Normen
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (der belangten Behörde) vom 6. April 1998 wurde die Berufung des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Innsbruck vom 10. März 1998, womit sein Antrag vom 8. Jänner 1998 auf Aufhebung des von der belangten Behörde mit Bescheid vom 7. Mai 1996 gegen ihn erlassenen unbefristeten Aufenthaltsverbotes gemäß § 114 Abs. 3 iVm § 38 Abs. 1 Z. 4 Fremdengesetz 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, abgewiesen worden war, abgewiesen.
Gemäß § 114 Abs. 3 FrG sei für die Beurteilung des Aufenthaltsverbotes das Jahr 1996 (Erlassungszeitpunkt) maßgeblich. Damit die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Bestimmung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG zu seinen Gunsten zur Anwendung gelangen könne, müßten zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Einerseits müsse der Fremde von klein auf in Österreich aufgewachsen sein, andererseits müsse er in Österreich langjährig rechtmäßig niedergelassen sein, wobei Letzteres im § 38 Abs. 2 FrG definiert sei. Der Beschwerdeführer erfülle zwar die zweite Voraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG, nicht jedoch die erste. Nach den Erläuterungen in der Regierungsvorlage (zum FrG) seien Fremde von klein auf in Österreich aufgewachsen, wenn ihr Aufenthaltsrecht im Kleinkindalter (zweites bis drittes Lebensjahr oder früher) begründet worden sei. Das treffe auf den Beschwerdeführer nicht zu. Sein Aufenthaltsrecht in Österreich sei unbestritten erst im Alter von fast vier Jahren begründet worden. Die längere Dauer des Aufenthaltes eines Fremden, in concreto die Erfüllung der zweiten Voraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG, ersetze eine kurzfristig spätere Einreise ins Inland, in concreto die Erfüllung der ersten Voraussetzung der genannten Bestimmung, nicht. Intention des Gesetzgebers sei es gewesen, zwei Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung zugunsten des Fremden zu normieren, wobei die zweite Voraussetzung im Gesetz näher umschrieben worden sei, nicht jedoch die erste Voraussetzung, die jedoch in den Erläuterungen der Regierungsvorlage, die bei der Auslegung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes als erstes zu beachten seien, in eindeutiger Weise umschrieben worden sei. Eine (neuerliche) Interessenabwägung verlange § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG nicht, auch nicht eine (neuerliche) Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Ausweisungsschutzes nach dem Assoziationsratsbeschluß EWG/Türkei Nr. 1/80 und den Urteilen des EuGH vom 20. September 1990 (Sevince-Urteil) und vom 16. Dezember 1992 (Kus-Urteil). Dieser Assoziationsratsbeschluß mache in Art. 14 Abs. 1 deutlich, daß die die Beschäftigung und die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer regelnden Bestimmungen der Erlassung (Aufrechterhaltung) eines Aufenthaltsverbotes nicht entgegenstünden, wenn es - wie hier - aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sei.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Für - auf das Fremdengesetz 1992 gegründete - Aufenthaltsverbote, die vor dem Inkrafttreten des FrG mit 1. Jänner 1998 erlassen wurden, normiert § 114 Abs. 3 dieses Gesetzes folgendes:
"Aufenthaltsverbote, deren Gültigkeitsdauer bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes noch nicht abgelaufen sind, gelten als nach diesem Gesetz erlassene Aufenthaltsverbote mit derselben Gültigkeitsdauer. Solche Aufenthaltsverbote sind auf Antrag - oder wenn sich aus anderen Gründen ein Anlaß für die Behörde ergibt, sich mit der Angelegenheit zu befassen - von Amts wegen aufzuheben, wenn sie nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes nicht erlassen hätten werden können."
Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, wobei Fremde gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung jedenfalls langjährig im Bundesgebiet niedergelassen sind, wenn sie die Hälfte ihres Lebens im Bundesgebiet verbracht haben und zuletzt seit mindestens drei Jahren hier niedergelassen sind.
2. Die Beschwerde macht geltend, daß der Beschwerdeführer die Voraussetzungen des § 38 Ab. 1 Z. 4 FrG erfülle, weil er im Alter von drei Jahren, 9 Monaten und 26 Tagen nach Österreich eingereist sei, die Hälfte seines Lebens im Bundesgebiet verbracht habe und zuletzt seit mindestens drei Jahren in Österreich niedergelassen sei. Im Hinblick darauf wäre das gegen ihn erlassene Aufenthaltsverbot aufzuheben gewesen.
3. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg. Der Rechtsansicht der belangten Behörde, daß ein Fremder, dessen Aufenthaltsrecht nicht spätestens während seines zweiten bis dritten Lebensjahres begründet wurde, nicht als "von klein auf im Inland aufgewachsen" gelten könne, kann nicht beigepflichtet werden.
In den Gesetzesmaterialien wird zum Verständnis des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG ausgeführt, daß solche Fremde als "von klein auf im Inland aufgewachsen" gelten sollen, "deren Aufenthaltsrecht noch im Kleinkindalter (zweites bis drittes Lebensjahr oder früher) begründet wurde", und mit dieser Bestimmung auch dem Umstand Rechnung getragen werden soll, "daß viele Fremde der zweiten Generation entweder bereits in Österreich geboren wurden oder mit ihren Eltern als Kind nach Österreich gekommen sind" (RV 685 BlgNR 20. GP, S 76 f). Im Rahmen eines in den Gesetzesmaterialien gegebenen Beispiels einer Person, die als dreijähriges Kind (somit im vierten Lebensjahr) gemeinsam mit ihren Eltern nach Österreich einreist, dann in Österreich (rechtmäßig) ihre gesamte Kindheit und Jugend verbringt, nach (erfolgreichem) Abschluß der Schule beruflich tätig ist, jedoch nie die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, wird darauf hingewiesen, daß die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegenüber einer solchen Person bedeuten würde, daß diese - so sie nicht freiwillig ausreist - in ihre (lediglich) "durch den Reisepaß definierte 'Heimat' abgeschoben" würde, die sie "kaum kennt", deren Sprache ihr in der Regel weniger geläufig ist als die deutsche und deren soziales Gefüge ihr fremd ist. Den solcherart umschriebenen Umständen läßt sich entnehmen, daß es für die Bestimmung, welches Lebensalter der Wendung "von klein auf" zu subsumieren ist, maßgeblich auf die Integration in das in Österreich gegebene soziale Gefüge sowie auch auf die Kenntnis der deutschen Sprache ankommt. Die Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises - wie sie für die vom Schutzzweck des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG geforderte Vertrautheit mit dem sozialen Gefüge maßgeblich ist - beginnt aber aus dem Blickwinkel der Sozialisation des Kindes "etwa nach Vollendung des dritten Lebensjahres", wobei jedoch die Abgrenzung zum vorangehenden Lebensabschnitt "fließend" ist (vgl. den Artikel "Sozialisation" in der Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden,
19. Auflage, 20. Band, Mannheim 1993, S. 534). Die genannte altersmäßige Abgrenzung ist auch aus entwicklungspsychologischer Sicht von Bedeutung, wird doch die "Phase der ersten Verselbständigung" - das ist das Stadium, in dem Kinder auch familienfremde Erzieher akzeptieren, mit anderen Kindern Freundschaften anbahnen, Spiele spielen, sich ins Gruppenleben integrieren und somit ihren Lebensbereich über ihre unmittelbare familiäre Sphäre hinaus ausdehnen können - mit etwa drei Jahren erreicht (vgl. Schenk-Danzinger, Entwicklungspsychologie, 24. Auflage, Wien 1996, S. 219 f). Vor diesem Hintergrund ist die besagte Wendung so zu deuten, daß sie jedenfalls für eine Person, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich einreist, nicht zum Tragen kommen kann. Aber auch eine Person, die zwar vor Vollendung ihres vierten Lebensjahres nach Österreich einreiste, sich aber (kurz) danach wieder für längere Zeit ins Ausland begeben hat und somit nicht schon im Kleinkindalter sozial in Österreich integriert wurde, wird man von dieser Regelung - weil eine solche Person nicht in Österreich "aufgewachsen" ist - nicht als erfaßt ansehen können. (Vgl. zum Ganzen den hg. Beschluß vom 17. September 1998, Zl. 96/18/0150.)
Nach den insoweit unbestrittenen Ausführungen im angefochtenen Bescheid wurde das Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers im Alter von fast vier Jahren - somit zu einem Zeitpunkt, der nach dem vorgenannten Beschluß von dem Begriff "von klein auf im Inland aufgewachsen" umfaßt ist - begründet (laut Feststellung der erstinstanzlichen Behörde in ihrem Bescheid vom 10. März 1998 gelangte der am 20. Jänner 1973 geborene Beschwerdeführer im Alter von 3 Jahren 9 Monaten und 26 Tagen erstmals in Innsbruck zur polizeilichen Anmeldung). Feststellungen darüber, in welchem Alter der Beschwerdeführer Österreich verlassen und wie lange er im Ausland gelebt habe - laut dem Vorbringen des Beschwerdeführers in seiner Berufung vom 26. März 1998 habe er in der Zeit vom 31. Jänner 1983 bis 14. November 1988 nicht in Österreich gelebt -, hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid allerdings nicht getroffen. Derartige Feststellungen wären jedoch iS der oben dargelegten Erwägungen zur Beurteilung der sozialen Integration des Beschwerdeführers im Kleinkindalter in Österreich erforderlich gewesen. Geht man davon aus, daß sich der Beschwerdeführer tatsächlich bis zum 31. Jänner 1983, somit bis nach Vollendung seines 10. Lebensjahres in Österreich aufgehalten habe, so käme man iS der dargelegten Erwägungen zu dem Ergebnis, daß der Beschwerdeführer noch im Kleinkindalter sozial in Österreich integriert wurde und damit die erste Tatbestandsvoraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG erfüllt wäre. Dies hätte unter Zugrundelegung der Ansicht der belangten Behörde, daß der Beschwerdeführer iS des § 38 Abs. 2 FrG langjährig rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen sei und daher die zweite Tatbestandsvoraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG erfülle, zur Folge, daß gegen ihn nach den Bestimmungen des FrG ein Aufenthaltsverbot nicht hätte erlassen werden dürfen und somit gemäß § 114 Abs. 3 FrG das vorliegende Aufenthaltsverbot aufzuheben gewesen wäre.
4. Die in der Beschwerde gegen die Verfassungsgemäßheit des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG vorgebrachten Bedenken teilt der Verwaltungsgerichtshof - unter Zugrundelegung der oben dargestellten Betrachtungsweise - nicht. Er sieht sich daher auch nicht veranlaßt, der Anregung des Beschwerdeführers zu folgen und beim Verfassungsgerichtshof einen diesbezüglichen Antrag auf Gesetzesprüfung zu stellen.
5. Da die belangte Behörde somit - ausgehend von einer unrichtigen Rechtsansicht - entscheidungswesentliche Feststellungen (nämlich über die jeweilige Dauer des Aufenthaltes des Beschwerdeführers in Österreich bzw. im Ausland) nicht getroffen hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Wien, am 2. März 1999
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