Normen
AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016180388.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Afghanistans, stellte am 23. September 2015 gemeinsam mit ihren Kindern den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag in Hinblick auf den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr jedoch im Rahmen des Familienverfahrens - aufgrund des Status des subsidiär Schutzberechtigten ihres Ehemannes - gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 subsidiären Schutz zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkte II. und III.).
3 Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA erhob die Revisionswerberin Beschwerde, in der sie unter anderem vorbrachte, aufgrund ihrer Lebensweise zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen mit westlichem Lebensstil zu gehören. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) führte sie ihr Vorbringen zu ihrem selbstständigen und selbstbestimmten Lebensstil, den sie sich in Österreich angeeignet habe, weiter aus. In Afghanistan habe sie ihr ganzes Leben im Haus der Schwiegereltern verbringen müssen. Ihr Schwiegervater habe über ihr Leben bestimmt, sie habe keine eigenen Entscheidungen treffen dürfen und die Burka tragen müssen. Dem habe sie sich gefügt, weil sie nichts anderes gekannt habe. Seit sie in Österreich sei, habe sie erfahren, dass Frauen auch in Freiheit leben und ein selbstbestimmtes Leben führen können. Nun wolle sie nicht mehr wie in Afghanistan leben. Hier entscheide sie über ihren Alltag, gehe mit den beiden jüngeren Söhnen außer Haus, besuche einen Deutschkurs, treffe ihre Entscheidungen selbst und führe ein selbständiges Leben.
4 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte es im Wesentlichen aus, es liege kein Verfolgungsgrund im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vor. Insbesondere sei die Revisionswerberin "auch jetzt (...) nicht westlich orientiert. Bei der Verhandlung trug sie ein Kopftuch und eine traditionelle pakistanische Bekleidung. Auch ihre Tochter (...) erschien vor dem Gericht mit einem Kopftuch."
5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit im Wesentlichen vorgebracht wird, das BVwG habe die westliche Orientierung der Revisionswerberin nicht gewürdigt. Sie führe ein selbstständiges Leben und würde bei Weiterführung ihrer Lebensweise in ihrer Heimat gegen gesellschaftliche Verhaltensnormen verstoßen. Die Revisionswerberin stamme aus einer "islamisch-konservativen" Familie und sei verheiratet worden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes könne von ihr nicht erwartet werden, dass sie ihr selbständiges Verhalten unterdrücke.
6 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Revision ist zulässig und auch begründet.
8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017- 0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen.
9 Wenn das BVwG in seinem angefochtenen Erkenntnis einen "westlichen Lebensstil" der Revisionswerberin bloß aufgrund ihres Erscheinens zur mündlichen Verhandlung mit einem Kopftuch und traditioneller Bekleidung verneint, verkennt es, dass allein dieser Umstand nicht gegen eine Lebensweise der Revisionswerberin im oben genannten Sinn spricht. Das BVwG hätte sich vielmehr damit auseinandersetzen müssen, wie es der Revisionswerberin erginge, wenn sie in der relevanten Herkunftsregion den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde (vgl. VwGH vom 15. Dezember 2015, Ra 2014/18/0118-0119). Das BVwG hätte somit, wie es die Revision zutreffend aufzeigt, auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Revisionswerberin - unter Heranziehung aktueller Länderberichte - die zu erwartenden Reaktionen auf die von ihr weiterhin angestrebte Lebensweise in ihrer Heimatregion in Afghanistan prüfen müssen, um das Vorliegen eines Konventionsgrundes beurteilen zu können.
10 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. März 2017
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