VwGH Ra 2020/19/0324

VwGHRa 2020/19/032416.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juli 2020, W159 2183738‑1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M A M in B, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190324.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II., A.III. und A.IV. wegen Rechtwidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, von den Taliban mit dem Umbringen bedroht worden zu sein, weil er sich geweigert habe, am Jihad teilzunehmen. In der Folge sei es immer wieder zu gewalttägigen Auseinandersetzungen gekommen.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 14.Dezember 2017 in Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters legte das BFA die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten, soweit es die Frage der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten betraf, als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis zum 17. Juli 2021 (Spruchpunkt A.III.). Darüber hinaus hob es die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf (Spruchpunkt A.IV.) und erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass auf Grund der Covid‑19‑Pandemie in ganz Afghanistan exzeptionelle Umstände im Sinn des Art. 3 EMRK vorliegen würden. Es stelle sich deshalb die Frage, ob dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, fallbezogen nicht. Eine Einreise sei derzeit nicht möglich und eine Besserung der globalen Reisefreiheit nicht absehbar. Der Mitbeteiligte besitze kein familiäres oder soziales Netzwerk, keine Schulbildung und habe bisher lediglich als Hirte gearbeitet. Ausgangsbeschränkungen in den Städten würden dazu führen, dass der Zugang zu Arbeit für Tagelöhner erschwert werde und sich diese nicht mehr versorgen könnten. Zwar gehöre der Mitbeteiligte keiner Covid‑19‑Risikogruppe an, angesichts steigender Nahrungsmittelpreise und der großen Anzahl an afghanischen Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan wäre die Versorgung des Mitbeteiligten im Herkunftsstaat nicht gewährleistet. Es könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte in eine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde.

5 Gegen die Spruchpunkte A.II. bis A.IV. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten sowie nach Einleitung des Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision beantragt wird ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

6 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK abgewichen sei. Es habe ohne zureichende Begründung angenommen, dass in ganz Afghanistan exzeptionelle Umstände herrschten. Das Bundesverwaltungsgericht habe sowohl die objektiven Verhältnisse als auch die Lage des Mitbeteiligten zu prüfen und könne sich nicht nur auf pauschale Ausführungen zur allgemeinen Lage berufen. Es sei zudem nicht erkennbar, ob das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehe, dass eine Rückkehr auf Grund exzeptioneller Umstände im gesamten Herkunftsstaat nicht möglich oder eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe es zudem unterlassen, Ermittlungen zum Aufenthalt der Mutter des Mitbeteiligten, der Erreichbarkeit der Großstädte und bestehenden Ausgangsbeschränkungen anzustellen. Diese Ermittlungen wären aber für die Beurteilung der Voraussetzungen des Art. 3 EMRK notwendig gewesen. Insgesamt würden die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Sinn des § 8 AsylG 2005 nicht vorliegen.

7 Die Amtsrevision ist zulässig und auch begründet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288; 3.12.2020, Ra 2020/19/0108; 22.10.2020, Ra 2020/14/0456; 7.9.2020, Ra 2020/18/0273; alle mwN).

9 Der Verwaltungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf die ständige Judikatur des EGMR, wonach es ‑ abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde ‑ grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos darzulegen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. etwa VwGH 3.9.2020, Ra 2020/19/0253, mwN).

10 Wie vom Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, mag es zutreffen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan auf Grund der Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid‑19 verschlechtert haben (vgl. VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288; 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN). Davon zu unterscheiden ist aber das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK, das ‑ wie dargelegt ‑ für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen fordert (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall VwGH 19.6.2017, Ra 2017/19/0095, mwN).

11 Im Übrigen entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass weder die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK (vgl. erneut VwGH Ra 2020/20/0188, mwN; zur bloßen Möglichkeit einer Covid‑19‑Erkrankung VwGH 6.7.2020, Ra 2020/01/0176, mwN), noch eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für die Annahme der realen Gefahr einer drohenden Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts ausreicht (vgl. VwGH 20.11.2020, Ra 2020/20/0309, mwN).

12 Schließlich ist festzuhalten, dass die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 eine rechtliche Beurteilung darstellt, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2018/19/0217, mwN).

13 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Feststellungen zwar eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat bezogen auf das gesamte Staatsgebiet aufgezeigt, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, primär gestützt auf mangelnde tragfähige Beziehungen des Mitbeteiligten und die durch die Covid‑19‑Pandemie und ihren Folgen bedingte angespannte Arbeitsmarktsituation und Versorgungslage in Großstädten. Darauf gestützt verneint das Bundesverwaltungsgericht explizit auch das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative im gesamten Herkunftsstaat. Weshalb der Mitbeteiligte durch diese Umstände ‑ trotz Vertrautheit mit den kulturellen Gegebenheiten, der Sprache und der Tatsache, dass es sich bei ihm um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt, der nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes auch keiner Covid‑19‑Risikogruppe angehört ‑ aber in eine Situation ernsthafter individueller Bedrohung des Lebens käme, zeigt das Bundesverwaltungsgericht nicht auf. Es ist eine solche auch nicht von vornherein erkennbar. Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, er würde im gesamten Herkunftsstaat in eine ausweglose Situation geraten, ist eine Schlussfolgerung, die in den Feststellungen keine Deckung findet.

14 Das Bundesverwaltungsgericht ist somit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weshalb die Entscheidung ‑ im Umfang der Anfechtung (Spruchpunkte A.II. bis A.IV.) ‑ wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 16. März 2021

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