VwGH Ra 2018/22/0126

VwGHRa 2018/22/01264.10.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das am 17. April 2018 verkündete und mit 24. April 2018 ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-151/084/2981/2018-1, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: R A C M in W), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs1 Z5;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §63;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220126.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die Mitbeteiligte, eine Doppelstaatsbürgerin von Peru und Venezuela, verfügte über einen Aufenthaltstitel für den Zweck "Schüler" mit Gültigkeit zuletzt bis 22. September 2017. Am 26. September 2017 - also nach Ablauf ihres Aufenthaltstitels - stellte sie einen "Verlängerungsantrag". Auf Vorhalt der Behörde gab die Mitbeteiligte zur verspäteten Antragstellung an, sie hätte nicht alle Dokumente (insbesondere die Inskriptionsbestätigung) gehabt und daher geglaubt, noch keinen Verlängerungsantrag stellen zu können.

2 Mit Bescheid vom 15. Jänner 2018 wies der Landeshauptmann von Wien (Behörde) den erkennbar als Erstantrag gewerteten Antrag der Mitbeteiligten ab, weil weder ausreichende Unterhaltsmittel noch ein Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachgewiesen worden seien.

3 Das Verwaltungsgericht Wien (VwG) hob aufgrund der Beschwerde der Mitbeteiligten den oben genannten Bescheid auf, erteilte der Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel "Schüler" mit zwölfmonatiger Gültigkeit und erklärte eine ordentliche Revision für unzulässig.

Begründend führte das VwG - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit näherer Begründung aus, alle Erteilungsvoraussetzungen seien nachgewiesen worden. Die Behörde habe die Mitbeteiligte zwar auf die Verspätung ihres Verlängerungsantrages hingewiesen und sei zutreffend von einer zulässigen Inlandsantragstellung "aufgrund der visumfreien Einreise" der Mitbeteiligten ausgegangen. Der "visumfreie Aufenthalt" sei jedoch während des behördlichen Verfahrens abgelaufen, worauf die Mitbeteiligte nicht hingewiesen worden sei. Eine Belehrung gemäß § 21 Abs. 3 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) sei ebenfalls unterblieben. Obwohl das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG vorliege, bestehe gemäß § 11 Abs. 3 NAG (Hinweis auf VwGH 22.2.2018, Ra 2017/22/0086) die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigte das VwG den zweieinhalbjährigen Aufenthalt der Mitbeteiligten in Österreich, das Vorliegen einer Beschäftigungsbewilligung, ihre berufliche und schulische Integration, ihre familiären Bindungen zu ihrer Tante und ihre Deutschkenntnisse. Eine Ausreise sei ihr - so das VwG weiter - weder nach Peru noch nach Venezuela zumutbar gewesen, weil sie ihre Ausbildung hätte unterbrechen müssen. Aufgrund der Integration der Mitbeteiligten sei ihr Privat- und Familienleben in Österreich zu schützen und "das Verbleiben (der Mitbeteiligten) im Bundesgebiet während des laufenden Verfahrens daher zulässig."

4 Dagegen richtet sich die außerordentliche Amtsrevision. 5 Die nicht anwaltlich vertretene Mitbeteiligte beantragte

erkennbar die Abweisung der Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 In der Zulässigkeitsbegründung rügt der Revisionswerber ein Abweichen des VwG von der ständigen hg. Rechtsprechung hinsichtlich der Interessenabwägung (Hinweis etwa auf VwGH 23.6.2015, Ra 2015/22/0026; 10.5.2016, Ra 2015/22/0158).

7 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 8 Der Verwaltungsgerichtshof brachte bereits zum Ausdruck,

dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 21.1.2016, Ra 2015/22/0119, mwN).

9 Wie die Revision jedoch zutreffend ausführt, kann nach ständiger hg. Rechtsprechung eine Aufenthaltsdauer von etwa zweieinhalb Jahren für sich genommen keine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen der Mitbeteiligten an einer Titelerteilung bewirken (vgl. nochmals VwGH Ra 2015/22/0119, mwN).

Auch mit dem Vorbringen, bei Nichterteilung des Aufenthaltstitels müsse die Mitbeteiligte ihre Ausbildung unterbrechen, werden keine Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK dargetan, auf Grund derer ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre; dem Interesse der Mitbeteiligten an der Fortsetzung ihrer Ausbildung kommt somit für sich genommen keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei der vorzunehmenden Abwägung zu; daran vermag auch der bereits erzielte Studienerfolg nichts zu ändern (vgl. VwGH 10.5.2016, Ra 2015/22/0158, betreffend die auch fallbezogen relevante Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK).

Die 1992 geborene Mitbeteiligte lebt mit ihrer Tante, die sie finanziell unterstützt, im gemeinsamen Haushalt; ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis, etwa ein Pflegebedarf der berufstätigen Tante, wurde nicht vorgebracht. Auch in Verbindung mit den vom VwG weiter angeführten Aspekten der ausreichenden finanziellen Mittel, der guten Deutschkenntnisse sowie der geringfügigen Beschäftigung wäre es nicht geboten gewesen, der Mitbeteiligten trotz Vorliegen des Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 5 NAG aus Gründen des Art. 8 EMRK einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass die Mitbeteiligte - wie sie in ihrer Revisionsbeantwortung ausführt - wegen des Bürgerkrieges nicht nach Venezuela ausreisen könne und nie in Peru gelebt habe, zumal ihren eigenen Angaben zufolge ihre Eltern und weitere Verwandte in Peru leben.

10 Die vom VwG durchgeführte Abwägung gemäß Art. 8 EMRK steht somit nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang, weshalb das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

11 Dabei kann dahinstehen, ob das VwG zutreffend von einer zulässigen Inlandsantragstellung der Mitbeteiligten "aufgrund der visumfreien Einreise" ausging.

Wien, am 4. Oktober 2018

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte