Normen
FrPolG 2005 §67 Abs1;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210234.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist türkischer Staatsangehöriger und reiste Ende 2003 mit seiner damaligen Ehefrau und dem gemeinsamen dreijährigen Sohn nach Österreich ein. Er stellte einen Asylantrag, der letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom Juli 2011 rechtskräftig abgewiesen wurde; unter einem wurde (insbesondere) die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei für zulässig erklärt und der Revisionswerber in die Türkei ausgewiesen.
2 Der mittlerweile geschiedene Revisionswerber wurde sodann am 11. März 2013 in die Türkei abgeschoben. In der Folge erhielt er einen rumänischen Aufenthaltstitel "Membru Familie cet Roman" und reiste damit erneut Ende 2013/Anfang 2014 nach Österreich ein, wo er sich seither - mit Unterbrechungen - mit seiner nunmehrigen Ehefrau, einer rumänischen Staatsangehörigen, aufhält. Die genannte Ehefrau verfügt über eine Anmeldebescheinigung, dem Revisionswerber wurde im Oktober 2016 eine Aufenthaltskarte ausgestellt.
3 Im gemeinsamen Haushalt mit dem Revisionswerber und seiner nunmehrigen Ehefrau leben die beiden gemeinsamen Kinder, geboren 2012 und 2015. Auch der 2000 geborene Sohn des Revisionswerbers aus erster Ehe befindet sich im Bundesgebiet und steht in gelegentlichem Kontakt mit dem Revisionswerber.
4 Angesichts strafgerichtlicher Verurteilungen des Revisionswerbers verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 10. September 2018 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot; außerdem sprach es aus, dass gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt werde und dass einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde, in der die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt worden war, wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 9. Oktober 2018 mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf zwei Jahre herabgesetzt werde. Außerdem sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Das BVwG stellte das strafrechtliche Fehlverhalten des Revisionswerbers - insoweit nicht über die Ausführungen im Aufenthaltsverbotsbescheid des BFA hinausgehend - wie folgt fest:
"Am 27.12.2005 wurden sie wegen Körperverletzung gem. § 83 StGB und 3-mal schwerer Nötigung gem. § 106 StGB diversionell verurteilt.
Am 19.01.2008 erfolgte seitens der PI Linz Bürgerstraße eine Anzeige gegen sie wegen § 84 StGB (schwere Körperverletzung).
Am 17.08.2011 erfolgte seitens der PI Linz Kaarstraße eine Anzeige gegen sie wegen § 107 StGB (gefährliche Drohung).
...
Am 15.01.2014 wurden sie seitens des LG Linz zufolge der Straftat vom 17.08.2011 wegen gefährlicher Drohung gem. § 107/1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt.
...
Am 12.05.2015 wurden sie seitens des BG Steyr zufolge der Straftat vom 15.05.2014 gem. § 198/1 StGB wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 1 Monat verurteilt.
...
Am 13.06.2018 wurden sie seitens des BG Steyr zufolge der Straftat vom 01.06.2017 wegen Diebstahl gem. § 127 StGB verurteilt."
7 Der Revisionswerber sei - so das BVwG weiter - infolge seiner Ehe mit einer rumänischen Staatsangehörigen begünstigter Drittstaatsangehöriger. Er habe sich 2008 von seiner ersten Ehefrau getrennt, die angesichts schwerer körperlicher Übergriffe auf sie nicht mehr gewillt gewesen sei, die 2009 aus alleinigem Verschulden des Revisionswerbers geschiedene Ehe fortzusetzen. Bereits ein Vorfall aus 2004 habe zu einem außergerichtlichen Tatausgleich zwischen dem Revisionswerber und seiner damaligen Ehefrau geführt. Die Verurteilung wegen gefährlicher Drohung (offenbar gemeint: Urteil vom 15. Jänner 2014) sei erfolgt, weil der Revisionswerber den Geschädigten mit der Zufügung zumindest einer Körperverletzung bedroht habe. Für seinen Sohn (gemeint: jenen aus erster Ehe) habe der Revisionswerber in der Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 12. Mai 2015 keinen Unterhalt geleistet, was "letztlich zu dieser entsprechenden Verurteilung führte". Bei der Verurteilung nach § 127 StGB - "zu einer Geldstrafe", wie an anderer Stelle vom BVwG festgehalten - habe das zuständige Gericht keinen Milderungsgrund festgestellt, jedoch "als erschwerend eine einschlägige Vorstrafe (bei zwei Vorstrafen insgesamt)."
8 Zusammenfassend ging das BVwG der Sache nach davon aus, dass sich aus dem strafbaren Verhalten des Revisionswerbers eine Gefährdung im Sinn des § 67 Abs. 1 FPG ableiten lasse, was die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes ungeachtet der erheblichen privaten und familiären Anknüpfungspunkte des Revisionswerbers im Bundesgebiet rechtfertige. Ein Aufenthaltsverbot in der Dauer von fünf Jahren stehe jedoch "im Vergleich zum konkreten Unrechtsgehalt der begangenen Straftaten unter Berücksichtigung sämtlicher sonstiger Erwägungen außer Relation."
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens (eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet) erwogen hat:
10 Der Revisionswerber ist unstrittig begünstigter Drittstaatsangehöriger. Er kann demnach gemäß § 67 Abs. 1 FPG mit einem Aufenthaltsverbot belegt werden, was allerdings gemäß dem ersten bis vierten Satz der genannten Bestimmung nur dann zulässig wäre, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
11 Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa VwGH 19.5.2015, Ra 2014/21/0057, mwN, oder VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0007, Rn. 6).
12 Das BVwG stellte das dem Revisionswerber zur Last liegende und den Grund für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes bildende Fehlverhalten nur rudimentär dar, und zwar im Wesentlichen - die in Rn. 7 wiedergegebenen "Tatbeschreibungen" gehen kaum darüber hinaus - nur durch Angabe des Tatzeitpunktes bzw. Tatzeitraumes, des verwirklichten Delikts und - soweit es zu Verurteilungen kam - des Gerichtes, des Urteilsdatums und der verhängten Strafen. Eine derartige "Kurzdarstellung" reicht allerdings nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose aus (vgl. etwa VwGH 24.3.2015, Ra 2014/21/0049). Vielmehr wären konkrete Feststellungen zu den einzelnen Straftaten des Revisionswerbers erforderlich gewesen.
13 Dass das unterblieben ist, steht nicht nur einer tauglichen Gefährdungsprognose entgegen, sondern macht auch die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG im Ergebnis nicht nachvollziehbar, bleibt doch offen, in welchem Ausmaß öffentliche Interessen den - auch vom BVwG festgestellten - erheblichen privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland entgegenstehen. Insoweit bemängelt die Revision in ihrer Zulassungsbegründung die vorgenommene Interessenabwägung mit Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und insgesamt als berechtigt erweist. Dass es nach der Lagerung des Falles überdies der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung bedurft hätte und nicht - wie vom BVwG argumentiert - von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG hätte ausgegangen werden dürfen (schon im Hinblick auf die verhängten Strafen kann vom Vorliegen eines "eindeutigen Falles" nicht die Rede sein; vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunktes im gegebenen Zusammenhang etwa nochmals VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0007, Rn. 10), sei der Vollständigkeit halber angemerkt.
14 Nach dem Gesagten war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
15 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
16 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 24. Jänner 2019
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