Normen
AsylG 2005 §57;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z5;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210024.L00
Spruch:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im Jahr 1970 im Bereich der Westsahara geborene Revisionswerber lebte nach eigenen Angaben von etwa 1980 bis 2004 in einem Lager bei Tindouf (kurz: T.) in Algerien und gelangte dann, unterbrochen von zum Teil längeren Aufenthalten in den nachstehend genannten Staaten, über Mauretanien, Spanien (Las Palmas), Frankreich und Italien in die Schweiz. Dort beantragte er am 8. Februar 2008 ohne Erfolg die Gewährung von Asyl. Am 18. Juli 2012 reiste er von der Schweiz nach Österreich weiter.
2 In Österreich beantragte der Revisionswerber am 19. Juli 2012 ebenfalls die Gewährung von internationalem Schutz. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2012 wies das Bundesasylamt diesen Antrag, verbunden mit einer Ausweisung nach Marokko - das Bundesasylamt ging davon aus, der Revisionswerber sei marokkanischer Staatsangehöriger -, vollinhaltlich ab.
3 Der Revisionswerber, der auch während des erwähnten Aufenthaltes in der Schweiz als Staatsangehöriger Marokkos angesehen worden war, hatte zu seinem Antrag auf internationalen Schutz ausgeführt, es wisse keiner, wem das Gebiet (seiner Herkunft) gehöre; Marokko und Algerien stritten darüber. Er wolle aber "nicht zu Marokko und auch nicht zu Algerien gehören". Im Fall einer Weiterreise vom Lager in Algerien nach Marokko (statt nach Mauretanien wie in Rn. 1 erwähnt) hätte er nämlich "dort nur ein Stück Papier bekommen und sonst nichts".
Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme (vor der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck zum Thema der Ausstellung eines Heimreisezertifikates) am 28. Jänner 2013 führte der Revisionswerber aus, er sei nicht damit einverstanden, dass seine Staatsangehörigkeit als "marokkanisch" festgehalten werde. Vielmehr sei er "Staatsangehöriger der Demokratischen Arabischen Republik Sahara".
In der im Verfahren zur Gewährung von internationalem Schutz erhobenen Beschwerde vom 16. Jänner 2013 hatte der Revisionswerber zum genannten Thema eingeräumt, es treffe zu, dass "Bewohner aus der Westsahara" wie er generell als Staatsangehörige Marokkos angesehen werden. Er erachte es aber als unwahrscheinlich, dass ihn Marokko als seinen Staatsbürger anerkenne. Er sei als staatenlos anzusehen. Den letztgenannten Standpunkt wiederholte er in der im Verfahren über den Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz am 2. September 2014 vor dem BVwG abgehaltenen Beschwerdeverhandlung.
4 Das Bundesministerium für Inneres hatte im Wege der Österreichischen Botschaft in Rabat in Marokko Erkundigungen angestellt, die (letztlich zusammengefasst in einer Stellungnahme vom 10. Dezember 2014) zum Ergebnis gelangten, komme ein Kind (auch als Nomaden lebender Personen) in der Westsahara zur Welt und werde die Geburt gemeldet, was Vorschrift sei, so erhalte das Kind die marokkanische Staatsbürgerschaft. Als der Revisionswerber geboren worden sei, sei das Gebiet der Westsahara jedoch unter spanischer Hoheitsverwaltung gestanden; es habe daher nicht festgestellt werden können, ob der Revisionswerber marokkanischer Staatsbürger sei.
5 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies mit Erkenntnis vom 25. Jänner 2016 die gegen den (in Rn. 2 erwähnten) Bescheid vom 21. Dezember 2012 erhobene Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass dem Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug "auf den Herkunftsstaat Algerien" - der Revisionswerber sei staatenlos, Algerien sei der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes - keine Berechtigung zukomme. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen. Dieses Erkenntnis ist unbekämpft geblieben.
6 Mit Bescheid vom 16. März 2016 erteilte das BFA dem (vom BFA mangels Möglichkeit, "verlässliche Feststellungen" zu treffen, als staatenlos angesehenen) Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß den §§ 57 und 55 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Algerien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG setzte es die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Dezember 2017 wies das BVwG die gegen den Bescheid des BFA vom 16. März 2016 erhobene Beschwerde nach mündlicher Verhandlung (vom 29. Mai und 4. Juli 2017) mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass (nur) eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen nicht erteilt, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt werde, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Marokko zulässig sei. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Im Rahmen der letztmaligen Erörterung der Frage der Staatsangehörigkeit (in der vor dem BVwG am 29. Mai 2017 abgehaltenen mündlichen Verhandlung) führte der Revisionswerber wörtlich aus: "Ich wurde in der Sahara geboren. Ich lebte in T. Für mich ist es unerheblich, ob ich in Algerien oder Marokko lebe. Ich bin aus der Sahara. Die Algerier unterstützen die Sahara, weil sie gegen Marokko sind. Ich bin staatenlos." Auf Vorhalt der früheren Annahme "der Behörde", dass er aus Algerien stamme, antwortete er: "Ich habe gesagt, dass ich aus Nordafrika komme. Das sind Marokko, Algerien, Tunesien. Darunter ist Sahara. Früher war Sahara frei, später kamen Probleme mit der Sahara. Marokko akzeptiert das nicht. Algerien hat einen Wunsch, es will nicht, dass Marokko die Sahara integriert. ..."
9 Begründend ging das BVwG in seinem Erkenntnis von einer durch Geburt im Gebiet der Westsahara erlangten marokkanischen Staatsangehörigkeit des Revisionswerbers aus; für Personen wie ihn würden marokkanische Reisepässe ausgestellt, sie hätten jederzeit die Möglichkeit, einen solchen zu beantragen und bekämen diesen auch "unter normalen Umständen".
Die Eltern des Revisionswerbers seien im Jahr 1980, als er ca. 10 Jahre alt gewesen sei, ums Leben gekommen. Zuerst sei sein Vater durch die "Frente Polisario" getötet worden. Seine Mutter, mit der er in dem in Algerien gelegen Camp T. gelebt habe, sei drei Monate danach verstorben. Er selbst sei in diesem Camp aufgewachsen, habe dort rund 24 Jahre gelebt, jedoch keine Schul- und Berufsausbildung erfahren, sondern einfache Hilfstätigkeiten verrichtet. Zu seiner Schwester, die im Camp T. bei einer Pflegefamilie aufgewachsen sei, habe er keinen Kontakt.
Im Rahmen seiner Abwägung nach § 9 BFA-VG knüpfte das BVwG unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) daran an, dass der in der Westsahara geborene Revisionswerber im Flüchtlingslager T. in Algerien aufgewachsen sei, wo er rund 24 Jahre seines Lebens verbracht habe. Er spreche "nach wie vor seine Muttersprache" und sei mit den regionalen Gebräuchen und Eigenheiten seiner Herkunftsregion vertraut, sodass von einer "Hauptsozialisierung" in Algerien auszugehen sei. Auch von einer vollkommenen Entwurzelung könne von daher nicht gesprochen werden.
Während seines seit 19. Juli 2012 andauernden Aufenthalts in Österreich habe er gute Deutschkenntnisse erworben. Er sei unbescholten, gesund und - näher dargestellt - ehrenamtlich vor allem im Bereich der Betreuung von Asylwerbern tätig gewesen, wobei Sozialkontakte auch zu österreichischen Staatsbürgern entstanden seien. Seit rund zwei Jahren bestehe eine Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Dieser Umstand sei jedoch auf Grund des Fehlens eines gemeinsamen Wohnsitzes (die Lebensgefährtin lebe in Oberösterreich, der Revisionswerber im Westen Tirols) und deshalb relativiert, weil die Beziehung zu einem Zeitpunkt entstanden sei, als sich die Beteiligten seines unsicheren Aufenthalts bewusst gewesen seien. Unter Berücksichtigung des hohen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen sei der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers ungeachtet seiner gezeigten außerordentlichen Integrationsbemühungen iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK insgesamt als verhältnismäßig anzusehen. Auch lägen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht vor.
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG sei festzustellen, dass eine Abschiebung des Revisionswerbers "nach Algerien" zulässig sei. Dafür, dass ihm im Falle einer Rückkehr "nach Algerien" die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre, gäbe es keinen Anhaltspunkt. Der Revisionswerber sei volljährig, gesund und arbeitsfähig. Wenn er auch keine Schul- und Berufsausbildung aufweise, habe er bislang durch die Ausübung von Gelegenheitsarbeiten in Algerien seinen Lebensunterhalt verdient. Die Wiederaufnahme einer adäquaten Tätigkeit in Algerien zum Verdienst des Lebensunterhalts erscheine möglich. Ebenso sei allgemein in Algerien keine außergewöhnlich hohe, auf ein reales Risiko iSd Art 2 und 3 EMRK hinweisende Gefährdungslage zu erkennen.
10 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:
11 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - als unzulässig zurückzuweisen.
Im Übrigen - die Rückkehrentscheidung und die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend - erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.
12 Die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, insbesondere der hier in Rede stehenden Rückkehrentscheidung, setzt nach § 9 Abs. 1 BFA-VG unter dem dort genannten Gesichtspunkt eines Eingriffs in das Privatund/oder Familienleben voraus, dass ihre Erlassung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Im Zuge dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. grundlegend zur seit dem 1. Jänner 2014 geltenden Rechtslage VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101, Punkte 3.2. und 3.3. der Entscheidungsgründe).
13 Im Rahmen der so gebotenen Interessenabwägung kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) auch der Frage Bedeutung zukommen, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in diesen Staat eine Existenzgrundlage schaffen kann (vgl. das eben genannte Erkenntnis VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101, Punkte 4.1. und 4.2. der Entscheidungsgründe; siehe darauf bezugnehmend etwa auch VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119, am Ende von Punkt 2.3. der Entscheidungsgründe, sowie VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0135).
14 Das BVwG ging in diesem Zusammenhang zunächst von einer marokkanischen Staatsangehörigkeit des Revisionswerbers aus und erklärte dessen Abschiebung nach Marokko für zulässig. In der Folge beurteilte es dagegen - in unaufgeklärtem Widerspruch zu dieser Feststellung - die Möglichkeit der Schaffung einer Existenzgrundlage nach der Situation in Algerien, ohne allerdings zum Ausdruck zu bringen, dass der Revisionswerber rein faktisch dorthin abgeschoben werden oder freiwillig "zurückkehren" könne.
Eine entsprechende Beurteilung der Situation in Marokko ist dagegen - ungeachtet dessen, dass nur in Bezug auf diesen Staat eine Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG getroffen wurde -, unterblieben. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als weder ein früherer Aufenthalt des Revisionswerbers in Marokko noch dort bestehende verwandtschaftliche Kontakte oder sonstige soziale Bindungen erwiesen wurden.
15 Insgesamt hat das BVwG somit keine tragfähige Beurteilung iSd § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG vorgenommen. Das ist deshalb von Relevanz, weil das BVwG dem Revisionswerber selbst außerordentliche Integrationsbemühungen zubilligt, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass es bei ordnungsgemäßer Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
16 Das angefochtene Erkenntnis ist somit im Umfang der Rückkehrentscheidung und der damit zusammenhängenden Aussprüche schon deshalb mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Es war insoweit daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere auf § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. April 2018
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