Normen
ASVG §500;
ASVG §502 Abs4;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
ASVG §500;
ASVG §502 Abs4;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt vom 23. März 1993 als unbegründet abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt. Mit dem zuletzt genannten Bescheid hatte die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt die begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung des verstorbenen Ehegatten der Beschwerdeführerin für die Zeit vom 4. März 1933 bis 31. März 1959 mit der Begründung abgelehnt, der Verstorbene habe Österreich bereits am 18. Oktober 1937 verlassen, weshalb seine Auswanderung in keinem Zusammenhang mit einer Verfolgung aus religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung gestanden sei, weil eine solche erst ab 13. März 1938 habe eintreten können.
In ihrem dagegen erhobenen Einspruch führte die Beschwerdeführerin im wesentlichen aus, daß ihr verstorbener Ehegatte am 19. Oktober 1937 auf eine Geschäftsreise in das Ausland gefahren sei. Er habe die feste Absicht gehabt, nach Wien zurückzukehren. Sie selbst und auch ihre Schwiegereltern seien in Wien zurückgeblieben. Auch der Geschäftsbetrieb, in dem der verstorbene Versicherte gearbeitet habe, sei über den 13. März 1938 ebenso in Wien bestehen geblieben, wie die Wohnung, in der sie bis zu ihrer eigenen Auswanderung am 20. Juni 1938 nach Palästina gewohnt habe. Durch die ab Jänner 1938 bestehenden Wirren, die zum Anschluß vom 12. März 1938 geführt hätten, sei der Verstorbene gehindert gewesen, nach Österreich zurückzukehren.
Die belangte Behörde ließ die Beschwerdeführerin zum Sachverhalt einvernehmen. Sie gab an, daß sich ihr verstorbener Mann auf eine Geschäftsreise ins Ausland begeben habe, die normalerweise zwei bis drei Wochen, manchmal auch länger, gedauert hätte. Als ihr verstorbener Mann in den Nachrichten gehört habe, daß sich die Lage der Juden in Österreich immer mehr verschlechtert habe, habe er sich entschlossen, Verwandte in Palästina zu besuchen. Nach dem Anschluß im Jahr 1938 sei es ihm dann nicht mehr möglich gewesen, nach Österreich zurückzukehren. Im Juli 1938 sei ihm die Beschwerdeführerin nach Palästina nachgereist.
Diesen Sachverhalt hat die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides dahin gewertet, daß sich der verstorbene Ehegatte der Beschwerdeführerin bereits vor dem 13. März 1938 bedroht gefühlt habe, jedoch von seiner Geschäftsreise nicht nach Österreich zurückgekehrt sei, sondern sich entschlossen habe, Verwandte in Palästina zu besuchen "offensichtlich "um die Lage abzuwarten"". Daraus gehe klar hervor, daß der Genannte bereits vor dem 13. März 1938 nicht mehr habe nach Österreich zurückkehren wollen "zumindest um die Lage abzuwarten". Damit könne von einer Auswanderung "in der Erscheinungsform der verhinderten Rückkehr im Sinne des § 502 Abs. 4 ASVG nicht gesprochen werden, weil hiefür die Verhinderung der (ansonsten möglichen und beabsichtigten) Rückkehr an den österreichischen Wohnsitz ausschließlich in den nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich am 13. März 1938 gelegenen Verfolgungstatbeständen des § 500 ASVG ihren Grund" gehabt haben müßte. Deklariere ein Begünstigungswerber ausdrücklich oder ergebe sich dies aus den Umständen, daß er schon vor dem 13. März 1938 wegen der von ihm auch für Österreich erwarteten und befürchteten zukünftigen Entwicklung nicht mehr habe zurückkehren wollen - und sei es bloß "um die Lage abzuwarten" - dann treffe auf ihn das Tatbestandselement des § 502 Abs. 4 ASVG, aus dem Grund der Abstammung in seinen sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten zu haben, nicht zu.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Partei - eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
§ 500 ASVG lautet:
"Personen, die in der Zeit vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung in ihren sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten haben, werden nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 501, 502 Abs. 1 bis 3 und 5 und 506, Personen, die aus den angeführten Gründen ausgewandert sind, nach den §§ 502 Abs. 4 bis 6, 503 und 506 begünstigt."
§ 502 Abs. 4 ASVG bestimmt auszugsweise:
"Personen, die in der in § 500 angeführten Zeit aus einem der dort angeführten Gründe ausgewandert sind und die vorher in der Zeit seit dem 1. Juni 1927 Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß § 228 oder 229 oder Zeiten nach dem Auslandsrenten-Übernahmegesetz zurückgelegt haben, können für die Zeit der Auswanderung, längstens aber für die Zeit bis 31. März 1959, Beiträge nachentrichten. ..."
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Auswanderung im Sinne der Begünstigungsbestimmungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes die Verlegung des ständigen Wohnsitzes einer Person in das Ausland zu verstehen. Zu den Begriffen des ordentlichen Wohnsitzes sowie zu den Merkmalen eines bleibenden Aufenthaltes in dem Sinne, daß der Aufenthalt zum faktischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensmittelpunkt gemacht wird, verweist der Verwaltungsgerichtshof auf die Zusammenfassung seiner Rechtsprechung in seinen Erkenntnissen vom 17. November 1977, Zl. 1577, 1578/77, vom 5. Dezember 1980, Zl. 3333/79, vom 2. Juni 1982, Zl. 08/2434/79, und vom 17. Februar 1983, Zl. 81/08/0038.
Eine Auswanderung im Sinne des § 502 Abs. 4 ASVG ist nach der Rechtsprechung auch dann anzunehmen, wenn sich eine Person zunächst mit der Absicht eines nur vorübergehenden Aufenthaltes in das Ausland begeben und ihren Wohnsitz in Österreich beibehalten hat, jedoch nach dem 13. März 1938 im Hinblick auf die wegen der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus aus politischen oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung zu gewärtigende Verfolgung ihren ständigen Wohnsitz im Ausland genommen hat. Hingegen kann eine Auswanderung aus subjektiven Gründen der Abstammung VOR dem 13. März 1938 nicht die sozialversicherungsrechtlichen Begünstigungen der §§ 500 ff ASVG zur Folge haben. Der entscheidende Unterschied zwischen der nichtbegünstigungstauglichen Frühemigration und der einer Begünstigung zugänglichen Auswanderung in Form der verhinderten Rückkehr durch die Ereignisse im Gefolge des 13. März 1938 liegt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung: Ist die ausdrücklich erklärte oder aus den Umständen erschließbare dauernde Verlegung des Mittelpunktes der Lebensinteressen von Österreich in das Ausland vor diesem Zeitpunkt erfolgt, liegt Frühemigration vor, andernfalls wird der Entschluß, wegen der Ereignisse des 13. März 1938 und seiner Folgen nicht an den ständigen Wohnsitz nach Österreich zurückzukehren, bereits ab diesem Zeitpunkt als Auswanderung gewertet, ohne daß in diesem Fall noch im einzelnen die sonst für die Wohnsitzverlegung relevanten Umstände geprüft würden, nämlich einerseits jene bei der Aufgabe des bisherigen Wohnsitzes in Österreich und andererseits jene bei der Begründung eines neuen Mittelpunktes der Lebensbeziehungen im Ausland. Diese Sachverhaltsmomente werden also bei der ab dem 13. März 1938 verhinderten Rückkehr ebensowenig geprüft, wie bei der aus Österreich nach dem 13. März 1938 erfolgten Auswanderung, bei der gleichfalls nicht mehr darauf abgestellt wird, ob die Begünstigungswerber allenfalls tatsächliche Beziehungen zum bisherigen österreichischen Wohnsitz durch Hinterlassung von Möbeln, persönlicher Habe etc. aufrechtzuerhalten versuchten und auch im Ausland noch keine feste Niederlassungsabsicht realisiert haben oder realisieren konnten, sondern wo die Absicht, auf Dauer den Wohnsitz zu verlegen, d.h. im Ausland auch neu zu begründen, wegen der faktischen Unmöglichkeit, eine Rückkehr zu realisieren, vermutet wird (vgl. das Erkenntnis vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80 mwH).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 17. Februar 1983, Zl. 81/08/0038, unter Bezugnahme auf sein Erkenntnis vom 2. Oktober 1957, Slg. N.F. Nr. 4437/A, zum Ausdruck gebracht hat, kann dieser der Auswanderung gleichzusetzende, von der Rechtsprechung herausgebildete Tatbestand der verhinderten Rückkehr nur dann angenommen werden, wenn jemand nur durch die Ereignisse des 13. März 1938 an der Rückkehr nach Österreich gehindert wurde. Diesem Erkenntnis vom 17. Februar 1983 lag der Fall zugrunde, daß die damalige Beschwerdeführerin nicht etwa bei einem beruflichen oder privaten Aufenthalt im Ausland von der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus überrascht worden wäre und deshalb im Ausland ihren ständigen Wohnsitz genommen hätte, sondern daß sie schon vor einer zu gewärtigenden Verfolgung durch staatliche oder zumindest offizielle Organe des Nationalsozialismus Österreich verlassen hatte, um eine für sie günstige politische Lage im Ausland abzuwarten.
Auch nach dem Sachverhalt des Erkenntnisses vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80, hat der dortige Beschwerdeführer ausdrücklich erklärt, er und seine Frau hätten "aus Anlaß der Berchtesgadener Gespräche die Rückreise von London nach Wien in Paris nicht fortgesetzt;" so sei es gekommen, daß sie nicht nach Österreich zurückkehrten. Man habe den Entschluß gefaßt, auf Grund der politischen Ereignisse vorübergehend nicht nach Österreich zurückzukehren, wobei er sich bereits im Februar 1938 definitiv bedroht gefühlt habe. Diesen Sachverhalt hat der Verwaltungsgerichtshof gleich jenem des Erkenntnisses Zl. 81/08/0038 als Tatbestand der vorzeitigen Emigration (und damit als nicht begünstigungsfähig) gewertet.
Auf diese Rechtsprechung bezieht sich offenkundig die belangte Behörde im Beschwerdefall, wenn sie ausführt, der verstorbene Ehegatte der Beschwerdeführerin habe sich in das Ausland begeben, um "die Lage abzuwarten".
Eine solche nach der Rechtsprechung geforderte Deklarierung seitens des verstorbenen Versicherten liegt aber hier nach der derzeitigen Aktenlage nicht vor: Entgegen der Auffassung der belangten Behörde ist aus dem Umstand allein, daß sich der Verstorbene (offenbar im Zeitpunkt des Endes der von ihm verrichteten Geschäftsreise) im Hinblick auf die politische Lage entschlossen hat, "Verwandte in Palästina zu besuchen", ein Schluß darauf, daß die Rückkehr nach dem 12. März 1938 bereits ungewiß geworden sei, noch nicht zulässig.
Aus der Absicht zu einem Verwandtenbesuch (ein nach herkömmlichem Verständnis vorübergehendes Ereignis) kann nur der Schluß gezogen werden, daß der verstorbene Versicherte erst nach diesem Verwandtenbesuch wieder nach Wien zurückkehren wollte. Wäre diese Rückkehr - was ebensowenig geklärt ist - erst nach dem 12. März 1938 in Aussicht genommen, so könnte eine "verhinderte Rückkehr" im Sinne der genannten Judikatur vorliegen. Der wesentliche Unterschied dieses Sachverhaltes vom Sachverhalt der zitierten Vorerkenntnisse liegt darin, daß dort wegen der ausdrücklich erklärten Absicht, nicht zurückzufahren, sondern "die Lage abzuwarten", von vornherein gar kein bestimmter, nach dem 13. März 1938 liegender Rückkehrzeitpunkt feststand und somit auch eine Hinderung an dieser (zunächst gar nicht geplanten) Rückkehr nicht angenommen werden konnte.
Sollte jedoch im Beschwerdefall zutreffen, was die Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren behauptete (dies ist von der belangten Behörde allerdings unerörtert geblieben), daß sie selbst in der ehelichen Wohnung bei ihren Schwiegereltern zurückgeblieben und auch der Geschäftsbetrieb in Wien über den 13. März 1938 hinaus bestehen geblieben sei, so spräche auch dies - anders als im Falle der genannten Vorerkenntnisse - gegen die Aufgabe der Rückkehrabsicht nach Österreich, zu einem bestimmten, noch vor dem 12. März 1938 gelegenen Zeitpunkt.
Da somit die entscheidungswesentliche Feststellung der belangten Behörde, der verstorbene Versicherte habe sich nach Palästina begeben "um die Lage abzuwarten", nach der Aktenlage nicht schlüssig ist, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Da der Aufwandersatz, der für den Beschwerdeführer als obsiegende Partei mit der Einbringung der Beschwerde verbunden war (Schriftsatzaufwand) in der genannten Verordnung mit S 12.500,-- pauschaliert ist und in dieser Verordnung weder die Hinzurechnung eines Einheitssatzes noch von 20 % Umsatzsteuer vorgesehen ist, mußte das auf diese Umstände gestützte Mehrbegehren der Beschwerdeführerin abgewiesen werden.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)