nicht sehen wollen, dass sich dort Praktiken oder Haltungen entwickeln, die die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Beziehungen fundamental in Frage stellen, die kraft eines etablierten Konsenses ein unverzichtbares Element des Gemeinschaftslebens in der jeweiligen Gesellschaft darstellt. Der GH kann daher akzeptieren, dass die durch einen das Gesicht bedeckenden Schleier errichtete Barriere gegen andere vom belangten Staat als Verletzung des Rechts anderer angesehen wird, in einem Raum der Sozialisation zu leben, der das Zusammenleben erleichtert. Angesichts der Flexibilität des Begriffs des »Zusammenlebens« und der daraus resultierenden Missbrauchsgefahr muss der GH eine sorgfältige Prüfung der Notwendigkeit der umstrittenen Einschränkung vornehmen.

Zur Verhältnismäßigkeit

(137) Der GH betont zunächst, dass das von der Bf. und einigen der Drittintervenienten vorgebrachte Argument, das mit dem Gesetz vom 11.10.2010 eingeführte Verbot beruhe auf der unzutreffenden Annahme, die betroffenen Frauen würden den Gesichtsschleier unter Zwang tragen, nicht sachdienlich ist. Aus den Erläuterungen zu dem Gesetz geht klar hervor, dass das primäre Ziel des Verbots nicht darin bestand, Frauen vor einer Praxis zu schützen, die ihnen aufgezwungen würde oder nachteilig für sie wäre.

(138) Nachdem dies klargestellt ist, muss der GH sich vergewissern, ob der umstrittene Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« für die öffentliche Sicherheit oder den »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« ist.

(139) Was die Frage der Notwendigkeit hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit betrifft, versteht der GH, dass ein Staat es wichtig finden kann, in der Lage zu sein, Individuen zu identifizieren, um Gefahren für die Sicherheit von Personen und Eigentum vorzubeugen und Identitätsbetrug zu bekämpfen. Er hat daher in den Fällen, die eine Verpflichtung betrafen, religiös konnotierte Kleidung bei Sicherheitskontrollen abzulegen, oder auf Fotos für Identitätsdokumente ohne Kopfbedeckung zu erscheinen, keine Verletzung von Art. 9 EMRK festgestellt. Angesichts ihrer Auswirkung auf die Rechte von Frauen, die aus religiösen Gründen den Gesichtsschleier tragen wollen, kann ein an öffentlichen Plätzen geltendes pauschales Verbot des Tragens von Kleidung, die dazu gedacht ist, das Gesicht zu verhüllen, nur in einem Kontext als verhältnismäßig angesehen werden, in dem eine allgemeine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit besteht. Die Regierung hat nicht nachgewiesen, dass das mit dem Gesetz vom 11.10.2010 eingeführte Verbot in einen solchen Kontext fällt. Die betroffenen Frauen sind dadurch verpflichtet, ein von ihnen als wichtig empfundenes Element ihrer Identität zusammen mit der von ihnen gewählten Art des Bekennens ihrer Religion völlig aufzugeben, während die von der Regierung geltend gemachten Ziele durch eine schlichte Verpflichtung erreicht werden könnten, ihr Gesicht zu zeigen und ihre Identität nachzuweisen, wo eine Gefahr für die Sicherheit von Personen oder Eigentum festgestellt wurde oder wo besondere Umstände den Verdacht eines Identitätsbetrugs aufwerfen. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass das mit dem Gesetz vom 11.10.2010 eingeführte umfassende Verbot für die öffentliche Sicherheit iSv. Art. 8 und 9 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

(140) Der GH wird nun die vom zweiten als legitim anerkannten Ziel, nämlich der Sicherstellung der Beachtung der Mindestanforderungen des Lebens in der Gemeinschaft als Teil des »Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer«, aufgeworfenen Fragen prüfen.

(141) [...] Es fällt in die Befugnisse eines Staates die Bedingungen sicherzustellen, unter denen Individuen in ihrer Diversität zusammenleben können. Der GH kann zudem akzeptieren, dass ein Staat in diesem Zusammenhang der zwischenmenschlichen Interaktion besonderes Gewicht beimessen will und diese durch die Tatsache beeinträchtigt sieht, dass manche an öffentlichen Orten ihr Gesicht verhüllen.

(142) Der GH findet daher, dass das umstrittene Verbot dem Grunde nach nur insofern gerechtfertigt sein kann, als es versucht, die Bedingungen des Zusammenlebens sicherzustellen.

(143) Es bleibt zu prüfen, ob das Verbot verhältnismäßig zu diesem Ziel ist.

(145) Es trifft zu, dass nur wenige Frauen betroffen sind. Nach einem von der Nationalversammlung erstellten Bericht trugen Ende 2009 rund 1.900 Frauen in Frankreich den Gesichtsschleier, von denen 270 in den Überseeterritorien lebten. [...] Es mag daher unverhältnismäßig erscheinen, auf eine solche Situation mit einem völligen Verbot zu reagieren.

(146) Ohne Zweifel hat das Verbot bedeutende negative Auswirkungen auf die Situation von Frauen, die sich wie die Bf. aus religiösen Gründen für das Tragen des Gesichtsschleiers entschlossen haben. Sie sind dadurch mit einem komplexen Dilemma konfrontiert und das Verbot kann den Effekt haben, sie zu isolieren und ihre Autonomie einzuschränken sowie die Ausübung ihrer Religionsfreiheit und ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens zu beeinträchtigen. Es ist auch verständlich, dass die betroffenen Frauen das Verbot als Bedrohung ihrer Identität verstehen.

(147) Es sollte auch festgehalten werden, dass viele nationale und internationale Akteure des Menschenrechtsschutzes ein pauschales Verbot für unverhältnismäßig erachteten. [...]

(148) Dem GH ist auch bewusst, dass das Gesetz vom 11.10.2010 zusammen mit bestimmten Debatten, die mit seiner Entstehung einhergingen, Teile der muslimischen Gemeinschaft verstimmt haben mögen, einschließlich einiger Mitglieder, die das Tragen des Gesichtsschleiers nicht befürworten.

(149) Der GH ist sehr besorgt über die Hinweise einiger der Nebenintervenienten, wonach gewisse islamophobe Bemerkungen die Debatte kennzeichneten, die der Verabschiedung des Gesetzes voranging. Es ist zugegebenermaßen nicht Sache des GH zu entscheiden, ob Gesetzgebung über solche Angelegenheiten wünschenswert ist. Er betont jedoch, dass ein Staat, der in einen solchen Gesetzgebungsprozess eintritt, die Gefahr auf sich nimmt, zur Festigung von Stereotypen beizutragen, die bestimmte Bevölkerungskategorien betreffen, und zu intoleranten Äußerungen zu ermutigen, während er im Gegenteil die Pflicht hat, Toleranz zu fördern. [...]

(150) Die übrigen zur Unterstützung der Bf. vorgebrachten Argumente müssen jedoch relativiert werden.

(151) Zwar trifft es zu, dass der Anwendungsbereich des Verbots breit ist, weil alle öffentlich zugänglichen Plätze betroffen sind (außer Orte des Gottesdienstes), doch beeinträchtigt das Gesetz vom 10.11.2010 nicht die Freiheit, in der Öffentlichkeit Kleidungsstücke – mit religiöser Konnotation oder ohne – zu tragen, die nicht die Wirkung haben, das Gesicht zu verhüllen. Dem GH ist bewusst, dass das umstrittene Verbot hauptsächlich muslimische Frauen betrifft, die den Gesichtsschleier tragen wollen. Dennoch ist es von gewisser Bedeutung, dass das Verbot nicht ausdrücklich auf der religiösen Konnotation der umstrittenen Kleidung beruht, sondern nur auf der Tatsache, dass sie das Gesicht verhüllt. Dies unterscheidet den vorliegenden Fall von Ahmet Arslan u.a./TR.

(152) Dass das Verbot mit strafrechtlichen Sanktionen einhergeht, verstärkt ohne Zweifel seine Wirkung auf die Betroffenen. Es ist sicher verständlich, dass der Gedanke, wegen der Verhüllung des Gesichts an einem öffentlichen Ort strafrechtlich verfolgt zu werden, für Frauen traumatisierend ist, die sich aus religiösen Gründen für das Tragen des Gesichtsschleiers entschieden haben. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass die eingeführten Sanktionen zu den mildesten zählen, die vorgesehen werden konnten. Sie bestehen in einer Geldstrafe in der Höhe des für geringfügige Übertretungen zweiter Klasse geltenden Betrags (derzeit maximal € 150,–) und der Möglichkeit, alternativ oder neben der Geldbuße den Besuch eines Bürgerschaftskurses vorzuschreiben.

(153) Zugegebenermaßen hat der Staat [...] durch das Verbot zu einem gewissen Grad die Reichweite des Pluralismus eingeschränkt, da es bestimmte Frauen daran hindert, ihre Persönlichkeit und ihren Glauben durch das öffentliche Tragen des Gesichtsschleiers auszudrücken. Die Regierung wies jedoch ihrerseits darauf hin, dass es eine Frage der Reaktion auf eine Praxis sei, die der Staat als in der französischen Gesellschaft unvereinbar mit den Grundregeln der sozialen Kommunikation und weiter gefasst mit den Anforderungen des Zusammenlebens erachtet. So gesehen versucht der belangte Staat, einen Grundsatz der zwischenmenschlichen Kommunikation zu schützen, der seiner Ansicht nach essentiell für den Ausdruck nicht nur des Pluralismus ist, sondern auch der Toleranz und der geistigen Großzügigkeit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt. Es kann daher gesagt werden, dass die Frage, ob es erlaubt sein sollte, an öffentlichen Orten einen Gesichtsschleier zu tragen, eine Wahl der Gesellschaft darstellt.

(154) Unter solchen Umständen hat der GH die Pflicht, bei seiner Überprüfung der Vereinbarkeit mit der EMRK einen Grad der Zurückhaltung zu üben, da er dabei eine Abwägung beurteilen wird, die mit den Mitteln eines demokratischen Prozesses in der fraglichen Gesellschaft getroffen wurde. Der GH hatte zudem bereits Gelegenheit festzustellen, dass der Rolle des innerstaatlichen Gesetzgebers in Angelegenheiten der allgemeinen Politik, über die in einer demokratischen Gesellschaft die Meinungen weit auseinandergehen können, besonderes Gewicht gegeben werden sollte.

(155) Mit anderen Worten hatte Frankreich im vorliegenden Fall einen weiten Ermessensspielraum.

(156) Dies trifft insbesondere zu, weil zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats wenig Übereinstimmung hinsichtlich der Frage des öffentlichen Tragens des Gesichtsschleiers herrscht. [...] Es besteht kein europäischer Konsens gegen ein Verbot. Zwar ist Frankreich von einem streng normativen Standpunkt aus betrachtet in der Minderheit, da sich außer Belgien bislang kein anderer Staat zu einer solchen Maßnahme entschlossen hat. Es muss jedoch festgestellt werden, dass die Frage des öffentlichen Tragens des Gesichtsschleiers in einer Reihe europäischer Staaten Gegenstand von Debatten ist oder war. In einigen wurde entschieden, kein pauschales Verbot zu erlassen. In anderen wird ein Verbot noch überlegt. Es sollte hinzugefügt werden, dass die Frage des Tragens des Gesichtsschleiers in der Öffentlichkeit in einer bestimmten Zahl von Mitgliedstaaten schlicht kein Thema ist, weil diese Praxis ungebräuchlich ist. Es kann daher gesagt werden, dass in Europa kein Konsens darüber besteht, ob ein pauschales Verbot des Tragens des Gesichtsschleiers an öffentlichen Orten geltend sollte oder nicht.

(157) Insbesondere angesichts der Weite des dem belangten Staat im vorliegenden Fall zukommenden Ermessensspielraums findet der GH, dass das mit dem Gesetz vom 11.10.2010 eingeführte Verbot als verhältnismäßig zum verfolgten Ziel angesehen werden kann, nämlich der Bewahrung der Bedingungen für ein Zusammenleben als ein Element des »Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer«.

(158) Die umstrittene Einschränkung kann daher als »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« angesehen werden. Diese Schlussfolgerung gilt sowohl in Hinblick auf Art. 8 EMRK als auch auf Art. 9 EMRK.

(159) Dementsprechend hat keine Verletzung von Art. 8 oder Art. 9 EMRK stattgefunden (15:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen Nußberger und Jäderblom).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 und Art. 9 EMRK

(160) Der GH stellt fest, dass die Bf. eine indirekte Diskriminierung rügt. [...]

(161) Eine allgemeine Politik oder Maßnahme, die einen unverhältnismäßig nachteiligen Effekt auf eine bestimmte Gruppe hat, kann als diskriminierend angesehen werden, selbst wenn sie nicht spezifisch gegen diese Gruppe gerichtet ist und es keine diskriminierende Absicht gibt. Dies ist allerdings nur der Fall, wenn eine solche Politik oder Maßnahme keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung hat [...]. Im vorliegenden Fall [...] hatte die Maßnahme aus den bereits dargelegten Gründen eine solche Rechtfertigung.

(162) Dementsprechend liegt keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 oder Art. 9 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 alleine und iVm. Art. 14 EMRK

(163) Es liegt keine Angelegenheit unter Art. 10 EMRK alleine oder iVm. Art. 14 EMRK vor, die sich von jenen unterscheidet, die unter Art. 8 und 9 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK geprüft wurden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Dudgeon/GB v. 22.10.1981 = EuGRZ 1983, 488

Norris/IRL v. 26.10.1988 = EuGRZ 1992, 477 = ÖJZ 1989, 628

Leyla Sahin/TR v. 10.11.2005 (GK) = NL 2005, 285 = EuGRZ 2006, 28 = ÖJZ 2006, 424

Ahmet Arslan u.a./TR v. 23.2.2010 = NL 2010, 52

Eweida u.a./GB v. 15.1.2013 = NL 2013, 23

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.7.2014, Bsw. 43835/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 309) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_4/S.A.S..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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