VwGH Ra 2019/18/0212

VwGHRa 2019/18/021218.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Karlovits, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2019, Zl. W221 2186638-1/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A M, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180212.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Spruchpunkte A.II., A.III. und A.IV.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 28. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 8. Jänner 2018 zur Gänze abwies. Dem Mitbeteiligten wurde auch kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt, gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, es wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia gemäß § 52 Abs. 9 FPG zulässig sei, und es wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

2 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), die mit dem gegenständlichen Erkenntnis in Bezug auf die Nichtgewährung von internationalem Schutz und den Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 abgewiesen wurde (Spruchpunkt A.I.). Im Übrigen wurde der Beschwerde vom BVwG jedoch stattgegeben, die Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise ersatzlos behoben, die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt (Spruchpunkte A.II., A.III. und A.IV.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3 Zur Begründung der Spruchpunkte A II. bis A. IV. führte das BVwG zusammengefasst aus, der unbescholtene Mitbeteiligte lebe seit dem 28. Juli 2015 im österreichischen Bundesgebiet und habe sich in diesem Zeitraum von Beginn an um eine umfassende Integration bemüht. Es sei ihm gelungen, innerhalb eines Jahres eine Beschäftigungsbewilligung des AMS als Lehrling zu erhalten und eine entsprechende Stelle zu finden. Er lukriere ein regelmäßiges Einkommen und sei selbsterhaltungsfähig, wohne bei einer österreichischen Familie und habe viele Freunde bzw. seit dem Jahr 2016 eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Im Jahr 2020 wolle er die Lehrabschlussprüfung absolvieren und habe für danach eine näher bezeichnete Anstellung in Aussicht. Im November 2015 und im Februar 2016 habe er Praktika in einem Bezirks- und Pflegeheim absolviert, im Mai 2017 habe er entgeltliche Aushilfsarbeiten für die Wohnortgemeinde ausgeübt. Er habe an einem Erste-Hilfe-Grundkurs und an mehreren Deutschkursen teilgenommen; die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 habe er erfolgreich bestanden. Berücksichtige man all diese Aspekte, so würden im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen. Eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten erweise sich deshalb als unverhältnismäßig. 4 Gegen die Spruchpunkte A.II. bis A.IV. des Erkenntnisses wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die mit näherer Begründung geltend macht, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den maßgeblichen Interessen bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK abgewichen sei.

5 Der Mitbeteiligte hat zu dieser Revision eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der beantragt, die Amtsrevision zurück- oder abzuweisen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 Die Revision ist zulässig und begründet.

7 Ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen

unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, ist nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).

8 Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass der Mitbeteiligte im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG erst etwa dreieinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhältig war. Das BVwG gesteht insoweit auch zu, dass dieser relativ kurzen Aufenthaltsdauer (von nicht einmal fünf Jahren) nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der durchzuführenden Interessenabwägung keine maßgebliche Bedeutung im Zusammenhang mit den privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich zukommt. Zu Recht führt das BVwG aber auch aus, dass die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien darstellt, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072, mwN).

9 Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 10.4.2019 Ra 2019/18/0049, mwN). 10 Das BVwG geht im vorliegenden Fall, ohne es ausdrücklich auszusprechen, im Ergebnis von einer solchen außergewöhnlichen Integration des Mitbeteiligten aus, während die Amtsrevision diese explizit bestreitet und zusammengefasst geltend macht, dass sich der gegenständliche Fall nicht von vergleichbaren - näher bezeichneten - anderen unterscheide, die bereits Gegenstand von höchstgerichtlichen Entscheidungen gewesen sind und in denen die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen nicht ausgereicht hätten, um ihnen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK einen dauernden Verbleib in Österreich zu ermöglichen.

11 Zu Recht macht die Amtsrevision geltend, dass die getroffenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis die Annahme einer außergewöhnlichen Integration im oben beschriebenen Sinne nicht decken. Das BVwG beschreibt den Mitbeteiligten in seiner Entscheidung unbestritten als fleißigen und arbeitswilligen, unbescholtenen jungen Mann, der innerhalb seiner relativ kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich Arbeit gefunden hat, soziale Kontakte zu hier dauerhaft Lebenden aufgenommen und die deutsche Sprache verhältnismäßig gut erlernt hat. Dass diese Integrationsschritte aber eine außergewöhnliche Konstellation bilden, lässt die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht erkennen.

12 Hinzu kommt, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (ein Umstand, der nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung die erreichte Integration entsprechend relativiert; vgl. etwa VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN), wird vom BVwG zwar angesprochen, jedoch in seine weiteren Erwägungen nicht erkennbar einbezogen und nachvollziehbar gewichtet. 13 Das angefochtene Erkenntnis ist daher im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 18. September 2019

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