VwGH Ra 2014/18/0078

VwGHRa 2014/18/007810.12.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revision des A M in W, vertreten durch Mag. Dr. Günter Harrich, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Margaretenstraße 91/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. Mai 2014, Zl. L514 1417055- 1/19E, betreffend eine Asylangelegenheit, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I. Sachverhalt und Revisionsverfahren:

1. Der Revisionswerber ist irakischer Staatsangehöriger jezidischen Glaubens. Er lebte bis zu seiner Ausreise im Dorf B in der Provinz N (nach Angaben des Revisionswerbers etwa 40 bis 45 Minuten Fahrzeit von der Provinzhauptstadt Mosul entfernt). Am 5. August 2010 beantragte der Revisionswerber internationalen Schutz in Österreich und brachte unter anderem vor, aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Jeziden im Irak verfolgt zu werden.

2. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2010 wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab; dem Revisionswerber wurde jedoch subsidiärer Schutz zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

3. Die gegen den abweisenden Teil des erstinstanzlichen Bescheides erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Seine Entscheidung begründete das BVwG unter anderem wie folgt:

"Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des (Revisionswerbers), in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

(...) Hinsichtlich der diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerde und in den Stellungnahmen zu den Länderberichten, wonach die allgemeine Lage im Irak in bestimmten Regionen für Jeziden besonders prekär sei und der (Revisionswerber) aus einem dieser Distrikte stamme, ist Folgendes auszuführen:

Im Bericht des Europäischen Zentrums für kurdische Studien wird zwar grundsätzlich ausgeführt, dass aufgrund ethnischreligiöser Auseinandersetzungen schon die bloße geographische Nähe zu Mosul ausreichend sei, um die Sicherheitslage im benachbarten Subdistrikt Baschika als deutlich fragwürdiger erscheinen zu lassen, als dies in anderen von Jeziden bewohnten Distrikten der Provinz N der Fall sei. Auch im Bericht des Auswärtigen Amtes vom 17.01.2013 wird ausgeführt, dass sich konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen landesweit ereignen, wobei die territorial umstrittene und ölreiche Region um Mosul und Mosul-Stadt einen Brennpunkt der Auseinandersetzungen markiert. Der (Revisionswerber) stammt jedoch weder aus der Provinzhauptstadt Mosul noch aus dem genannten angrenzenden Subdistrikt, sondern aus einem nördlich von Mosul gelegenen Dorf (B), im Distrikt T, in der Provinz N (...).

Im Bericht des Europäischen Zentrums für kurdische Studien werden auch hinsichtlich der in der Beschwerde zitierten 'no-goareas' für Jeziden lediglich die Großstädte Bagdad und Mosul genannt (...). Demgegenüber stammt der (Revisionswerber) aus einem Dorf, welches ausschließlich von Jeziden bewohnt ist. Die in diesem Bericht getroffene Einschätzung zur Sicherheitslage in der Heimatprovinz des (Revisionswerbers) N ist zwar davon geprägt, dass insgesamt der Level an Gewalt in der Provinz N höher ist als in anderen Teilen des Iraks. Innerhalb dieser Provinz gilt jedoch gerade der Bereich, aus welchem der (Revisionswerber) stammt, als besser gestellt bzw. als sicher.

Zur konkreten Situation der Jeziden im Distrikt T, wird festgehalten, dass diese vergleichbar mit derjenigen im Scheichan sei. Demnach verfügt auch T über eine direkte Anbindung an die de jure kurdisch verwalteten Gebiete und ist auch in T die Sicherheitslage vergleichsweise gut. Wie auch im Scheichan gibt es damit keine irakischen Armeeeinheiten in diesem Distrikt; die Sicherheit wird von Peschmergatruppen aufrechterhalten, welche auch durchaus hinsichtlich Jeziden als schutzwillig und schutzfähig angesehen werden können. Deren Kontrolle beschränkt sich allerdings im Wesentlichen auf die beiden Subdistrikte Al-Khosch und Fayda; der letzte kurdische Checkpoint befindet sich an der südlichen Zufahrt zur Stadt T. Generell ist aber die Sicherheitslage aufgrund der direkten Verbindung zu den de jure kurdisch verwalteten Gebieten im Distrikt T wesentlich sicherer als in der übrigen Provinz. Übergriffe auf Jesiden im Distrikt T sind nicht bekannt.

Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung aller vorliegenden Beweismittel (Vorbringen des (Revisionswerbers), spezifische Lageberichte, insbesondere jener des Europäischen Zentrums für kurdische Studien) kann jedoch nicht erkannt werden, dass dem (Revisionswerber) bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Ermordung oder sonstige Verfolgungshandlungen drohen würde. (...)"

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Zulassungsbegründung und in der Sache wird unter anderem geltend gemacht, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit der Frage der Verfolgung der Jeziden im Irak beschäftigt und es habe insbesondere veraltete Länderberichte verwendet. Zu Unrecht habe das BVwG auch den Beweisantrag des Revisionswerbers auf Einholung eines länderkundlichen Gutachtens über die Lage der Jeziden im Irak abgewiesen.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

II. Rechtslage:

§ 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 87/2012, lautet:

"Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht."

Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl. Nr. 55/1955, lautet (auszugsweise):

"Artikel 1

Definition des Ausdruckes 'Flüchtling'

A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer (...)

2. (...) aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutezs dieses Landes zu bedienen; (...)"

III. Erwägungen:

  1. 1. Die Revision ist zulässig und begründet.
  2. 2. Vorauszuschicken ist, dass der Revisionswerber eine asylrelevante Gefährdung seiner Person aufgrund der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Jeziden im Irak ableitet.

    Die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. das zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 ergangene, in seinen diesbezüglichen Erwägungen aber auch auf die aktuelle Rechtslage übertragbare Erkenntnis des VwGH vom 28. Mai 2009, 2008/19/1031, mwN).

    Das BVwG hatte unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Grundsätze zu beurteilen, ob die aktuelle Lage im Irak eine derartige Verfolgungsgefahr für den Revisionswerber begründet.

    3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den Asylbehörden zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen (vgl. VwGH vom 15. September 2010, 2008/23/0334, mwN). Auch das BVwG hatte daher seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen (vgl. VwGH vom 22. Oktober 2003, 2000/20/0355; zuletzt vom 23. September 2014, Ra 2014/01/0006). Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. in diesem Sinn auch VfGH vom 22. November 2013, U 2612/2012-17, und vom 20. Februar 2014,

    U 1919/2013 u.a.).

    4. Im gegenständlichen Fall ist das BVwG von diesen Leitlinien abgewichen:

    Das BVwG stützte seine Einschätzung, dem Revisionswerber drohe bei einer Rückkehr in sein Heimatland keine asylrelevante Verfolgung, vor allem auf einen Bericht des Europäischen Zentrums für kurdische Studien, der nach der Aktenlage vom 17. Februar 2010 stammt. Er war zum Entscheidungszeitpunkt also bereits mehr als vier Jahre alt und für die Einschätzung der aktuellen Lage im Irak nicht mehr geeignet. Ungeachtet dessen enthielt bereits dieser Bericht Hinweise auf die kritische Lage der Jeziden in der Heimatprovinz des Revisionswerbers. So wurde angeführt, dass es in der Provinzhauptstadt Mosul sogenannte "no-go-areas" für Jeziden gebe und die bloße geografische Nähe zu Mosul ausreichend sei, um aufgrund ethnisch-religiöser Auseinandersetzungen Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Jeziden zu haben. Auch der vom BVwG nur hilfsweise herangezogene und auszugsweise zitierte Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 17. Jänner 2013 bezeichnete die Region um Mosul und Mosul-Stadt als Brennpunkt der konfessionell motivierten Auseinandersetzungen, die mit Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen einhergingen.

    Ausgehend davon und aufgrund der allgemein bekannten instabilen Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers hätte sich das BVwG nicht damit begnügen dürfen, seine Entscheidung tragend auf einen mehrere Jahre alten Bericht über die Lage der Jeziden im Irak zu stützen, sondern hätte aktuelles Berichtsmaterial beschaffen und verwerten müssen. Es lässt sich auch nicht ausschließen, dass bei dieser Vorgehensweise ein anderes Verfahrensergebnis erzielt werden hätte können, weshalb das angefochtene Erkenntnis mit einem (relevanten) Verfahrensmangel belastet ist.

    Dass die vom Revisionswerber beantragte mündliche Verhandlung vor dem BVwG trotz substantiierter Bestreitung der ihm zur Kenntnis gebrachten Länderberichte in einer Stellungnahme vom 12. November 2013 nicht stattgefunden hat, braucht bei diesem Ergebnis nicht weiter behandelt zu werden.

    5. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

    Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

    Wien, am 10. Dezember 2014

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