VwGH 95/08/0072

VwGH95/08/007224.6.1997

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des S in W, vertreten durch Dr. B, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 21. November 1994, Zl. MA 15-II-BEG 49/94, betreffend Feststellung nach § 2 Abs. 1 Behinderteneinstellungsgesetz, zu Recht erkannt:

Normen

BEinstG §2 Abs1;
BEinstG §3 Abs1;
BEinstG §3 Abs2;
KOVG 1957 §7;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z572;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z573;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z574;
BEinstG §2 Abs1;
BEinstG §3 Abs1;
BEinstG §3 Abs2;
KOVG 1957 §7;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z572;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z573;
KOVG RichtsatzV 1965 Anl Abschn4 litv Z574;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1957 geborene Beschwerdeführer beantragte am 10. September 1993 die Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß den §§ 2 und 14 des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG). Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, in dem sich degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Schwerhörigkeit und eine Bewegungseinschränkung nach einer Schulterverletzung ergeben hatten, wurde dem Beschwerdeführer zu den Ermittlungsergebnissen Parteiengehör gewährt. Der Beschwerdeführer reagierte darauf u.a. mit dem nicht näher erläuterten Hinweis, der endgültige Grad seiner Behinderung werde nach der Einholung des Gutachtens eines Neurologen festzustellen sein.

Mit Bescheid vom 2. Mai 1994 (dem Beschwerdeführer zugestellt am 9. Mai 1994) wies das Landesinvalidenamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland den Antrag mit der Begründung ab, der Grad der Behinderung des Beschwerdeführers betrage nur 30 % und erreiche daher nicht das in § 2 Abs. 1 BEinstG vorausgesetzte Mindestmaß.

Mit Schreiben vom 6. Mai 1994, bei der Behörde eingelangt am 9. Mai 1994, hatte der Beschwerdeführer ergänzend angegeben, bereits seit Herbst 1993 wegen epileptischer Anfälle bei einem (namentlich genannten) Neurologen in Behandlung zu stehen. Seien die Anfälle "früher bis sechsmal monatlich aufgetreten", so seien sie "seit der Behandlung stark zurückgegangen, bis auf ca. dreimal monatlich". Ein (namentlich genannter) Mitbewohner des Beschwerdeführers könne dessen Angaben bezeugen.

Seine Berufung gegen den Bescheid vom 2. Mai 1994 stützte der Beschwerdeführer darauf, daß der Umstand, daß er wegen seiner "u.a. epileptischen Anfälle" schon "in längerer Behandlung" stehe, infolge "zu späten Vorbringens" nicht mehr berücksichtigt worden sei.

Die belangte Behörde ordnete die amtsärztliche "Untersuchung und Feststellung des Grades der Behinderung unter Beachtung der Sätze des Richtsatzkatalogs im Sinne des § 7 KOVG" an. Das Ergebnis dieser Untersuchung wurde von der amtsärztlichen Untersuchungsstelle am 19. September 1994 im wesentlichen wie folgt mitgeteilt:

"ANGABEN: Herr S wurde mit Gutachten des LIA vom 10.12.1993 wegen Wirbelsäulendegeneration, Schwerhörigkeit und Zust. n. Schulterluxation links mit 30 v.H. eingeschätzt. Er beruft dagegen, da sein epileptisches Anfallsleiden, Konzentrationsschwierigkeiten und Vergeßlichkeit nicht berücksichtigt worden seien.

Lt. Angaben bestehen seit Jahren Grand-Mal-Anfälle, Frequenz 2 x jährlich bis 2-3 mal monatlich.

Med.: Epilan D 1 x 1 bis 2 x 1, Vasonit, Trancopal.

BEFUND: Guter AEZ, RR 120/80 mm Hg., Cor und Pulmo unauffällig, WS frei beweglich, mäßiger Hartspann thoracal, Elevation und Abduktion im li. Schultergelenk endlagig schmerzhaft eingeschränkt.

Befund des behandelnden prakt. Arztes Dr. E vom 2.5.1994 bezüglich rezidiv. Anfallsleiden: vorgelegt.

Neuropsych. Befund vom 16.8.1994, Dr. B: kein Hinweis auf OPS, neurotische Grundpersönlichkeit, neurologischer Status o.B., ein EEG vom April 1994 o.B., cerebrale Anfälle in Form von Gelegenheitsanfällen, Tendenz in Richtung seltene Anfälle.

DIAGNOSE: Wirbelsäulendegeneration

Schwerhörigkeit

Zust. n. Schulterluxation links

Anfallsleiden

Einschätzung des GdB nach § 7 KOVG

1. Wirbelsäulendegeneration I/f/190 20 v.H.

(unterer RS der Funktionseinschränkung

entsprechend)

2. Hochtoninnenohrschwerhörigkeit links, VII/a/643 20 v.H.

Innenohrschwerhörigkeit rechts Tab.1.Sp.,2.Zeile

(oberer RS wegen Tinnitus)

3. Anfallsleiden IV/v/572 30 v.H.

4. Bewegungseinschränkung nach Schulter- I/c/28 10 v.H.

luxation links mit kleinem Gegenarm

Knochenabriß

(oberer RS, der funktionellen Ein-

schränkung entsprechend)

GUTACHTEN: Der führende Wert der Pos. 3 mit 30 v.H. wird durch das Zusammenwirken der anderen Leidenskomponenten von 2 x 20 v.H. und 1 x 10 v.H. um 1 Stufe erhöht.

Der Gesamt-GdB beträgt somit 40 v.H. und ist ab 10.9.1993 anzunehmen."

Die belangte Behörde übermittelte dem Beschwerdeführer eine Ablichtung dieses Schriftstücks und gab ihm Gelegenheit, binnen zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom 14. November 1994 nahm der Beschwerdeführer wie folgt Stellung:

"Vorerst möchte ich mich für Ihre Bemühungen recht herzlich bedanken, dank der medikamentösen Behandlung kann ich meinen Gesundheitszustand vorläufig im derzeitigen Status halten.

Sollten sich Veränderungen ergeben, welche auf Grund der Verschlechterung meiner Leiden eine Neuerstellung eines Gutachtens geboten erscheinen lassen, werde ich mir erlauben wieder Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen."

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ab. Sie sprach aus, der Beschwerdeführer sei auf Grund seines Grades der Behinderung von 40 v.H. den im § 2 Abs. 1 BEinstG begünstigten Behinderten nicht zuzuzählen. Begründend verwies die belangte Behörde im wesentlichen auf das Ergebnis der von ihr veranlaßten Untersuchung, das dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht worden sei und gegen das er keinen Einwand erhoben habe. Die belangte Behörde lege dieses Gutachten, das als schlüssig erkannt werde, in freier Beweiswürdigung ihrem Bescheid zugrunde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde - erwogen hat:

Gemäß § 3 Abs. 2 BEinstG hatte die belangte Behörde für die Einschätzung des Grades der Behinderung die Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes (KOVG), und damit auch die zu § 7 Abs. 2 KOVG erlassene Richtsatzverordnung, BGBl. Nr. 150/1965, mit der Maßgabe, daß Gesundheitsschädigungen in einem Ausmaß von weniger als 20 v.H. nur unter bestimmten Voraussetzungen zu berücksichtigen seien, sinngemäß anzuwenden.

Für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf Grund von Epilepsieanfällen der beim Beschwerdeführer festgestellten Art sieht die erwähnte Richtsatzverordnung folgende Positionen vor:

"571. nicht häufige, nur nächtliche

Anfälle ohne Komplikationen .................... 10 v.H.

572. Anfälle, in Abständen von Monaten .............. 30 v.H.

573. Anfälle, mehrmals monatlich ............ 50 bis 70 v.H.

574. Anfälle, mehrmals wöchentlich .......... 80 bis 100 v.H."

Für die Einschätzung "innerhalb" des Rahmensatzes der Richtsatzposition 573 ist nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. Juli 1957, Zl. 2826/54, "nicht allein" das Intervall der Anfälle maßgeblich, was auch für Position 574 zu gelten haben wird. Demgegenüber kommt es für die Abgrenzung der Positionen 572 bis 574 untereinander nach dem klaren Inhalt der Verordnung aber ausschließlich auf die Häufigkeit der Anfälle an.

Treffen mehrere Leiden zusammen, so ist nach § 3 der erwähnten Richtsatzverordnung von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht, und zu prüfen, ob und inwieweit der durch die Gesamteinschätzung zu erfassende Gesamtleidenszustand "zufolge des Zusammenwirkens" aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung (gegenüber der bloß des "führenden" Leidens) rechtfertigt. Daß die belangte Behörde - unter der Annahme, daß die Epilepsie des Beschwerdeführers richtig eingeschätzt wurde - in ihrer Gesamteinschätzung ein derartiges "Zusammenwirken" der beim Beschwerdeführer festgestellten Leiden vernachlässigt hätte, kann dem Sachverhalt entgegen den Ausführungen in der Beschwerde nicht entnommen werden.

Sollte die Epilepsie des Beschwerdeführers jedoch - wie die Beschwerde in erster Linie geltend macht - nicht der Position 572, sondern der Position 573 zuzuordnen sein, so wiese der Beschwerdeführer schon deshalb und ohne daß es auf die Einschätzung innerhalb der Position 573 oder auf das Zusammentreffen der Leidenszustände hiefür ankäme, jedenfalls einen "Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H." im Sinne des § 2 Abs. 1 BEinstG auf. Für den Ausgang des Verfahrens war die Feststellung, ob die Anfälle "in Abständen von Monaten" oder "mehrmals monatlich" auftreten, daher von ausschlaggebender Bedeutung, wobei im Fall (nicht etwa einer feststellbaren Entwicklung, die unter Umständen zeitlich getrennte Absprüche zur Folge haben müßte, sondern) eines schwankenden Leidenszustandes nach der zu § 7 KOVG ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch hierauf Bedacht zu nehmen wäre (vgl. dazu das Erkenntnis vom 9. Mai 1956, Slg. Nr. 4064/A, und daran anschließende Erkenntnisse). Diese Bedachtnahme kann - entgegen der in der Beschwerde geäußerten Rechtsansicht - nur in der Form einer Durchschnittsbildung erfolgen, wobei sich im hier gegebenen Zusammenhang der im § 3 Abs. 1 BEinstG genannte, als "nicht nur vorübergehend" vorausgesetzte Zeitraum von mehr als sechs Monaten der Größenordnung nach (und auf die Vergangenheit bezogen) als in Betracht kommender Beobachtungszeitraum für die Beurteilung des Leidens im Zeitpunkt der Entscheidung und Ausgangspunkt der nach § 3 Abs. 1 BEinstG erforderlichen Prognose anbietet.

Im vorliegenden Fall ist dem amtsärztlichen Gutachten vom 19. September 1994 nicht entnehmbar, von welcher Häufigkeit der Anfälle - bezogen auf die nach der Richtsatzverordnung für die Abgrenzung der Positionen 572 und 573 maßgebende Zeiteinheit eines Monats - die Gutachterin ausging. Daß die Abstände zwischen den Anfällen mit relevanter Regelmäßigkeit einen Monat überstiegen, ist aus dem Referat eines Vorbefundes über "Gelegenheitsanfälle" mit (bloßer) "Tendenz in Richtung seltene Anfälle" nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit, vor allem auch im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen einem schwankenden und einem sich in bestimmter Weise entwickelnden Verlauf, ableitbar. Die belangte Behörde hätte daher, wie die Beschwerde hilfsweise geltend macht, erkennen müssen, daß die wiedergegebenen Untersuchungsergebnisse für die verfahrensentscheidende Subsumtion des Leidens unter Position 572 der Richtsatzverordnung nicht ausreichten, und eine diesbezügliche Ergänzung der Beurteilungsgrundlagen veranlassen müssen. Anlaß dazu bestand umso mehr, als die Wiedergabe der Angaben des Beschwerdeführers ("Frequenz zweimal jährlich bis zwei- bis dreimal monatlich") unter Position 572 und 573 zu subsumierende Häufigkeiten in einer Weise verband, die nicht auf eine am Erfordernis der Abgrenzung zwischen diesen Positionen orientierte Befragung hindeutete, und ihr auch die Behauptungen im Schreiben vom 6. Mai 1994 gegenüberstanden, für deren Richtigkeit der Beschwerdeführer einen Zeugen angeboten hatte.

Im vorliegenden Fall steht dem auch nicht entgegen, daß der Beschwerdeführer dem ihm vorgehaltenen Untersuchungsergebnis nicht nur nicht entgegentrat, sondern darauf mit einem Schreiben reagierte, das einer Zurückziehung seines Antrages nahe kam. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, es sei die Verfahrensrüge einer Partei abzulehnen, die im Verwaltungsverfahren untätig blieb, "um erst vor dem Verwaltungsgerichtshof ihre Zurückhaltung abzulegen" und das Verfahren, an dem sie trotz gebotener Gelegenheit nicht genügend mitwirkte, als mangelhaft zu bekämpfen (vgl. dazu die Nachweise bei Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, S. 262; ähnlich im Zusammenhang mit § 3 Abs. 2 BEinstG das Erkenntnis vom 21. März 1995, Zl. 93/09/0473). Mängel in der Schlüssigkeit und Vollständigkeit eines Gutachtens sind jedoch von Amts wegen und ungeachtet der Mitwirkungspflicht der Partei wahrzunehmen (vgl. dazu die bei Hauer-Leukauf, a.a.O., S. 264, E 46a, nachgewiesene Rechtsprechung). Für den Beschwerdeführer war aber auch, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, auf Grund des ihm vorgehaltenen Ermittlungsergebnisses nicht erkennbar, daß die Anwendung des nicht näher erläuterten Kürzels "IV/v/572" auf sein "Anfallsleiden" in tatsächlicher Hinsicht die Unterstellung bedeutete, dieses Leiden erschöpfe sich in "Anfällen, in Abständen von Monaten". Von einer Einräumung des Parteiengehörs in bezug auf eine solche - in der Bescheidbegründung schließlich auch nicht zum Ausdruck gebrachte - Sachverhaltsannahme kann daher gar nicht gesprochen werden.

Da der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt aus den dargestellten Gründen einer Ergänzung bedarf, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz in der verzeichneten Höhe gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte