VwGH 99/15/0210

VwGH99/15/021025.4.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Sulyok, Dr. Fuchs, Dr. Zorn und Dr. H. Zehetner als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. iur. Mag. (FH) Schärf, über die Beschwerde der UM in T, vertreten durch Dr. Gerda Schildberger, Rechtsanwalt in 8600 Bruck an der Mur, Mittergasse 4, gegen den Bescheid der Finanzlandesdirektion für Steiermark, Zl. RV 141/1-9/98, betreffend Familienbeihilfe samt Erhöhungsbetrag für die Zeit ab 1. Oktober 1993, zu Recht erkannt:

Normen

BPGG 1993 §1;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;
BPGG 1993 §1;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von EUR 1.089,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Im Beschwerdefall ist strittig, ob der am 21. Jänner 1965 geborenen Beschwerdeführerin die Familienbeihilfe samt Erhöhungsbetrag (für sich selbst) gemäß § 6 Abs. 5 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (im Folgenden: FLAG) zusteht. Laut ärztlichem Gutachten vom 27. Jänner 1998 ist die Beschwerdeführerin voraussichtlich dauernd außer Stande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Das Finanzamt wies mit Bescheid vom 15. April 1998 den Antrag der Beschwerdeführerin mit der Begründung ab, diese sei mit dem Hauptwohnsitz bei ihrer Mutter gemeldet und somit haushaltszugehörig.

Die Beschwerdeführerin erhob Berufung.

In der dazu ergangenen Berufungsvorentscheidung wurde diese mit der Begründung abgewiesen, dass sich die Beschwerdeführerin dauernd in Anstaltspflege im Lebenshilfeheim T. befinde und die anfallenden Unterhaltskosten zur Gänze von der öffentlichen Hand getragen würden. Die Beschwerdeführerin stellte den Antrag auf Entscheidung über die Berufung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung als unbegründet ab, da sich die Beschwerdeführerin dauernd in Anstaltspflege in einer näher bezeichneten Einrichtung befinde. Die ursprüngliche Annahme des Finanzamtes betreffend die Haushaltzugehörigkeit zur Mutter träfe nicht zu. Auch sei die Annahme in der Berufungsvorentscheidung, dass die anfallenden Unterhaltskosten zur Gänze von der öffentlichen Hand getragen würden, unrichtig, da die Beschwerdeführerin dafür eigenes Einkommen, nämlich 80 % des ihr zustehenden Pflegegeldes, zu verwenden habe.

Nach der Konstruktion des § 6 FLAG 1967 werde zwischen "Anstaltspflege" und "Heimerziehung" differenziert. Hiebei komme es nicht auf die Bezeichnung der Einrichtung an, in der ein Kind untergebracht sei, sondern auf die tatsächlichen Verhältnisse. Befinde sich ein Kind in Anstaltspflege, bestehe sowohl nach § 6 Abs. 2 lit. d als auch nach Abs. 5 FLAG 1967 ein Anspruch auf Familienbeihilfe nur dann, wenn alle Lebenshaltungskosten durch diese Person abgedeckt würden. Befinde sich hingegen ein Kind in Heimerziehung und trage es selbst zumindest in Höhe der Familienbeihilfe zu seinen Lebenshaltungskosten bei, bestehe nach herrschender Auffassung ein Beihilfenanspruch, weil sich das Kind in diesem Falle nicht, wie im § 6 Abs. 5 FLAG gefordert, "auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder Sozialhilfe" in Heimerziehung befinde. Nach den Ermittlungen des Finanzamtes befinde sich die Beschwerdeführerin nicht in Heimerziehung, sondern in Anstaltspflege.

In der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof widerspricht die Beschwerdeführerin der Annahme der belangten Behörde, dass Anstaltspflege vorliege und führt zur Begründung ein Schreiben des Bundesministeriums für Jugend und Familie vom 19. Juli 1995, GZ 0402/13-II/3/95, an, welches an die Finanzlandesdirektionen und Finanzämter gerichtet worden sei und in dem Anstaltspflege wie folgt definiert werde:

"Ist ein erheblich behindertes Kind in einer Institution untergebracht, in der eine ärztliche Betreuung vorgesehen ist, liegt eine 'Anstaltspflege' dann vor, wenn dieses Kind nicht nur der Sorgen um seine Lebensführung weitgehend enthoben ist, sondern eine intensive (Pflege)betreuung stattfindet und eine ärztliche Betreuung durch diese Institution möglich ist."

In dem Heim, in dem die Beschwerdeführerin untergebracht sei, werde diese wohnversorgt und verpflegt. Durch Teilnahme an Beschäftigungstherapien solle trotz der bestehenden schwer wiegenden Behinderung eine gewisse Rehabilitation und Integration erreicht werden. Von einer "Anstaltspflege", wie sie der angefochtene Bescheid als gegeben erachte, könne nicht gesprochen werden, da weder das genannte Heim über eine ärztliche Betreuung verfüge noch die Betroffene einer dauernden Pflege unterzogen werde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zu der von der Behörde in der Gegenschrift angeführten Verspätung der Beschwerde wird bemerkt, dass wegen des - durch die Bestellung eines Verfahrenshelfers im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof bewirkten - neuerlichen Laufes der Beschwerdefrist die Beschwerde als rechtzeitig eingebracht anzusehen ist.

Gemäß § 6 Abs. 5 FLAG haben Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat.

§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG räumt volljährigen Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe ein, wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden.

Gemäß den genannten Bestimmungen soll nach Absicht des Gesetzgebers in Fällen, in denen der Unterhalt der behinderten Person durch die Unterbringung in Anstaltspflege oder einem Heim durch die öffentliche Hand sichergestellt ist, kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehen. Es kommt dabei nicht auf die Art der Unterbringung (Bezeichnung als Anstalt oder Heim), sondern ausschließlich auf die Kostentragung durch die öffentliche Hand zur Gänze an (vgl. Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 114 BlgNR

  1. 14. GP 5 betreffend FLAG-Novelle BGBl. Nr. 290/76, sowie 694 BlgNR
  2. 15. GP 4 betreffend FLAG-Novelle BGBl. Nr. 296/81 und 465 BlgNR
  3. 18. GP 7 betreffend FLAG-Novelle BGBl. Nr. 311/92). Dem entspricht auch die bisherige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zur Heimerziehung das hg. Erkenntnis vom 15. April 1997, 96/14/0140, und zur Anstaltspflege das hg. Erkenntnis vom 12. Dezember 1995, 95/14/0066).

Gemäß § 1 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) hat das Pflegegeld den Zweck, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen so weit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen. Es soll dazu beitragen, dass diese Personen Pflegeleistungen "einkaufen" können. Für pflegebedürftige Menschen wird dadurch die Wahlmöglichkeit zwischen Betreuung und Hilfe in häuslicher Pflege durch den Einkauf von persönlicher Assistenz und der stationären Pflege erweitert (vgl. die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 776 BlgNR 18. GP 25). In jeder der sieben Stufen des Pflegegeldes steht es pflegebedürftigen Personen grundsätzlich frei, sich beispielsweise für die Pflege im häuslichen Bereich oder auch im Rahmen eines Heimes oder einer Pflegeanstalt zu entscheiden.

Der Bezug von Pflegegeld stellt somit keinen Unterhaltsersatz durch die öffentliche Hand dar (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 26. Februar 2002, 2001/11/0322). Dieses wird - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - auch bemittelten Personen gewährt.

Anstaltspflege im Sinne des § 6 Abs. 2 lit d FLAG liegt nur dann vor, wenn der Unterhalt der behinderten Person unmittelbar und zur Gänze durch die öffentliche Hand gewährt wird. Dies ist nicht der Fall, wenn zum Unterhalt durch die untergebrachte Person selbst - etwa auf Grund eines sozialversicherungsrechtlichen Anspruches wie zB hier der Anspruch auf das Pflegegeld - beigetragen wird. Andernfalls wäre eine behinderte Person, welche Pflegegeld bezieht und die sich - mangels entsprechender Möglichkeiten im familiären Bereich - Pflege in einer Anstalt verschafft, schlechter gestellt, als eine Person, welcher es möglich ist, Pflege im häuslichen Bereich - etwa durch Angehörige -

zu erlangen, obwohl sie dafür regelmäßig mehr aufwenden muss als bei Pflegeleistungen im Familienverband.

Da die belangte Behörde die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 25. April 2002

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