VwGH 94/20/0859

VwGH94/20/085927.6.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerden 1.) des H I, (zu hg. Zl. 94/20/0859) und 2.) der E I, mit den mj. Kindern X, J, A, N und C (zu hg. Zl. 94/20/0860), alle in W, alle vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in W, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres vom 25. Oktober 1994, Zl. 4.344.977/5-III/13/94 (betreffend den Erstbeschwerdeführer) und vom 12. Oktober 1994, Zl. 4.344.977/3-III/13/94 (betreffend die Zweitbeschwerdeführerin mit den mj. Kindern), jeweils betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §1 Z1;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführer, ein Ehepaar türkischer Staatsangehörigkeit und assyrisch-christlichen Glaubensbekenntnisses, das am 23. August 1994 in das Bundesgebiet eingereist war und am 29. August 1994 Asylanträge gestellt hat, haben die Bescheide des Bundesasylamtes vom 6. September 1994 (betreffend den Erstbeschwerdeführer) bzw. 7. September 1994 (betreffend die Zweitbeschwerdeführerin und die mj. Kinder), mit denen ihre Asylanträge abgewiesen worden waren, mit Berufung bekämpft.

Die Abweisung der beiden zugrundeliegenden Asylanträge durch das Bundesasylamt wurde im wesentlichen damit begründet, die Beschwerdeführer hätten keine konkreten, gegen ihre Person selbst gerichteten Verfolgungshandlungen glaubhaft machen können. Darüber hinaus müsse sich die Furcht vor Verfolgung auf das gesamte Gebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen, was in ihren Fällen nicht zutreffe. Nachteile, die auf die allgemeinen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Lebensbedingungen in einem Staat zurückzuführen seien, stellten keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes 1991 dar.

Der Erstbeschwerdeführer hatte bereits anläßlich seiner Ersteinvernahme Zeitungsartikel und Pressemeldungen vorgelegt, die die durch paramilitärische Verbände mit Unterstützung des Heimatstaates der Beschwerdeführer systematisch in Angriff genommene "ethnische Säuberung" Südostanatoliens von assyrischen Christen zum Gegenstand haben. Die Zweitbeschwerdeführerin hat sich anläßlich ihrer Ersteinvernahme ausdrücklich auch auf diese Urkunden bezogen.

Als konkret gegen sie gerichtete Verfolgungshandlungen machten die Beschwerdeführer anläßlich ihrer Ersteinvernahme und - bekräftigend - auch in ihren Berufungsausführungen geltend, staatliche Organe (Gendarmerie, Dorfschützer) hätten den Erstbeschwerdeführer mehrfach dazu angehalten, unter Einsatz seines Lebens mit seinem Traktor bzw. LKW Transporte für sie durch zum Teil vermintes Gebiet durchzuführen; die Zweitbeschwerdeführerin sei mehrfach gezwungen worden, unentgeltlich für die Dorfwächter Speisen zuzubereiten; für ihre - nicht islamischen - Kinder sei die Teilnahme am islamischen Religionsunterricht zwingend vorgeschrieben worden. Die Tatsache, daß sie während ihres dreiwöchigen Aufenthaltes in Istanbul im Zuge ihrer geplanten Ausreise aus der Türkei nicht belästigt worden seien, sei darauf zurückzuführen, daß sie in einem Hotel gewohnt hätten und daher als Touristen angesehen worden seien.

Mit den nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde diese Berufungen gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab.

Die belangte Behörde begründete die Abweisung der Berufungen im wesentlichen - gleichlautend mit dem Bundesasylamt - damit, den Beschwerdeführern sei es im gesamten Verwaltungsverfahren nicht möglich gewesen, Umstände glaubhaft zu machen, die objektiv die Annahme hätten rechtfertigen können, daß sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Heimatlandes befänden und nicht gewillt seien, sich wieder unter dessen Schutz zu stellen. Die allgemeine Situation der Christen in der Türkei vermöchte die Gewährung von Asyl nicht zu rechtfertigen, wenn nicht gegen die Person des Asylwerbers selbst gerichtete Verfolgung, d.h. staatliche Maßnahmen von erheblicher Intensität zu befürchten seien. Die Requirierung der Fahrzeuge des Erstbeschwerdeführers könne auch wegen geringer Eingriffsintensität keinen ernsten Nachteil im Sinne einer Verfolgung darstellen, ganz davon abgesehen, daß eine individuell konkret gegen die Person der Asylwerber gerichtete "illegitime und intentionale" Verfolgung, insbesondere in bezug auf ihre Religionszugehörigkeit, daraus nicht abgeleitet werden könne. Die Zerstörung des Fahrzeuges bzw. Ablehnung der Schadenersatzansprüche des Erstbeschwerdeführers seien ebenfalls kein Indiz für eine Verfolgung. Dasselbe gelte für die Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich der von ihr verlangten Versorgungsleistungen für die "Dorfschützer". Darüber hinaus nahm die belangte Behörde das Vorliegen einer "inländischen Fluchtalternative" an, weil die Beschwerdeführer ohne Probleme etwa drei Wochen lang in Istanbul aufhältig gewesen seien und allein aus der Tatsache, daß der Erstbeschwerdeführer infolge der Eintragung seiner Religionszugehörigkeit in seinen Personalausweis vermutlich bei der Arbeitssuche Schwierigkeiten gehabt hätte, noch keine individuelle, konkret gegen ihn gerichtete Verfolgung seitens des türkischen Staates mit ausreichender Wahrscheinlichkeit abgeleitet hätte werden können.

Dem halten die Beschwerdeführer in den Beschwerden nun im wesentlichen entgegen, daß seitens der türkischen Regierung eine Vertreibungs- und Ausrottungspolitik gegen assyrische Christen verfolgt werde, die u.a. darin bestehe, Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe zwischen den staatstreuen Kräften (Gendarmerie und Dorfschützer) und den regierungsfeindlichen Bewegungen der Hisbollah und PKK bewußt auszuspielen. Angesichts dieser Bedrohungslage sei es auch nicht zumutbar, mit der Flucht so lange zuzuwarten, bis sich die auch von den Beschwerdeführern persönlich zu erwartenden Repressionshandlungen der türkischen Entscheidungsträger in allen Einzelheiten verwirklichen würden. Diese gegen die Beschwerdeführer wegen ihrer christlich-assyrischen Herkunft gerichteten Übergriffe seien in allen Teilen der Türkei zu befürchten. Auf das Vorbringen in der Berufung, die Beschwerdeführer seien in Istanbul nur mangels einer Identifizierbarkeit als Christen unbehelligt geblieben, sei die belangte Behörde gar nicht eingegangen.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, vom jeweiligen Beschwerdeführer in Ansehung des ihn betreffenden Bescheides erhobenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges - erwogen hat:

Der belangten Behörde ist zwar zuzugestehen, daß die von den Beschwerdeführern geschilderten, konkret gegen sie gerichteten Vorfälle allein ihrer Intensität nach noch keine Asylrelevanz im Sinne des § 1 Z. 1 AsylG 1991 aufweisen, doch ist im vorliegenden Fall zu bedenken, daß beide Beschwerdeführer mit ausreichender Deutlichkeit bereits im erstinstanzlichen Verfahren darauf verwiesen haben, daß diese konkret gegen sie selbst gerichteten Vorfälle Teil einer gegen die gesamte Gruppe der assyrischen Christen gerichteten Säuberungs- und Ausrottungspolitik ihres Heimatlandes sei. Die Auffassung der belangten Behörde, den Behauptungen der Beschwerdeführer könne insgesamt nicht entnommmen werden, daß sie konkrete Verfolgung in ihrem Heimatland zu befürchten gehabt hätten, kann daher nicht geteilt werden. Die Annahme einer derartigen Befürchtung setzt nämlich keineswegs voraus, daß die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise eine individuell gegen sie gerichtete Verfolgung bereits erlitten hätten oder ihnen zumindest eine solche bereits konkret angedroht worden wäre. Vielmehr weisen die Beschwerdeführer zutreffend darauf hin, daß es im Falle der Richtigkeit ihrer Behauptungen über das Vorliegen einer systematischen Gruppenverfolgung nicht zumutbar gewesen wäre, sich den auch von ihnen persönlich zu erwartenden Repressionshandlungen nicht rechtzeitig durch Flucht zu entziehen.

Die belangte Behörde hätte sich daher mit der Frage auseinanderzusetzen gehabt, ob durch die von den Beschwerdeführern behaupteten systematischen Verfolgungshandlungen gegen die christlich-assyrische Bevölkerungsminderheit im Heimatland der Beschwerdeführer, wie sie den von den Beschwerdeführern vorgelegten Zeitungsartikeln und Pressemeldungen entnommen werden könnten, dergestalt seien, daß den Beschwerdeführern ein Weiterverbleib in ihrem Heimatland unzumutbar geworden wäre.

Dem weiteren von der belangten Behörde herangezogenen Argument des Bestehens einer "inländischen Fluchtalternative" treten die Beschwerdeführer - wie schon in der Berufung - unter Hinweis darauf entgegen, sie seien in den drei Wochen ihres Aufenthaltes in Istanbul mangels Identifizierbarkeit ihres Religionsbekenntnisses nicht behelligt worden, was sich jedoch geändert hätte, hätten sie versucht, dort eine Lebensgrundlage aufzubauen. Mit dieser Frage hat sich die belangte Behörde überhaupt nicht auseinandergesetzt.

Dadurch sowie dadurch, daß die belangte Behörde es unterlassen hat, sich mit dem Vorbringen der Beschwerdeführer auch in den aufgezeigten Punkten auseinanderzusetzen, hat sie die angefochtenen Bescheide mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, bei deren Einhaltung sie zu anderen Bescheiden hätte kommen können. Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

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