VwGH 95/20/0611

VwGH95/20/061118.12.1996

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des H in K, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 21. August 1995, Zl. 4.291.170/8-III/13/95, betreffend Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1968 §1;
AsylG 1991 §1 Z1 impl;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1968 §1;
AsylG 1991 §1 Z1 impl;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Die angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.830,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und reiste am 25. Dezember 1989 in das Bundesgebiet ein. Am 27. Dezember 1989 beantragte er, ihm Asyl zu gewähren. Anläßlich seiner, am 18. Jänner 1990 erfolgten niederschriftlichen Befragung durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, er habe keiner politischen oder sonstigen Organisation angehört, sei jedoch Sympathisant der verbotenen linksgerichteten Organisation "Einheit des Volkes" gewesen. Er habe an Versammlungen in seinem Heimatdorf teilgenommen. Sein Cousin sei bei dieser Organisation beteiligt gewesen. Dieser sei auch von der Miliz gesucht worden, wobei diese dann auch immer wieder beim Beschwerdeführer gewesen sei und er habe mitgehen müssen. Er sei verhört worden, ob er den Aufenthaltsort seines Cousins wisse bzw. ob er selbst auch bei dieser Organisation sei und vielleicht darüber etwas wisse. Dabei sei er auch geohrfeigt worden. Es sei auch vorgekommen, daß er dann eine Nacht eingesperrt gewesen sei. Dies sei schon seit Anfang der 80er-Jahre so gegangen. Hauptgrund seiner Flucht sei es gewesen, daß er als Kurde und Alevite immer nur benachteiligt worden sei. Bei Behörden müsse man länger warten als andere, man werde als zweitklassiger Mensch behandelt, seine ganze Familie, auch seine Frau, seien schlecht behandelt worden. Man habe nicht in Frieden leben können.

Aus diesem Grunde habe er sich entschlossen, mit seiner Familie das Land zu verlassen und in Österreich eine neue Existenz aufzubauen.

Über Rückfrage des UN-Hochkommissärs erstattete der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 2. Juni 1993 ein ergänzendes Vorbringen dahingehend, er habe den aktiven Partisanen der Organisation "Einheit des Volkes" Unterschlupf gewährt und sie vor dem türkischen Militär versteckt, was wiederholt zu Razzien in seinem Haus geführt habe, bei denen auch insbesondere nach dem Aufenthalt seines Bruders und seines Cousins, die Partisanen seien, gefragt worden sei. Derartige Vorfälle seien insbesondere auch 1989, in den Monaten vor seiner Flucht, vorgekommen. Da er aus Solidarität diese Auskünfte verweigert habe, seien auch seine Hausgenossen mißhandelt worden. Er selbst sei gefesselt und festgenommen worden. Im Gefängnis sei ihm sodann Nahrung verweigert worden, er sei als Kurde beschimpft und geschlagen worden. Im Winter sei er mit eiskaltem Wasser im Freien überschüttet worden und habe Elektroschocks bekommen, weil er weiterhin Geständnis sowie zweckdienliche Hinweise verweigert habe. Die Länge derartiger Inhaftierungen mit Folter habe zwischen einer Nacht und zwei Wochen geschwankt. Derartige Übergriffe seien in den letzten Jahren immer wieder vorgekommen, sie hätten sich 1989 jedoch gehäuft. Außerdem sei eine zunehmende Brutalität des Militärs immer dann zu beobachten gewesen, wenn das Militär an Einfluß gewonnen habe oder gar an die Regierung gekommen sei. Diese für seine Flucht ausschlaggebenden Gründe habe er auch bei seiner Erstvernehmung bereits berichtet. Soweit ihm bekannt sei, bestünde auch in der Türkei ein aufrechter Haftbefehl gegen ihn, das heiße, daß er bei seiner Rückkehr mit einer sofortigen Festnahme mit weiteren unmenschlichen Behandlungen auf Grund seiner Aktivitäten zu rechnen habe.

Anläßlich der daraufhin mit dem Beschwerdeführer am 9. Juni 1993 erfolgten ergänzenden Befragung vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich gab er zum Sachverhalt befragt an, nach der Machtübernahme des Militärs im September 1980 sei er mit anderen Schülern und Studenten das erste Mal festgenommen worden, weil er kurdischer Herkunft sei und weil er das Gymnasium besucht habe. Man habe ihn wöchentlich zum Verhör geführt. Man habe ihn über seinen Cousin M, dessen Aufenthalt bis heute unbekannt sei, befragt. Er selbst sei nicht Mitglied irgendeiner Organisation gewesen, sondern habe Spenden für die Organisation "Partizan" gesammelt. Dies sei den Behörden nicht bekannt gewesen. Sein Cousin sei bereits im Jahr 1981 einmal verhaftet worden, er habe den Beschwerdeführer jedoch nicht verraten. 1982 sei der Cousin von einem Gefängnisurlaub nicht mehr in die Haftanstalt zurückgekehrt. Der Beschwerdeführer habe ihn 1983 das letzte Mal im Dorf gesehen. Seit Anfang 1989 habe er einen Reisepaß beantragt, sei jedoch von den Behörden immer wieder schikaniert worden. Schließlich habe er einen Beamten bestochen, wie dies viele seiner Landsleute täten. Im Dezember 1989 habe er daher einen legalen Reisepaß erhalten. Er habe sich bereits im Jahr 1983 entschlossen, das Land zu verlassen und habe 1986 auch einen Reisepaß erhalten. Damals habe er jedoch noch nicht ausreisen können, weil er bereits einen Einberufungsbefehl zum Militär erhalten gehabt habe. Danach habe er diesen Reisepaß verloren. Nach dem neuen Antrag auf einen Reisepaß habe man ihm jedoch nicht geglaubt, den alten Paß verloren gehabt zu haben, sondern ihm unterstellt, daß er diesen seinem Cousin oder irgendeinem Terroristen für die Flucht zur Verfügung gestellt habe. Er sei dreimal von Soldaten geholt, zu seinem Reisepaß befragt und auch geschlagen worden. Zweimal sei er freiwillig hingegangen und habe sich nach seinem Paß erkundigt. Bereits im November 1988, unmittelbar nach Ableistung seines Militärdienstes, hätten ihn Soldaten geholt und in einen Armeeposten im Dorf gebracht, wo man ihn jedes Mal einige Stunden befragt, sodann jedoch wieder gehen gelassen habe. Würde er in die Türkei zurückkehren, würde er sicherlich sofort verhaftet und gefoltert werden, weil man annehme, daß er auch dieser Organisation angehöre und seinen Paß zur Verfügung gestellt habe. Die "Einheit des Volkes" sei eine friedliche demokratische Organisation gewesen. "Partizan" stelle eine Untergruppe dieser Organisation dar. Die Mitglieder dieser Untergruppe hätten die Ziele in früheren Jahren mit terroristischen Anschlägen auf öffentliche Gebäude verfolgt, verhielten sich jedoch jetzt auch friedlich. Sie strebten Gleichbehandlung aller türkischen Staatsangehörigen in der Türkei an.

Mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 13. September 1993 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers abgewiesen.

In der dagegen gerichteten Berufung machte der Beschwerdeführer Ermittlungs- und Begründungsfehler der Erstbehörde, im Sachverhalt jedoch keine vom erstinstanzlichen Verfahren abweichenden Umstände geltend.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 3. November 1993 wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 AVG nach Darstellung der Ermittlungsergebnisse des Verfahrens erster Instanz sowie der Rechtslage nach dem AsylG 1991 abgewiesen.

Aufgrund der vom Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde hob der Verwaltungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 29. November 1994, Zl. 94/20/0065, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes infolge Anwendung der unrichtigen Rechtslage (AsylG 1991 anstelle des Asylgesetzes (1968)) auf, sodaß das Berufungsverfahren neuerlich bei der belangten Behörde anhängig wurde.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers (neuerlich) gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und sprach aus, er sei nicht Flüchtling im Sinne des Asylgesetzes. Sie übernahm die "Sachverhaltsdarstellung" ihres (aufgehobenen) Bescheides vom 3. November 1993 und beurteilte diesen Sachverhalt rechtlich dahingehend, die vom Beschwerdeführer relevierten Festnahmen und schärferen Befragungen stellten keine derart gravierenden Eingriffe in seine Grundrechte dar, um den in der Genfer Flüchtlingskonvention angesprochenen Sachverhalt zu verwirklichen. Überdies vermöchten die von ihm geschilderten Umstände Flüchtlingseigenschaft nicht zu begründen, weil die Befragungen durch die Militärbehörden seines Heimatlandes lediglich dem Zweck gedient hätten, ein bei ihm vermutetes "Sonderwissen" über seinen Vetter, erworben durch sozialen Umgang mit diesem, zu erkunden. Damit habe weder seine politische Gesinnung noch schlechthin seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv getroffen werden sollen. Ebensowenig indizierten Nachteile, die er wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe zu tragen gehabt habe, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Konvention. Sein Vorbringen sei unsubstantiiert und aus diesem Grunde auch nicht geeignet, Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Es sei für die erkennende Behörde auch kein Anhaltspunkt gegeben, daß sich die vom Beschwerdeführer geschilderten Umstände auf das gesamte türkische Staatsgebiet erstreckten, sie seien vielmehr auf sein Heimatgebiet eingeschränkt gewesen. Es sei davon auszugehen, daß er im Falle seiner Niederlassung in einem überwiegend befriedeten Territorium seines Heimatlandes, insbesondere in Istanbul, wo er erlittenes Ungemach nicht releviert habe, asylrechtlich relevante Verfolgungshandlungen nicht zu gewärtigen gehabt hätte. Das Recht auf Arbeit, Wohnung, etc., ohne daß dadurch eine Verweigerung der Lebensgrundlage verbunden sei, sei kein geschütztes Rechtsgut im Sinne des Asylgesetzes.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zutreffend weist der Beschwerdeführer darauf hin, die Behörde hätte sich entsprechend mit seinem Vorbringen in der Äußerung vom 2. Juni 1993 und der Berufung auseinandersetzen müssen, er sei anläßlich der mehrfachen Verhöre, bei denen keineswegs ausschließlich nach einem "Sonderwissen" im Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit seines Bruders und seines Cousins gefragt, sondern bei der auch ihm selbst eine entsprechende politische Gesinnung unterstellt worden war, gefoltert worden. Geht man von der Richtigkeit dieser Angaben aus - eine Darlegung der diesbezüglichen Überlegungen zur Beweiswürdigung ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen -, ist die Argumentation der belangten Behörde nicht nachvollziehbar, die vom Beschwerdeführer geschilderten näheren Umstände seiner Befragung (geschlagen, im Winter mit eiskaltem Wasser in Freien überschüttet, Elektroschocks) stellten "keine derart gravierenden Eingriffe" in die "Grundrechte des Beschwerdeführers dar, um den in der Genfer Flüchtlingskonvention angesprochenen Sachverhalt zu verwirklichen." Da die belangte Behörde sich mit obigem Vorbringen, sei es im Rahmen der Beweiswürdigung, sei es im Rahmen der rechtlichen Beurteilung, nicht ausreichend auseinandergesetzt hat, hat sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, die bereits zu seiner Aufhebung führen mußte. Insoweit die belangte Behörde anfügt "den Ausführungen in Ihrer ergänzenden Befragung sowie in Ihrer Berufung" sei somit "die Glaubwürdigkeit zu versagen" ist ihr entgegenzuhalten, daß mit diesem Satz die oben vermißten Erwägungen zur Beweiswürdigung nicht erschöpfend dargelegt werden.

Insoweit die belangte Behörde - im Widerspruch zu ihren zuvor gemachten Rechtsausführungen - die Bestimmung des § 20 Abs. 1 AsylG 1991 zu einer weiteren Begründung heranzieht, ist dies - abgesehen davon, daß der Inhalt der damit dargelegten rechtlichen Überlegung nicht nachvollziehbar ist - ein "offenkundiger Redaktionsfehler", geht doch sowohl aus dem Spruch sowie der Darstellung der Rechtslage hervor, daß die belangte Behörde - in Übereinstimmung mit dem aufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29. November 1994, Zl. 94/20/0065 -, ohnedies die Rechtslage nach dem Asylgesetz (1968) angewendet hat.

Die belangte Behörde geht auch mit keinem Wort darauf ein, daß der Beschwerdeführer in seiner Äußerung vom 2. Juni 1993 angegeben hatte, daß ein aufrechter Haftbefehl gegen ihn bestünde. Die belangte Behörde hat es auch unterlassen, die in der Äußerung vom 2. Juni 1993 aufgestellten Behauptungen und die Gründe für die relativ späte Erstattung eines derartigen Vorbringens anläßlich der nur wenige Tage später erfolgten niederschriftlich ergänzenden Befragung des Beschwerdeführers aufzuklären.

Jeglicher konkreten Grundlage entbehrt aber auch die Annahme einer "inländischen Fluchtalternative", insbesondere in Istanbul, sind doch dem Akt die Dauer bzw. die näheren Umstände des Aufenthaltes des Beschwerdeführers in dieser Stadt nicht zu entnehmen. Darüber hinaus kann wohl von der Möglichkeit einer "inländischen Fluchtalternative" dann nicht ausgegangen werden, wenn auf Grund eines aufrechten Haftbefehles territoral uneingeschränkter Zugriff der staatlichen Behörden auf den Beschwerdeführer zu befürchten wäre.

Aus den dargelegten Gründen belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Bescheid hätte kommen können. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf

§§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

Der Ersatz der Stempelmarken konnte nur in dem gesetzlich erforderlichen Ausmaß zuerkannt werden (Beschwerde zweifach S 240,--, einfache Vorlage des angefochtenen Bescheides S 90,--).

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