Normen
AVG §45 Abs2
StbG 1985 §27 Abs1
VwGVG 2014 §17
62017CJ0221 Tjebbes VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010383.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.
Das Land Wien hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Angefochtenes Erkenntnis
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) in der Sache gemäß § 39 und § 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) fest, dass der Revisionswerber die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG durch Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit „zu einem unbekannten, jedenfalls aber nach dem 11.04.1995, liegenden Zeitpunkt“ verloren hat und nicht österreichischer Staatsbürger ist. Die Revision gegen dieses Erkenntnis wurde für nicht zulässig erklärt.
2 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung ‑ soweit im Revisionsverfahren wesentlich ‑ zusammengefasst nachstehende Feststellungen zugrunde:
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 3. Jänner 1994 sei dem am 8. November 1988 geborenen Revisionswerber die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 20 StbG für den Fall des Nachweises des Ausscheidens aus dem türkischen Staatsverband binnen zwei Jahren zugesichert worden. Mit Bescheid vom 7. März 1994 habe die belangte Behörde dem Revisionswerber mit Wirkung vom selben Tag die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 17 Abs. 1 Z 1 StbG verliehen. Mit Entlassungsurkunde entsprechend dem türkischen Ministerratsbeschluss zur Zahl 94/6325 vom 2. Dezember 1994, ausgestellt am 11. April 1995, sei der Revisionswerber endgültig aus dem türkischen Staatsverband entlassen worden.
Danach habe der Revisionswerber entweder auf seinen Antrag hin oder ‑ im Falle seiner zum Antragszeitpunkt allenfalls bestehenden Minderjährigkeit ‑ über Antrag seiner Eltern die türkische Staatsangehörigkeit zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt wiedererworben.
3 Beweiswürdigend legte das Verwaltungsgericht dar, dass sich der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nicht aus den von einem Parlamentsklub am 18. Mai 2017 an die belangte Behörde übermittelten Datensatz sondern aus dem vom Revisionswerber vorgelegten (türkischen) Personenstandsregisterauszug vom 2. November 2018 ergebe. Dem sei zu entnehmen, dass das Personenstandsregister zum Zeitpunkt der Ausstellung des Auszugs nicht geschlossen gewesen sei. Demnach sei der Revisionswerber zu diesem Zeitpunkt türkischer Staatsangehöriger gewesen. Schließlich gehöre ein solcher Auszug nach dem türkischen Recht zu den Strengbeweismitteln. Diese seien zwar in Bezug auf den darin dokumentierten Sachverhalt dem Gegenbeweis zugänglich. Dem Revisionswerber sei jedoch der Gegenbeweis nicht gelungen. So habe er das Vorliegen eines allfälligen Behördenfehlers nicht überzeugend darlegen können und trotz mehrfacher Aufforderung bislang keinen Personenstandsregisterauszug mit staatsbürgerschaftsrelevanten Daten vorgelegt. Da nach dem türkischen Recht der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nur über entsprechenden Antrag des Betroffenen möglich sei, sei davon auszugehen, dass entweder der Revisionswerber selber oder ‑ im Falle seiner damaligen Minderjährigkeit ‑ seine Eltern die Wiederverleihung beantragt haben.
4 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber habe nach dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft und Entlassung aus dem türkischen Staatsverband am 11. April 1995 die türkische Staatsangehörigkeit auf Grund eines darauf gerichteten entsprechenden Antrags wiedererworben. Mit dem Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit habe der Revisionswerber gemäß § 27 Abs. 1 StbG die österreichische Staatsbürgerschaft ex lege verloren.
Da der Wiedererwerb frühestens nach der Entlassung aus dem türkischen Staatsverband am 11. April 1995 stattgefunden haben könne, sei das Datum, mit dem spätestens der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festgestellt werde, im Spruch von „spätestens mit Wirkung vom 18.05.2017“ im Bescheid der belangten Behörde vom 16. Oktober 2018 auf „zu einem unbekannten, jedenfalls aber nach dem 11.04.1995, liegenden Zeitpunkt“ geändert worden. Das Datum der Übermittlung des Datensatzes von einem Parlamentsklub an die belangte Behörde am 18. Mai 2017 sei nicht relevant.
5 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 26. Juni 2019, E 1741/2019‑6, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG zur Entscheidung abtrat.
6 Gegen das angeführte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts richtet sich die vorliegende Revision. Die belangte Behörde nahm nach Einleitung des Vorverfahrens Abstand von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zulässigkeit
7 Die Revision ist entsprechend dem Zulässigkeitsvorbringen im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht entgegen dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, in der Rechtssache Tjebbes, u.a., C‑221/17, unterlassene Verhältnismäßigkeitsprüfung im Fall des mit dem ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft verbundenen Verlusts der Unionsbürgerschaft zulässig; sie ist auch berechtigt.
Rechtslage
8 Gemäß § 27 StbG verliert die Staatsbürgerschaft, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsbürgerschaft erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.
Zur Feststellung nach § 27 StbG führende Beweiswürdigung
9 Die Revision moniert zum festgestellten Sachverhalt, wonach der Revisionswerber nach Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft die türkische Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag hin wieder erworben habe, eine krass fehlerhafte Beweiswürdigung.
10 Aus dem Registereintrag „sag“ (= lebend) des vom Revisionswerber vorgelegten Auszugs aus dem türkischen Personenstandsregister gehe nicht hervor, dass der Revisionswerber türkischer Staatsangehöriger sei. Das Verwaltungsgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass nach der Stellungnahme des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) vom 21. Dezember 2018 ein solcher Eintrag mehrere Ursachen haben könne und nicht zwangsläufig auf einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit zurückzuführen sei. Dass der vom Revisionswerber vorgelegte Personenstandsregisterauszug vom 2. November 2018 keinen Eintrag über einen (Wieder)Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit enthalte, beweise vielmehr, dass der Revisionswerber nach Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wieder die türkische Staatsangehörigkeit erworben habe. Ebenso sei in diesem Auszug zudem die Entlassung aus dem türkischen Staatsverband nicht vermerkt, obwohl der Revisionswerber von den türkischen Behörden eine entsprechende Entlassungsurkunde erhalten habe. Es liege kein einziger Beweis für den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit vor.
11 Eine krasse Fehlbeurteilung der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts zeigt die Revision nicht auf:
12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verlangt § 27 Abs. 1 StbG nicht eine „hundertprozentige Sicherheit“. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht im Feststellungsverfahren nach § 27 Abs. 1 StbG verpflichtet, den zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln. In diesem Zusammenhang ist auf den mit § 45 Abs. 2 AVG normierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung hinzuweisen, wonach die Behörde bzw. iVm § 17 VwGVG das Verwaltungsgericht bei der Beweiswürdigung nicht an feste Beweisregeln gebunden ist, sondern den Wert der aufgenommenen Beweise nach bestem Wissen und Gewissen nach deren innerem Wahrheitsgehalt zu beurteilen hat (vgl. zu allem VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, mwN).
13 Das Verwaltungsgericht stützte seine Beweiswürdigung zur bekämpften Tatsachenfeststellung auf den vom Revisionswerber vorgelegten (türkischen) Personenstandsregisterauszug sowie die dazu eingeholte Stellungnahme des BMEIA vom 21. Dezember 2018. Dabei setzte es sich sehr wohl auch mit anderen möglichen Gründen für den Registereintrag „sag“, wie etwa einen Behördenfehler, auseinander. Das Verwaltungsgericht legte diesbezüglich unter Berücksichtigung der Aussage des Revisionswerbers nachvollziehbar dar, dass es keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen administrativen Fehler der türkischen Behörden bzw. eine irrtümlich unterlassene Schließung des Personenstandsregisters trotz Entlassung des Revisionswerbers aus dem türkischen Staatsverband gebe.
14 Dem Argument in der Revision, im vorgelegten Personenstandsregisterauszug sei die Entlassung des Revisionswerbers aus dem türkischen Staatsverband nicht vermerkt, obwohl er nachweislich eine Entlassungsurkunde von den türkischen Behörden erhalten habe, sodass daraus auf einen Behördenfehler zu schließen sei und das Personenstandsregister lediglich auf Grund dieses Fehlers nicht geschlossen sei, ist entgegen zu halten, dass es entsprechend den im Verwaltungsakt erliegenden Stellungnahmen des BMEIA neben Personenstandsregisterauszügen mit staatsbürgerschaftsrelevanten Eintragungen auch solche ohne diesen Eintragungen gibt. Dementsprechend wies das Verwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung darauf hin, dass der Revisionswerber trotz mehrfacher Aufforderungen keinen Personenstandsregisterauszug mit staatsbürgerschaftsrelevanten Daten vorgelegt habe. Die bloß pauschalen Einwände gegen die Stellungnahmen des BMEIA, womit die Revision deren Richtigkeit in Zweifel zieht, vermögen demgegenüber den Beweiswert der Stellungnahmen nicht zu erschüttern.
Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a.
15 Ausgehend vom festgestellten Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 StbG und dem für den Revisionswerber damit verbundenen gleichzeitigen Verlust des Unionsbürgerstatus ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019 in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., von der zuständigen nationalen Behörde und gegebenenfalls dem nationalen Gericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. etwa jüngst VwGH 11.3.2020, Ra 2020/01/0029, Rn. 11, mwN).
16 Eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde vom Verwaltungsgericht, wie die Revision zu Recht aufzeigt, nicht durchgeführt. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich aus diesem Grund als inhaltlich rechtwidrig.
17 Zu den Kriterien einer solchen unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Begründung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes vom 18. Februar 2020, Ra 2020/01/0022, Rn. 21 ‑ 26, zu verweisen. Eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung erfordert eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Dabei wird regelmäßig der vom VfGH (in VfGH 17.6.2019, E 1302/2019) aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass § 27 Abs. 1 StbG den Verlust der Staatsbürgerschaft nur dann an den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit knüpft, wenn diese auf Grund des Antrags, der Erklärung oder der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen erworben wird, und der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, Rn. 50, mwN).
Zeitpunkt der Feststellung des Verlusts
18 Der Verwaltungsgerichtshof stellt für die Feststellung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG auf einen Zeitpunkt und nicht auf einen Zeitraum ab. Dies entspricht dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit, aber auch angesichts der Rechtsfolgen einer Feststellung des Verlustes der Staatsbürgerschaft dem Gebot der Rechtssicherheit für den Betroffenen. Daher ist der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG zu einem näher bezeichneten Zeitpunkt festzustellen (vgl. zu allem VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, mwN).
19 Soweit im angefochtenen Erkenntnis die Feststellung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt, sondern diesen offen lassend auf den Zeitraum nach dem 11. April 1995 abstellt, weicht es damit von den oben angeführten Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes ab.
Ergebnis
20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufzuheben.
21 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. Mai 2020
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