VwGH Ra 2019/20/0399

VwGHRa 2019/20/039930.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, die Hofräte Mag. Eder und Dr. Schwarz, die Hofrätin Mag. Schindler sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Juli 2019, I405 2163495- 1/24E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: D O, in W, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
FrPolG 2005 §52
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200399.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seines Spruchpunkts A) II. wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 21. Juli 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab an, Staatsangehöriger von Sierra Leone zu sein. 2 Anlässlich der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23. Juli 2013 und bei Einvernahmen durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 26. August 2015 und am 9. Mai 2016 begründete er seine Furcht vor Verfolgung damit, dass sein Vater Sektenführer gewesen und er nach dem Tod seines Vaters von Sektenmitgliedern mit dem Umbringen bedroht worden sei.

3 Aufgrund von Zweifeln an der Richtigkeit der Behauptungen des Mitbeteiligten zu seiner Herkunft veranlasste das BFA dessen Begutachtung durch einen Sachverständigen, der in einem schriftlichen Gutachten vom 13. Februar 2017 auf Basis der Sprachkompetenzen und Länderkenntnisse des Mitbeteiligten zu dem Ergebnis kam, dass bei diesem eine Hauptsozialisierung in Sierra Leone mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer Hauptsozialisierung in Nigeria auszugehen sei. Im Zuge einer weiteren Einvernahme am 27. April 2017 konfrontierte das BFA den Mitbeteiligten mit diesem Gutachten und erteilte ihm die Gelegenheit, sich innerhalb einer Frist schriftlich dazu zu äußern. In seiner Stellungnahme vom 29. Mai 2017 gab der Mitbeteiligte unter anderem bekannt, in Nigeria unter einem anderen Namen gelebt zu haben, revidierte die bisherigen Angaben zu seiner Herkunft und behauptete, seine Mutter sei nigerianische Staatsangehörige. Er sei in Nigeria geboren und dort bis 2007 aufhältig gewesen, danach aber mit seinem Vater nach Sierra Leone gereist, von wo er in weiterer Folge geflohen sei.

4 Mit Bescheid vom 2. Juni 2017 wies das BFA den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Nigeria fest (Spruchpunkt III.), erkannte einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.) und gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt V.).

5 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) sprach mit Beschluss vom 11. Juli 2017 aus, dass der Beschwerde aufschiebende Wirkung zukomme, und erließ - nach Durchführung einer Verhandlung am 16. August 2017 - das mit 23. Juli 2019 datierte, mit der vorliegenden Revision angefochtene Erkenntnis.

6 Mit Spruchpunkt A) I. des Erkenntnisses wies das BVwG die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen die Spruchpunkte I. und II. des Bescheids vom 2. Juni 2017 als unbegründet ab. In Spruchpunkt A) II. sprach das BVwG aus: "Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird (dem Mitbeteiligten) der Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsberechtigung plus' erteilt". Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig. 7 Das BVwG stellte - disloziert im Zuge der Schilderung des Verfahrensgangs - fest, dass der Mitbeteiligte bei seiner Erstbefragung und einer weiteren Einvernahme vorgebracht habe, aus Sierra Leone zu stammen, nach Vorhalt eines entsprechenden Gutachtens aber die nigerianische Staatsangehörigkeit und eine Sozialisierung in Nigeria zugestanden und eine spätere Einreise nach Sierra Leone behauptet habe. Das BVwG stellte weiters zwei rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen des

Beschwerdeführers fest ("Mit Urteil ... vom 22.11.2013 ... wegen

§§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall und § 27 Abs 3 SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten unter Setzung einer dreijährigen Probezeit" sowie "mit Urteil vom 06.06.2014 wegen §§ 27 Abs 1 Z 1

8. Fall, 27 Abs 3 SMG, §§ 15, 269 Abs 1 1. Fall StGB und §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten, hiervon sechs Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren").

8 Als für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Privatlebens und des Grads der Integration relevante Umstände führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte sei Staatsangehöriger von Nigeria, halte sich seit 21. Juli 2013 in Österreich auf, pflege keinen Kontakt zu Familienangehörigen in Nigeria und habe in Österreich eine Freundin, mit der er nicht im gemeinsamen Haushalt lebe. Er habe sich während seines Aufenthalts im Bundesgebiet "sowohl in wirtschaftlicher sprachlicher und sozialer Hinsicht" integriert, mehrere Deutschkurse besucht, den Pflichtschulabschluss absolviert und Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2 erworben. Er habe am 9. Dezember 2015 eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begonnen, beziehe keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und sei selbsterhaltungsfähig. Er sei bei einem Hilfswerk tätig gewesen und Mitglied einer (näher genannten) Kirchengemeinschaft. Aufgrund seines jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet habe der Mitbeteiligte einen "dementsprechenden" Freundes- und Bekanntenkreis.

9 Zur Begründung des Ausspruchs, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und der Erteilung eines Aufenthaltstitels hielt das BVwG fest, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung bedeute einen Eingriff in das Recht des Mitbeteiligten auf Achtung des Privat- und Familienlebens, vorliegend unter dem Aspekt des Privatlebens. Er sei seit sechs Jahren im Bundesgebiet aufhältig und habe seinen Aufenthalt für seine Integration in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht genutzt (das BVwG rückte insoweit die Deutschkenntnisse, den Pflichtschulabschluss und eine begonnene Lehre in den Vordergrund). Durch seine "geregelte Beschäftigung" liege eine berufliche Integration vor, die es ihm ermögliche, "finanziell weitestgehend auf eigenen Beinen zu stehen bzw. mit seinem Lehrlingsgehalt den Großteil seines Lebensunterhaltes allein zu bestreiten". Der Mitbeteilige verfüge aufgrund seines jahrelangen Aufenthalts im Bundesgebiet über einen Freundes- und Bekanntenkreis, sei Kirchenmitglied und habe freiwillige Tätigkeiten übernommen, wodurch er soziales Engagement bekunde. Er habe somit gezeigt, dass er in den letzten Jahren "um eine möglichst umfassende und auf Dauer angelegte persönliche Integration in Österreich bemüht" gewesen sei. Es werde nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukomme, und dass der Mitbeteiligte bereits zwei Mal strafgerichtlich verurteilt worden sei. Dazu sei jedoch anzuführen, dass er seine Straftaten "kurze Zeit nach seiner Einreise" begangen habe und sich seither wohlverhalten und "massiv integriert" habe, was für seinen Gesinnungswandel und Respekt gegenüber der österreichischen Rechtsordnung spreche.

10 Die Unzulässigkeit einer Revision begründete das BVwG (formelhaft) mit dem Nichtvorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.

11 Gegen Spruchpunkt A) II. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem ausführt, das BVwG sei von den - näher dargestellten - in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätzen abgewichen. Unter anderem habe das BVwG bei der Interessenabwägung das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-Verfahrensgesetz - BFA-VG ("die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren") überhaupt nicht berücksichtigt. Weiters habe es bei der Interessenabwägung die falschen Identitäts- und Herkunftsangaben des Mitbeteiligten und somit dessen "evident rechtsmissbräuchliches Verhalten" unberücksichtigt gelassen. Das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

 

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

14 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.

15 Ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen

unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, ist nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2  BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; weiters zB VwGH 23.1.2020, Ra 2019/18/0322; 14.1.2020, Ra 2019/01/0361; 30.10.2019, Ra 2019/01/0181).

17 Den Umstand, dass der Mitbeteiligte sämtliche integrationsbegründenden Schritte gesetzt hat, obwohl er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, ließ das BVwG bei der Interessenabwägung aber außer Acht.

18 Die Revision zeigt zutreffend auch auf, dass das BVwG zu Unrecht dem Umstand keine Beachtung geschenkt hat, dass der Mitbeteiligte im Asylverfahren zunächst unrichtige Angaben sowohl zu seiner Herkunft als auch seiner Identität gemacht hat. 19 Läge dem ein rechtsmissbräuchliches Verhalten zugrunde, was das BVwG nicht abgeklärt hat, wäre dies nach dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 7 BFA-VG ("Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts") bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl. VwGH 26.11.2009, 2009/18/0423; 15.9.2010, 2010/18/0335).

20 Von der ständigen Rechtsprechung weicht das angefochtene Erkenntnis auch im Hinblick auf die vom Mitbeteiligten zu verantwortenden Straftaten ab. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat. Dieser Zeitraum ist nach den Grundsätzen der Judikatur umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden - etwa in Hinblick auf das der strafgerichtlichen Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten oder einen raschen Rückfall - manifestiert hat (vgl. VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0027; 10.9.2018, Ra 2018/19/0169). Das BVwG hat zu den strafrechtlichen Verurteilungen des Mitbeteiligten jeweils nur das Datum, die Strafnormen und die jeweils verhängte Strafhöhe genannt und ist im Übrigen - disloziert im Rahmen der Feststellungen - davon ausgegangen, dass "aufgrund des Wohlverhaltens des (Mitbeteiligten) in den letzten fünf Jahren sowie seiner beachtlichen Integration" nicht mehr davon auszugehen sei, dass von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Nähere Feststellungen (über die Art und Schwere der Taten), die eine Beurteilung im Lichte der Gefährlichkeit zuließen, sind dem angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen, weshalb sich die Interessenabwägung auch unter diesem Gesichtspunkt als rechtswidrig erweist.

21 Bereits in den angeführten Punkten weicht das angefochtene Erkenntnis in seinem Spruchpunkt A) II. von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten rechtlichen Leitlinien ab und ist daher mit Rechtswidrigkeit des Inhalts belastet.

22 Das angefochtene Erkenntnis war daher aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im angefochtenen Umfang aufzuheben. 23 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung nicht zuzusprechen.

Wien, am 30. April 2020

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