VwGH Ra 2014/01/0186

VwGHRa 2014/01/018615.3.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher, im Beisein der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision des N A in W, vertreten durch Dr. Julia Ecker, Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. September 2014, Zl. W168 1404568- 1/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs4;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs4;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 9. November 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Im Rahmen seiner Einvernahmen vor dem Bundesasylamt brachte der zum damaligen Zeitpunkt fünfzehnjährige Revisionswerber zusammengefasst vor, er sei von einer islamistischen Gruppierung ("Mukhaawimo") aufgefordert worden, für sie zu kämpfen. Die Männer hätten ihn festgenommen und geschlagen. Als Grund für die versuchte Zwangsrekrutierung vermute er seine Stammeszugehörigkeit. Für den Fall seiner Rückkehr befürchte er von dieser Gruppierung getötet zu werden.

3 Mit Bescheid vom 4. Februar 2009 wies das Bundesasylamt den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I), erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (Spruchpunkt III).

Begründend führte die Verwaltungsbehörde aus, es stehe fest, dass der Revisionswerber somalischer Staatsangehöriger sei und zur Volksgruppe der Rahanweyn gehöre. Die Ausführungen des Revisionswerbers zu den Gründen seiner Asylantragstellung seien jedoch nicht glaubwürdig. Der Revisionswerber habe ein und denselben Vorfall zeitlich unterschiedlich eingeordnet. So habe er in der ersten Einvernahme vor dem Bundesasylamt angegeben, im Oktober 2008 mit einem Gewehrkolben geschlagen worden zu sein; in der zweiten Einvernahme habe er angegeben, dass sich dieser Vorfall im August 2008 ereignet habe. Überdies habe der Revisionswerber sein zentrales Fluchtvorbringen absolut gesteigert. So habe er bei der ersten Einvernahme nur von einer Anhaltung, in der zweiten Einvernahme aber von zwei kurzfristigen Anhaltungen gesprochen. Schließlich sei nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar und plausibel, dass die Islamisten den Revisionswerber "sozusagen freiwillig", bloß wegen seiner Weigerung zu essen, wieder freigelassen hätten.

4 In der gegen Spruchpunkt I des Bescheids des Bundesasylamts erhobenen Beschwerde trat der Revisionswerber den beweiswürdigenden Erwägungen und den darauf beruhenden Feststellungen des Bundesasylamts entgegen, um die ihm vorgeworfenen Widersprüche im Einzelnen zu entkräften.

5 Mit Schreiben vom 30. Juni 2014 gewährte das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber schriftliches Parteiengehör und räumte ihm die Möglichkeit ein, zu allfälligen Änderungen seiner Gefährdungslage, seines Gesundheitszustandes und seiner persönlichen Situation in Österreich sowie zur beabsichtigten Aktualisierung der Länderinformationen zu Somalia Stellung zu nehmen.

6 In seiner Stellungnahme vom 12. August 2014 legte der Revisionswerber diverse Länderberichte vor, um aufzuzeigen, dass sich die Situation in Somalia, insbesondere in Mogadischu, seit 2013 (dem Stand der ausgehändigten Länderinformationen) erneut verschlechtert habe.

7 Mit Erkenntnis vom 22. September 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die vom Revisionswerber gegen Spruchpunkt I des Bescheids des Bundesasylamts erhobene Beschwerde - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung - gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gegen diese Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Begründend hielt das BVwG fest, der Revisionswerber sei in seinem Heimatstaat Somalia keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Es drohe ihm nicht die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder (Todes‑)Strafe. Der Revisionswerber habe kein gleich bleibendes, homogenes Vorbringen erstattet. Das Bundesasylamt sei daher zu Recht von der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens ausgegangen. Die zeitliche Abweichung bei der Schilderung ein und desselben Vorfalls könne nicht mit einer mangelhaften schulischen Ausbildung erklärt werden. Ebenso sei hinsichtlich der (behaupteten) zweiten Festnahme von einer Steigerung des Vorbringens auszugehen. Auch der Umstand, dass der Revisionswerber keine Angaben zu konkreten Orten bzw. Handlungsabläufen und zu konkreten Zeitpunkten der Festhaltungen zu Protokoll gegeben habe, könne nicht mit mangelnder Schulbildung oder der Minderjährigkeit des Revisionswerbers erklärt werden. Hinsichtlich der Freilassung stimme das Geschehen nicht mit der gewöhnlichen Lebenserfahrung überein. Wenn der Revisionswerber in der Beschwerde ausführe, es könne auch sein, dass er aus anderen Gründen freigelassen worden sei, hätte diese "reine Spekulation" dem "Gesamteindruck einer insgesamt nachvollziehbar konstruierten und asylzweckbezogenen Angabe" nichts entgegen zu setzen. Auch habe der Beschwerdeführer eine Bedrohung aufgrund der Zugehörigkeit zum Clan der Rahanweyn nicht dargelegt. Weiters sei selbst bei Wahrunterstellung der Angaben den "unzweifelhaften Länderfeststellungen" zu entnehmen, dass die Al-Shabaab-Milizen aus Mogadischu nachhaltig militärisch vertrieben worden seien und eine Rückkehr gegenwärtig auszuschließen sei.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verfahrensakten - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen hat:

9 In der Revision wird zur Zulässigkeit u.a. vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, da es die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe. Den vom Verwaltungsgerichtshof zur Verhandlungspflicht entwickelten Kriterien sei nicht Rechnung getragen worden. Auch habe sich das BVwG nicht mit den vom Revisionswerber in seiner Stellungnahme vom 12. August 2014 angeführten Länderberichten, insbesondere zur Lage der Angehörigen des Clans der Rahanweyn, auseinander gesetzt.

10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 11 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in nunmehr ständiger

Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 8. September 2015, Ra 2014/01/0200, mwN).

12 Im vorliegenden Verfahren ist der Revisionswerber den beweiswürdigenden Erwägungen und den darauf gegründeten Feststellungen der Verwaltungsbehörde in seiner Beschwerde sowie in der Stellungnahme vom 12. August 2014 nicht bloß unsubstantiiert entgegen getreten.

13 Auch hat das Bundesverwaltungsgericht es selbst für erforderlich erachtet, die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers, auf die es sich (unter anderem) auch in Bezug auf die ins Treffen geführte Eventualbegründung stützt, anhand von neu ins Verfahren eingeführten Beweismitteln zu aktualisieren. Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte schriftlich Stellung zu nehmen, kann allerdings die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in einem Fall, wie dem vorliegenden, nicht ersetzen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 18. Juni 2015, Ra 2014/20/0145, mwN).

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. März 2016

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