VwGH Ra 2020/01/0134

VwGHRa 2020/01/01348.6.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der E B in W, vertreten durch MMag. Dr. Kazim Yilmaz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Volksgartenstraße 3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 2. Jänner 2020, Zl. VGW‑152/065/10338/2019‑6, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), den Beschluss gefasst:

Normen

MRK Art8
StbG 1985 §27 Abs1
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010134.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache gemäß § 27 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) festgestellt, dass die Revisionswerberindurch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 16. März 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hat (I.). Weiters wurde die Revision für unzulässig erklärt (II).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der 1966 als türkische Staatsangehörige geborenen Revisionswerberin sei 1993 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Danach sei sie endgültig im Jahr 1994 aus dem türkischen Staatsverband entlassen worden. Auf ihren Antrag sei der Revisionswerberin mit näher zitiertem Beschluss des türkischen Ministerrates vom 16. März 1995 die Wiedereinbürgerung in den türkischen Staatsverband genehmigt worden (was durch entsprechende Eintragungen im türkischen Personenstandsregister, Nüfus, belegt sei).

3 Da die Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit im Jahr 1995 aufgrund eigener „positiver“ Willenserklärung wieder erworben habe, stehe fest, dass sie gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft im Jahr 1995 verloren habe.

Auf Grund der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17, Tjebbes u.a., sei gegenständlich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Dabei habe das Verwaltungsgericht die privaten Interessen der Revisionswerberin gegenüber den öffentlichen Interessen abzuwägen.

4 Zweifellos könne die Revisionswerberin ‑ wie festgestellt ‑ berücksichtigungswürdige private und familiäre Gründe geltend machen. Die Revisionswerberin habe seit 1979 in Österreich bei ihrem Vater gelebt. Im Alter von 18 Jahren habe sie den Haushalt ihres Vaters verlassen und 1985 in der Türkei einen entfernten Verwandten, den türkischen Staatsbürger E B geheiratet, der in weiterer Folge zur Revisionswerberin nach Österreich gezogen sei. Der Ehe entstammten zwei Kinder. Obwohl die Revisionswerberin keine (Schul-)Ausbildung in Österreich genossen habe und des Lesens und Schreibens unkundig sei, sei sie ab 1984 25 Jahre bis zu ihrer Kündigung einer unselbständigen Beschäftigung als Arbeiterin nachgegangen. Nach einer [im Jahr 2014] aufgetretenen Krebserkrankung bzw. entsprechenden Chemotherapien und Behandlungen gehe es ihr heute wieder gut. Die Revisionswerberin könne in Österreich auf ein intensives Familienleben verweisen; in Österreich lebten ihr Vater, ihr Bruder und ihre Schwester sowie ihre Tochter und ihr Sohn jeweils mit ihren Familien. In der Türkei lebten ihre Mutter, ihr Halbbruder und ein Onkel. Die Revisionswerberin sei das letzte Mal vor drei bis vier Jahren mit ihren Kindern in der Türkei gewesen, um dort Urlaub zu machen.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht weiter aus, das öffentliche Interesse bestehe an der Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften in Österreich. Nach Verweis auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 26. Juni 2019, E 2283/2019, führte das Verwaltungsgericht aus, die Revisionswerberin habe gegenständlich von der Möglichkeit der Antragstellung zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft vor Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nicht Gebrauch gemacht. Vielmehr habe sie „mit ihrem Wissen und Willen“ die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben, weshalb sie nun die Folgen des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft zu tragen habe. Der Rechtsauffassung des VfGH folgend falle somit die Interessenabwägung zu Ungunsten der Revisionswerberin aus. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft (und damit verbunden der Status als Bürgerin der Europäischen Union) erweise sich somit nicht als unverhältnismäßig.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 Die Revision wendet sich in der ‑ allein maßgeblichen ‑ Zulässigkeitsbegründung nicht gegen den vom Verwaltungsgericht festgestellten Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit (infolge eigenen Antrags). Sie bringt aber vor, das Verwaltungsgericht habe „de facto überhaupt keine Verhältnismäßigkeitsprüfung“ im Sinne des Urteils des EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., durchgeführt, weil es offenbar der unrichtigen Auffassung sei, dass nach der Rechtsprechung des VfGH stets das öffentliche Interesse überwiege, wenn der Betroffene von der Möglichkeit einer Antragstellung zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht Gebrauch gemacht habe. Das Verwaltungsgericht weiche dadurch von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung ab.

10 Der vorliegende Revisionsfall gleicht in seinen entscheidungswesentlichen Punkten hinsichtlich Sachverhalt und Rechtsfrage jenem Fall, der mit Beschluss vom 18. Februar 2020, Ra 2020/01/0022, entschieden wurde; auf die dort in der Begründung (Rz 21 bis 26) angeführten Kritierien der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. wird gemäß § 43 Abs. 2 iVm Abs. 9 VwGG verwiesen.

11 In Entsprechung der Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes hat sich das Verwaltungsgericht auch vorliegend, dem VfGH in dessen Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, folgend, auf den Umstand gestützt, dass die Revisionswerberin die ihr eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrgenommen hat. Zusätzlich hat das Verwaltungsgericht jedoch die (wie dargelegt, im angefochtenen Erkenntnis festgestellten) berücksichtigungswürdigen privaten und familiären Gründe der Revisionswerberin in seine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung einbezogen.

12 Dazu ist (neuerlich) hervorzuheben, dass im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex‑lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegen steht (vgl. VwGH 29.4.2020, Ra 2020/01/0043, mwN).

13 Dass dies hinsichtlich der Revisionswerberin der Fall wäre, zeigt die Revision mit ihren Ausführungen (in den Revisionsgründen) nicht auf.

14 Insbesondere legt die Revision nicht dar, dass es der Revisionswerberin unzumutbar wäre, einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet zu beantragen(vgl. auch dazuVwGH Ra 2020/01/0022, mwN); das Vorbringen, wonach fraglich sei, ob „etwaige berücksichtigungswürdige Gründe von der zuständigen Behörde gesehen werden“ bzw. die Möglichkeit einer „Inlandsantragstellung“ vorliege, erfüllt dieses Erfordernis (schon infolge seines bloß spekulativen Charakters) nicht.

15 Wenn daher das Verwaltungsgericht gerade dem Umstand, dass die Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit aus freien Stücken angenommen hat, ohne die ihr eingeräumte Möglichkeit (der Beantragung) der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG wahrzunehmen, maßgebliche Bedeutung beigemessen hat (vgl. neuerlich VwGH Ra 2020/01/0043), ist dies im Ergebnis nicht zu beanstanden.

16 Die einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung des Verwaltungsgerichts in der vorliegenden Rechtssache ist somit im Ergebnis nicht als unvertretbar zu erkennen.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

18 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

19 Der Anregung auf Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH zur Frage, ob es dem Unionsrecht entspricht, wenn bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung „stets das öffentliche Interesse an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeit überwiegt, wenn der Betroffene die ihm gemäß § 28 StbG eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt und daher defacto [sic!] eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einem Verlust gemäß § 27 Abs. 1 StbG nie durchzuführen ist“, war nicht zu folgen. Es ist nämlich bereits klargestellt, dass unionsrechtlich die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten

und dabei ‑ nach Maßgabe des Art. 8 EMRK ‑ zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.

Wien, am 8. Juni 2020

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