VwGH Ra 2014/19/0152

VwGHRa 2014/19/015228.4.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn, die Hofräte Mag. Eder und Mag. Feiel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie den Hofrat Dr. Pürgy als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schmidt, über die Revision des A W M in K, vertreten durch MMag. Dr. Werner Hochfellner, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Neuer Platz 5/III, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Oktober 2014, Zl. W220 1423821-1/5E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem Asylgesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, somit in seinem Spruchpunkt I., wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste am 27. Oktober 2011 unrechtmäßig nach Österreich ein und stellte am folgenden Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Er machte im Zuge der Antragstellung geltend, sein Bruder, der sich für die englische Sprache interessiert habe, hätte einen Drohbrief von den Taliban erhalten. Etwa zwei Wochen später wäre der Leichnam seines Bruders zum Haus der Familie gebracht worden. In weiterer Folge habe auch er einen Brief von den Taliban erhalten und sei darin zur Zusammenarbeit mit den Taliban aufgefordert worden. Daraufhin habe er die Flucht ergriffen.

Das Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Dezember 2012 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab. Unter einem wurde der Revisionswerber nach Afghanistan ausgewiesen.

In ihrer Begründung führte die Verwaltungsbehörde aus, der Revisionswerber habe sich beim Darstellen der Fluchtgründe auf bloß inhaltsleere Behauptungen beschränkt und massiv widersprüchliche Angaben getätigt. Er habe die Ermordung des Bruders bloß abstrakt behauptet und habe keine Angaben zum Zeitpunkt des Vorfalles gemacht. Hintergründe oder Motive zur Ermordung des Bruders habe der Revisionswerber nicht nennen können und er habe auch keine konkreten und somit nachvollziehbaren Angaben zu den Drohbriefen der Taliban tätigen können. Es sei davon auszugehen, dass es sich bei den Behauptungen rund um die Kontakte mit den Taliban beziehungsweise zu der Ermordung des Bruders um eine gedankliche Konstruktion handle. Unter anderem seien die Angaben über den Fundort des Leichnams massiv widersprüchlich gewesen. Bei seiner Erstbefragung habe der Revisionswerber angegeben, der Leichnam des Bruders sei "hinter unser Haus geworfen worden", bei der niederschriftlichen Einvernahme habe er hingegen angegeben, der Leichnam sei "vor unserem Haus abgelegt worden".

Der Revisionswerber sei eine erwachsene, gesunde, männliche und arbeitsfähige Person, die im Herkunftsstaat über ein soziales Netz verfüge. Ihm sei jedenfalls zumutbar, selbst für sein Auskommen zu sorgen. Es drohten ihm im Herkunftsstaat keine Gefahren, welche die Erteilung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden.

Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Asylgerichtshof und erstattete in weiterer Folge ein ergänzendes Vorbringen. Das Verfahren über die Beschwerde wurde gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende geführt.

Mit der nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof in Revision gezogenen Entscheidung vom 1. Oktober 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht in Spruchpunkt I. die Beschwerde betreffend die Erteilung von Asyl als unbegründet ab, behob hinsichtlich der Erteilung von subsidiären Schutz den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Verwaltungsbehörde zurück (Spruchpunkt II.A.). Die mit dem bekämpften Bescheid angeordnete Ausweisung nach Afghanistan wurde gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben (Spruchpunkt II.B). Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

In der Begründung stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, der Revisionswerber sei afghanischer Staatsangehöriger, stamme aus der Provinz Kunduz, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitischen Glauben. Die Identität des Revisionswerbers stehe nicht fest. Er leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit und verfüge über keine familiären, verwandtschaftlichen oder sonstigen intensiven Beziehungen in Österreich. Dass der Revisionswerber in seiner Heimat einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, habe nicht festgestellt werden können.

Beweiswürdigend schloss sich das Bundesverwaltungsgericht der Beurteilung der Verwaltungsbehörde an, wonach der Revisionswerber eine bestehende Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht habe glaubhaft machen können. Zu sehr zentralen Punkten seines Vorbringens seien vom Revisionswerber nur sehr ungenaue und schließlich sogar widersprüchliche Angaben getätigt worden. Er habe bezüglich der angeblichen Ermordung seines Bruders kein genaueres Datum anführen können und habe bloß von ungefähren Zeiträumen gesprochen. Außerdem sei er sich scheinbar bis zuletzt nicht darüber im Klaren gewesen, wo sein angeblich ermordeter Bruder aufgefunden worden sei. Wäre der Bruder tatsächlich ermordet worden, so hätte sich der Revisionswerber mit Sicherheit nicht nur zweifelsfrei an den Auffindungsort der Leiche, sondern wahrscheinlich sogar an das genaue Datum dieses Ereignisses erinnern können. Es sei auch, wie von der Verwaltungsbehörde zutreffend ausgeführt, nicht nachvollziehbar, dass der Revisionswerber nicht einmal den ungefähren Inhalt des an den Bruder gerichteten Drohbriefes wiedergeben habe können. Die Verwaltungsbehörde habe die erforderlichen Fragen zur Klärung des gegenständlichen Sachverhalts gestellt und auch rückgefragt.

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.

Die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG sei nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung abhänge. Es bestehe ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes beziehungsweise sei die Rechtslage ohnehin klar. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung seien weder in der Beschwerde vorgebracht worden noch sonst hervorgekommen.

Allein gegen Spruchpunkt I. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Die vor dem Bundesverwaltungsgericht belangte Behörde und die zuständige Bundesministerin erstatteten keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision - mit näherer Begründung - vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe. Da der Sachverhalt nicht zur Gänze ermittelt worden sei, hätte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.

Die Revision erweist sich als zulässig, sie ist auch begründet.

§ 24 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG)

lautet wie folgt:

"Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn

1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder

2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.

(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden."

§ 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) hat folgenden Wortlaut:

"Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§ 21. (...)

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten, dass das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG (selbst bei anwaltlich Vertretenen) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen hat, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 9. September 2014, Ro 2014/09/0049, vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/19/0085, und vom 22. Jänner 2015, Ra 2014/21/0019). Das ist nach der Rechtsprechung etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. Februar 2015, Ra 2014/19/0171).

Dies trifft auf das ergänzende Vorbringen des Revisionswerbers zu. Das Bundesverwaltungsgericht hatte demnach gemäß § 24 Abs. 1 zweiter Fall VwGVG auch ohne ausdrücklichen Antrag des Revisionswerbers eine Verhandlung von Amts wegen durchzuführen, es sei denn, andere gesetzliche Bestimmungen hätten es ermächtigt, davon Abstand zu nehmen. Fallbezogen kam dafür nur der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltene erste Tatbestand, auf den auch das Bundesverwaltungsgericht abgestellt hat, in Betracht.

In seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Im vorliegenden Fall wies der Revisionswerber in seinem ergänzenden Vorbringen darauf hin, er habe konkrete Zeitangaben bezüglich der Ermordung des Bruders getätigt. In der Erstbefragung hat der Revisionswerber angegeben, der Bruder sei vor sechs Monaten, also circa im Juni 2011, entführt worden. In der niederschriftlichen Einvernahme gab er ebenfalls an, der Bruder sei vor sieben oder siebeneinhalb Monaten entführt worden. Auch bezüglich des Auffindungsortes bestritt der Revisionswerber die Ergebnisse der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde, indem er den von der Verwaltungsbehörde ausgemachten Widerspruch zwischen den Angaben in der Erstbefragung und jenen während der niederschriftlichen Einvernahme bezüglich des Auffindungsortes des Leichnams mit einem Übersetzungsfehler erklärte und darauf hinwies, dass er diesen bereits bei der Rückübersetzung des Einvernahmeprotokolls berichtigt hätte.

Damit bestritt der Revisionswerber die verwaltungsbehördliche Beweiswürdigung nicht bloß unsubstantiiert, sondern versuchte mit konkreten Argumenten die vom Bundesasylamt im Rahmen seiner Beweiswürdigung angeführten Widersprüche zu entkräften. Angesichts dessen lagen vor dem Hintergrund der oben genannten Judikatur die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall nicht vor.

Die angefochtene Entscheidung war daher im - Umfang der Anfechtung, demnach im Ausspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 - gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. April 2015

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