Normen
32013L0032 IntSchutz-RL;
AsylG 2005 §19 Abs2;
AsylG 2005 §20 Abs1;
AsylG 2005 §20 Abs2;
EURallg;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §25 Abs7;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016180119.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige Somalias, stellte am 27. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
2 Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Mitbeteiligte als Fluchtgrund an, sie sei von Mitgliedern der Al Shabaab bedroht und verfolgt worden.
3 Am 30. November 2015 fand die Einvernahme der Mitbeteiligten vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Revisionswerberin) statt. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab sie an, im Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt die Wahrheit gesagt zu haben. Sie habe jedoch über ihre Vergewaltigung nichts sagen können. Der Leiter der Amtshandlung, Herr R., teilte ihr daraufhin mit, dass sie bezüglich der Vergewaltigung zu einem späteren Zeitpunkt von Frau S. weiterbefragt werde. Im Übrigen führte Herr R. die Einvernahme zunächst fort; sie wurde in der Folge jedoch mangels Verfügbarkeit einer weiblichen Referentin abgebrochen.
4 Am 20. Jänner 2016 fand eine Einvernahme der Mitbeteiligten durch Frau S. (in Gegenwart einer weiblichen Dolmetscherin) statt, in welcher sie ihre Fluchtgründe ausführlich schilderte.
5 Mit Bescheid vom 15. März 2016 wies die Revsionswerberin den Antrag der Mitbeteiligten gemäß den §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab. Sie erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass die Abschiebung nach Somalia zulässig sei, wobei die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Die Revisionswerberin begründete die Abweisung der Gewährung von Asyl auf die Unglaubwürdigkeit der vorgebrachten Fluchtgründe. Der Bescheid wurde von Herrn R. stellvertretend für den Direktor unterfertigt; Herr R. ist auch auf der ersten Seite als Sachbearbeiter genannt.
6 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde, in welcher sie vorbrachte, wenn ein Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung vorgebracht werde, dürften nur Personen des gleichen Geschlechts zur Entscheidung berufen werden. Überdies sei die Unmittelbarkeit des Verwaltungsverfahrens verletzt worden, weil die Einvernahme und die Bescheiderlassung jeweils durch verschiedene Organwalter vorgenommen worden seien.
7 Mit dem angefochtenen Beschluss vom 26. April 2016 behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Revisionswerberin zurück. Zudem sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Begründend führte das BVwG aus, der Bescheid der Revisionswerberin erweise sich als mangelhaft, weil die Mitbeteiligte trotz ihres Vorbringens, Opfer eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gewesen zu sein, zwar von einer weiblichen Organwalterin einvernommen worden sei. Den bekämpften Bescheid habe aber ein männlicher Organwalter ausgefertigt. Im Sinne der Judikatur des Verwaltungs- und des Verfassungsgerichtshofes ergebe sich in Zusammenschau mit den in § 20 Abs. 1 AsylG 2005 festgesetzten Prinzipien, dass sich im Falle des Vorbringens von sexuellen Eingriffen als Fluchtgrund bereits durch die entsprechende Behauptung die Zuständigkeit (nicht nur zur Einvernahme, sondern auch zur Ausfertigung der Entscheidung) einer (in diesem Fall) weiblichen Organwalterin ergebe. Dies insbesondere auch deswegen, weil eine in einem solchen Fall durch einen männlichen Organwalter vorgenommene Beweiswürdigung - auch wenn sie nur die Frage beträfe, ob dem Vorbringen zumindest ein "glaubhafter Kern" zukomme - mit dem in § 20 Abs. 1 AsylG 2005 aufgestellten Erfordernis nicht in Einklang zu bringen sei. Nur dann, wenn sowohl die Einvernahme als auch die Glaubwürdigkeitsprüfung des vorgebrachten sexuellen Eingriffs von einer Person desselben Geschlechts vorgenommen werde, könne dem in § 20 Abs. 1 AsylG 2005 aufgestellten Erfordernis ausreichend Rechnung getragen werden.
Im fortgesetzten Verfahren sei dieser Verfahrensmangel zu sanieren. Die dargelegten Mängel müssten insgesamt jedenfalls als maßgeblicher Mangel angesehen werden, welcher einer neuen Einvernahme und Entscheidung durch dieselbe weibliche Organwalterin bedürfe. Für das BVwG erweise sich der vorliegende Sachverhalt daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen diesbezüglich unerlässlich erscheinen würden.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das BVwG könne nicht im Sinne des Gesetzes sein, da so die maßgebliche Beurteilung des Vorbringens der Mitbeteiligten erstmals vor dem BVwG als gerichtlicher Beschwerdeinstanz erfolgen würde. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das BVwG im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre, sei angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes nicht ersichtlich.
8 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA. Zur Zulässigkeit wird darin unter anderem vorgebracht, das BVwG sei vom Grundsatz der meritorischen Entscheidungspflicht und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil der Sachverhalt bereits im Rahmen der Einvernahme durch eine weibliche Organwalterin ausreichend ermittelt und geklärt worden sei. Auch bestehe für das behördliche Verwaltungsverfahren kein Grundsatz der Unmittelbarkeit und kein Grundsatz der festen Geschäftsverteilung. Das AsylG 2005 sehe seit dem Inkrafttreten des FrÄG 2015 keinen Vorrang der Entscheidung durch die einvernehmende Person mehr vor. Zudem fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 entsprechend lediglich die Einvernahme oder auch die Genehmigung des verwaltungsbehördlichen Bescheids von einer Person desselben Geschlechts vorgenommen werden müsse.
9 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision ist wegen der aufgezeigten Rechtsfragen
zulässig, sie ist auch begründet.
11 Die maßgebliche Bestimmung des § 20 AsylG 2005,
BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle
Selbstbestimmung
§ 20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs. 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(...)"
Der Verwaltungsgerichtshof hat zu § 20 Abs. 2 AsylG 2005 bereits ausgesprochen, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken soll (vgl. VwGH vom 27. Juni 2016, Ra 2014/18/0161, mwN). Dieser Gedanke liegt auch § 20 Abs. 1 AsylG 2005 zugrunde, der die Einvernahme im verwaltungsbehördlichen Verfahren regelt und auf dem § 20 Abs. 2 leg. cit. aufbaut (vgl. auch die Gesetzesmaterialien, RV 952 BlgNR 22. GP , 45, die im Hinblick auf den Sinn des Abs. 1 und 2 nicht differenzieren).
12 Im vorliegenden Fall hat die Befragung der Mitbeteiligten zu ihren Fluchtgründen, die sich unstrittig auf Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung bezogen, eine weibliche Organwalterin der Revisionswerberin (unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin) durchgeführt. Damit wurde dem Zweck des Abbaus von Hemmschwellen, über das Erlebte (oder Befürchtete) zu berichten, und somit der Bestimmung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 Rechnung getragen. Dass darüber hinaus auch die Erlassung der Entscheidung durch dieselbe weibliche Organwalterin erfolgen hätte müssen, lässt sich für das verwaltungsbehördliche Verfahren - entgegen der Ansicht des BVwG - weder aus dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes ableiten.
13 In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass § 19 Abs. 2 AsylG 2005 idF vor dem FrÄG 2015, BGBl. I Nr. 70/2015, vorsah, dass - soweit dies ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich war - der Asylwerber persönlich von dem zur jeweiligen Entscheidung berufenen Organ des Bundesamtes einzuvernehmen war. Die damit normierte eingeschränkte (persönliche) Unmittelbarkeit im Verfahren vor dem BFA ist jedoch mit dem FrÄG 2015 entfallen. Zur Begründung wird in den Gesetzesmaterialien (582 BlgNR 25. GP , 13) darauf hingewiesen, dass die Neufassung der Verfahrensrichtlinie das in § 19 Abs. 2 AsylG 2005 alte Fassung vorgesehene Unmittelbarkeitsprinzip nicht vorsehe und daher eine Anpassung an das Unionsrecht stattfinde (vgl. dazu die Art. 14 bis 17 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie), die ausführliche Regelungen über die persönliche Anhörung von Asylwerbern vorsehen, aber nicht anordnen, dass auch die Entscheidung von den anhörenden Organwaltern getroffen werden muss). Auch das AVG kennt im Allgemeinen den Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 55 Rz 1 ff und die dort wiedergegebene Judikatur).
14 Anders als in Verfahren vor den Verwaltungsgerichten (vgl. § 25 Abs. 7 VwGVG) ist es daher im verwaltungsbehördlichen Verfahren vor dem BFA nicht zwingend erforderlich, dass das einvernehmende Organ zugleich auch das zur Entscheidung berufene Organ ist.
15 Ausgehend davon erweist sich die vom BVwG angenommene Rechtsansicht, die Erlassung des Bescheides durch einen männlichen Organwalter stelle einen "maßgeblichen Mangel" dar, als verfehlt. Schon aus diesem Grund fehlt eine tragfähige Begründung dafür, dass das BVwG, obwohl der prinzipielle Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch die Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt ist und die nach § 28 VwGVG von der meritorischen Entscheidungspflicht verbleibenden Ausnahmen strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken sind (vgl. aus der ständigen hg. Judikatur etwa VwGH vom 27. April 2016, Ra 2015/05/0069, mwN), gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG eine kassatorische Entscheidung über die Beschwerde getroffen hat.
16 Das BVwG hat somit, wie dargestellt, die Rechtslage verkannt, weshalb der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.
Wien, am 12. Oktober 2016
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