Normen
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190023.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 23. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe es abgelehnt, für die Taliban zu kämpfen.
2 Mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen nicht glaubhaft habe machen können. Er könne zwar nicht in seine Heimatregion rückgeführt werden, ihm stehe aber eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat, Mazar‑e Sharif sowie in den Hauptstädten der Provinzen Bamyan und Daikundi offen. Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, die in etwa fünfjährige Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers werde dadurch relativiert, dass sich der Revisionswerber seines unsicheren Aufenthaltsstatus habe bewusst sein müssen. Die Verfestigung des Privatlebens des Revisionswerbers im Bundesgebiet reiche nicht aus, um außergewöhnliche Umstände zu begründen. Der Revisionswerber habe weiterhin Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, in welchem er seine Kindheit und seine Zeit als junger Erwachsener verbracht habe.
5 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 9. Dezember 2020, E 3993/2020‑5, ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die Revision wendet sich in ihrem Zulässigkeitsvorbringen zunächst gegen die Beweiswürdigung des BVwG in Zusammenhang mit dem behaupteten Abfall des Revisionswerbers vom muslimischen Glauben. Der Revisionswerber bringt diesbezüglich vor, das BVwG gehe fälschlicherweise von einer Steigerung seines Fluchtvorbringens aus. Es hätte berücksichtigen müssen, dass der Revisionswerber im Laufe seines Asylverfahrens eine komplett andere Sichtweise kennengelernt habe, welche zu einem fundamentalen Bestandteil seiner Identität geworden sei. Zudem hätte es das BVwG unterlassen, sich mit einer bestimmten Aussage einer näher bezeichneten Zeugin näher auseinanderzusetzen.
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser ‑ als Rechtsinstanz ‑ zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 20.1.2021, Ra 2020/19/0299, mwN).
11 Das BVwG verschaffte sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber und führte eine umfassende Beweiswürdigung durch, in der es sich auch mit dem vorgebrachten Abfall des Revisionswerbers vom Islam unter Bedachtnahme auf die Aussagen einer Zeugin auseinandersetzte. Seine Beweiswürdigung stützte es dabei insbesondere darauf, dass die Ausführungen des Revisionswerbers oberflächlich und ausweichend gewesen seien. Eine Unvertretbarkeit dieser Beweiswürdigung vermag die Revision mit ihrem Vorbringen nicht aufzuzeigen.
12 Die Revision bringt in ihrem Zulässigkeitsvorbringen zudem vor, das BVwG habe es unterlassen, auf die Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie in Afghanistan einzugehen sowie eine Beurteilung der im Entscheidungszeitpunkt relevanten Umstände vorzunehmen. Dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine existenzbedrohende Situation, weil er dort niemanden habe und seine Familie ‑ entgegen der Beurteilung des BVwG - über keine finanziellen Mittel verfüge, um ihn zu erhalten. Die Revision wendet sich diesbezüglich auch gegen die Annahme der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308, 0309, mwN).
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0308, 0309, mwN).
15 Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz‑ und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 13.1.2021, Ra 2020/19/0200, mwN).
16 Das BVwG traf fallbezogen hinreichend aktuelle Feststellungen zur Sicherheits‑ und Versorgungslage in Afghanistan und im Besonderen in den als innerstaatliche Fluchtalternative herangezogenen Städten. Ebenso traf es ‑ entgegen den Ausführungen der Revision ‑ Feststellungen zur Ausbreitung des Corona‑Virus sowie zu dessen Auswirkungen auf die Versorgungslage in Afghanistan zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des angefochtenen Erkenntnisses. Vor diesem Hintergrund zeigt die Revision mit ihrem Vorbringen zu der durch die Covid‑19‑Pandemie bewirkten schwierigen wirtschaftlichen Lage nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, wonach dem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber, der nicht einer Covid‑19‑Risikogruppe angehöre und über Berufserfahrung, Schulausbildung sowie familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat verfüge als auch von seiner finanziell gut gestellten Familie zumindest anfänglich unterstützt werden könne, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative jedenfalls in Mazar‑e Sharif zumutbar sei, unvertretbar wäre (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0200, mwN).
17 Soweit sich die Revision schließlich gegen die Rückkehrentscheidung wendet und unter anderem vorbringt, dem bereits fünf Jahre überschreitenden Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich komme maßgebliche Bedeutung zu, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden hat. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden. Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0330, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. auch VwGH 18.12.2020, Ra 2020/19/0332, mwN).
18 Im vorliegenden Fall hat das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen Umstände berücksichtigt; und zwar neben dem näher dargestellten Grad der Integration des Revisionswerbers und seinen Bindungen zum Herkunftsstaat insbesondere auch die in der Revision angesprochene Dauer des Aufenthaltes des Revisionswerbers im Inland von etwas mehr als fünf Jahren. Zu Recht hat es dabei in seine Erwägungen allerdings auch einbezogen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie hier ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0330, mwN). Eine Unvertretbarkeit der Interessenabwägung des BVwG vermag die Revision insgesamt nicht aufzuzeigen.
19 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 3. März 2021
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