Normen
AsylG 2005 §18 Abs1;
AsylG 2005 §18;
AsylG 2005 §3;
AufwandersatzV VwGH 2014 §1 Z1 lita;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
VwGG §24a;
VwGG §33 Abs1;
VwGG §38 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGG §56 Abs1;
VwGG §61;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §28;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2015180082.L00
Spruch:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren der fünftrevisionswerbenden Partei wird abgewiesen.
Begründung
I.
1. Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer Familie bestehend aus den Eltern (dem Erstrevisionswerber und der Viertrevisionswerberin), zwei minderjährigen Söhnen (dem Zweit- und Drittrevisionswerber), einem volljährigen Sohn (dem Fünftrevisionswerber) und einer volljährigen Tochter (der Sechstrevisionswerberin); alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe.
2.1. Die erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien sowie die Sechstrevisionswerberin stellten am 14. Dezember 2011 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund brachten sie zusammengefasst vor, der Erstrevisionswerber, der als Arzt tätig und politisch aktiv gewesen sei, habe in Tschetschenien Probleme gehabt, weil er mehrmals Widerstandskämpfer medizinisch versorgt habe. Unter anderem sei er im Oktober 2011 von bewaffneten Militärangehörigen angehalten und zusammengeschlagen worden. Auch das Haus der Familie sei angezündet worden. Nachdem schließlich der älteste Sohn der Familie, der Fünftrevisionswerber, am 25. November 2011 entführt worden sei, hätten die übrigen Familienmitglieder das Herkunftsland verlassen.
2.2. Mit Bescheiden jeweils vom 14. August 2012 wies das Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) die Anträge der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien und der Sechstrevisionswerberin gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und die genannten revisionswerbenden Parteien aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus (Spruchpunkt III.).
Das Bundesasylamt ging in seiner Entscheidung von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus und stützte sich dabei unter anderem auf Widersprüche zwischen der Aussage des Erstrevisionswerbers und der Aussage der Sechstrevisionswerberin, weil Letztere etwa die Entführung des Fünftrevisionswerbers nicht geschildert habe.
2.3. Im Beschwerdeverfahren führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 14. Oktober 2014 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Erstrevisionswerber und die Viertrevisionswerberin einvernommen wurden.
In der Folge wies das BVwG die Beschwerden der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien sowie der Sechstrevisionswerberin jeweils mit Erkenntnissen vom 12. Februar 2015 gemäß §§ 3 und 8 AsylG 2005 als unbegründet ab, behob jeweils Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide und verwies die Angelegenheiten diesbezüglich gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück. Die Revisionen erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
Das BVwG ging in den im Wesentlichen gleichlautenden Entscheidungen unter Verweis auf Widersprüche, Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten von der Unglaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens aus.
3.1. Der Fünftrevisionswerber reiste am 1. September 2012 in Österreich ein und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, er sei im November 2011 auf dem Schulweg in A entführt und in der Folge neun Monate geschlagen und gefoltert worden. Die Entführer hätten seinen Vater, den Erstrevisionswerber, zwingen wollen, eine eingebrachte Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückzuziehen. Sie hätten auch verlangt, dass sein Vater wieder nach Tschetschenien zurückkomme. Nachdem sein Onkel den Entführern schließlich Geld bezahlt habe, sei er am 27. August 2012 freigelassen worden.
3.2. Mit Bescheid vom 21. November 2014 wies das BFA den Antrag des Fünftrevisionswerbers ebenfalls gemäß §§ 3 und 8 AsylG 2005 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, es sei nicht davon auszugehen, dass der Fünftrevisionswerber wie behauptet am Tag der Entführung in A aufhältig gewesen sei. Darüber hinaus habe das BFA nicht erkennen können, welches Ziel die Entführung verfolgt haben solle, und es sei auch wenig glaubhaft, dass sich die Entführer die Mühe gemacht haben sollte, den Fünftrevisionswerber über einen derart langen Zeitraum festzuhalten, zu bewachen und zu versorgen, um sich schließlich mit der Zahlung von Geld zufrieden zu geben. Auch der Gesundheitszustand des Fünftrevisionswerbers bei der Asylantragstellung - vier Tage nach der angeblichen Freilassung und nach monatelangem Aufenthalt in einem Kellerverlies mit schlechter Ernährung und Misshandlung - hätte mit Sicherheit zu einer medizinischen Behandlung bzw. Aufnahme in ein Krankenhaus in Österreich führen müssen. Zudem habe seine Schwester, die Sechstrevisionswerberin, in ihrer Einvernahme nicht von einem entführten Bruder berichtet. In Zusammenfassung seiner Angaben und unter Berücksichtigung der Angaben seiner Angehörigen - nicht zuletzt der Aussage seiner Eltern in der Verhandlung vor dem BVwG am 14. Oktober 2014 - sei der Schluss zu ziehen, dass es sich bei dem Vorbringen um ein reines Konstrukt handle und er damit nicht in der Lage sei, Verfolgung oder wohlbegründete Furcht vor einer solchen glaubhaft darzustellen.
3.3. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde beantragte der Fünftrevisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und trat den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA im Einzelnen mit konkreten Argumenten zur Aufklärung der ihm vorgeworfenen Widersprüche und Unplausibilitäten entgegen. Er legte eine Passkopie zum Nachweis bei, dass er sich am 25. November 2011 in der Stadt A registriert habe und erläuterte den Grund seiner Entführung. Weiters brachte er vor, er habe medizinische Hilfe gebraucht, als er nach Österreich gekommen sei, allerdings habe er sich auf den Beinen halten können und das sei für ihn ausreichend gewesen. Es habe ihm Angst gemacht irgendwohin zu gehen und mit jemandem zu sprechen. Er leide weiterhin an den Folgen der schlechten Ernährung und der schlechten Bedingungen während der Entführung. Zum Vorwurf, seine Schwester habe nichts von seiner Entführung berichtet, gab der Fünftrevisionswerber an, ihr sei bei der Einvernahme keine Frage über seine Entführung gestellt worden. Sie habe jedoch seit der Entführung mehr als 15 kg abgenommen und hätte zusammen mit ihm eine Behandlung beim Psychologen gemacht und starke Psychopharmaka eingenommen. Sie glaube, dass sie selbst Entführungsopfer sein hätte können.
3.4. Mit Erkenntnis vom 12. Februar 2015 wies das BVwG ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung auch die Beschwerde des Fünftrevisionswerbers im Hinblick auf §§ 3 und 8 AsylG 2005 als unbegründet ab. Zudem behob es Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides und verwies die Angelegenheit diesbezüglich gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
Auch in dieser Entscheidung ging das BVwG von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus. Es stützte dies im Hinblick auf die behauptete Entführung des Fünftrevisionswerbers im Wesentlichen auf Widersprüche zwischen den Aussagen des Erstrevisionswerbers und der Viertrevisionswerberin in der mündlichen Verhandlung und jener des Fünftrevisionswerbers vor dem BFA.
4. Gegen die Erkenntnisse des BVwG vom 12. Februar 2015 richten sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, in denen zur Zulässigkeit und in der Sache (unter anderem) vorgebracht wird, das BVwG sei im Hinblick auf den Fünftrevisionswerber von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen. Die behauptete Entführung des Fünftrevisionswerbers stehe aber auch in einem untrennbaren, sachlichen Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen der übrigen Familienmitglieder, weshalb das BVwG seine Ermittlungspflichten verletzt habe, indem es den Fünftrevisionswerber nicht einvernommen habe.
5. Die belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres sachlichen, rechtlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbundenen Revisionen erwogen:
- 1. Die Revisionen sind zulässig und begründet.
- 2. Zur Revision des Fünftrevisionswerbers:
2.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts folgende Kriterien beachtlich:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
2.2. Diese in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen hat das BVwG im Fall des Fünftrevisionswerbers nicht erfüllt. Der Fünftrevisionswerber hat die verwaltungsbehördliche Beweiswürdigung in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert bestritten, sondern ist den beweiswürdigenden Erwägungen konkret und im Einzelnen entgegen getreten. Das BVwG konnte daher nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
3. Zu den Revisionen der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien sowie der Sechstrevisionswerberin:
3.1. § 18 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:
"Ermittlungsverfahren
§ 18. (1) Das Bundesamt und das Bundesverwaltungsgericht haben in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
(...)"
3.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt (vgl. etwa VwGH vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN).
Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. zur inhaltsgleichen Bestimmung früherer Rechtslagen etwa VwGH vom 14. Dezember 2000, 2000/20/0494).
3.3. Das BVwG ging in den angefochtenen Entscheidungen unter anderem davon aus, dass die behauptete Entführung des Fünftrevisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Es stützte sich dabei im Wesentlichen auf die Aussagen des Erstrevisionswerbers und der Viertrevisionswerberin in der mündlichen Verhandlung sowie auf die Aussage des Fünftrevisionswerbers vor dem BFA.
Wie die Revisionen der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien sowie der Sechstrevisionswerberin zu Recht vorbringen, stellt die behauptete Entführung des Fünftrevisionswerbers ein zentrales Element des Fluchtvorbringens aller revisionswerbenden Parteien dar. Das BVwG hätte sich in diesem Zusammenhang nicht mit einem mittelbaren Beweis zufrieden geben dürfen, wenn der Aufnahme des unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegenstand. Unmittelbarkeit im Hinblick auf die Aussage eines Zeugen bedeutet die Einvernahme vor dem Verwaltungsgericht (vgl. VwGH vom 31. Jänner 2014, 2013/02/0227, mwN).
Das BVwG hätte den Fünftrevisionswerber daher zur Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts und somit insbesondere der Frage, ob er tatsächlich entführt wurde, als Zeugen einvernehmen müssen, zumal sich dieser zum Zeitpunkt der erwähnten mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2014 schon in Österreich aufgehalten hat. Indem das BVwG den Fünftrevisionswerber im Verfahren der übrigen revisionswerbenden Parteien trotz seiner zentralen Rolle für das Fluchtvorbringen nicht als Zeugen geladen hat, ist ihm ein gravierender Verstoß gegen die in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierte amtswegige Ermittlungspflicht und sohin gegen einen tragenden Grundsatz des Verfahrensrechts unterlaufen.
4. Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher - auch in Bezug auf die aufbauenden Entscheidungen betreffend den subsidiären Schutz und die Zurückverweisungen betreffend die Spruchpunkte III. der verwaltungsbehördlichen Bescheide - zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da der Fünftrevisionswerber auf Grund des von ihm gestellten Antrages auf Gewährung der Verfahrenshilfe von der Entrichtung der Eingabengebühr befreit wurde, war das den Ersatz dieser Gebühr ansprechende Mehrbegehren abzuweisen.
Wien, am 20. Oktober 2015
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