Normen
AVG §10 Abs1
AVG §56 implizit
AVG §68 Abs1
AVG §9
KFG 1967 §64 Abs1
KFG 1967 §64 Abs2
KFG 1967 §71 Abs1
KFG 1967 §73
KFG 1967 §74
KFG 1967 §75
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1987:1987110035.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird, soweit er die Vorschreibung einer jährlichen augenärztlichen Nachuntersuchung und der Vorlage des entsprechenden Befundes zum Gegenstand hat, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.770,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen; das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Die 1966 geborene Beschwerdeführerin beantragte mit Eingabe vom 5. März 1985 die Erteilung einer Lenkerberechtigung für die Gruppe B. Die Bezirkshauptmannschaft Lienz verfügte mit Datum 30. April 1985 die Erteilung einer Lenkerberechtigung für die Gruppe B „befristet bis 30.4.1990“ mit der Auflage „Muß Kontaktlinsen tragen“. Der mit Datum 30. April 1985 ausgestellte Führerschein mit der Nr. nn/85 wurde von der Beschwerdeführerin am 7. Mai 1985 übernommen. Unter einem bestätigte die Beschwerdeführerin (auf dem Antragsformular), den mündlich verkündeten Bescheid über die Erteilung der Lenkerberechtigung zur Kenntnis genommen zu haben. Gleichzeitig unterfertigte sie ein Beiblatt, in dem es heißt: „Ich nehme zur Kenntnis, daß mir die Lenkerberechtigung befristet bis 30.4.1990 erteilt wird und erhebe dagegen keinen Einspruch“.
Am 28. Mai 1985 richtete AF, die Mutter der Beschwerdeführerin, als deren gesetzliche Vertreterin an die Bezirkshauptmannschaft Lienz eine Eingabe. Darin beantragte sie, „gemäß § 68 Abs. 2 AVG“ die zeitliche Beschränkung der Lenkerberechtigung ersatzlos zu streichen, ihr allenfalls zwecks Erhebung einer Berufung einen entsprechenden Bescheid zuzustellen. Für den Fall der Nichterledigung beider Anträge erhob sie Berufung mit dem Antrag, die zeitliche Beschränkung der Lenkerberechtigung ersatzlos aufzuheben.
Mit Eingabe vom 27. Dezember 1985 teilte die Beschwerdeführerin der Bezirkshauptmannschaft Lienz mit, sie sei nunmehr volljährig geworden und halte die in der Eingabe ihrer Mutter vom 28. Mai 1985 gestellten Anträge aufrecht.
Der Landeshauptmann von Tirol gab mit Schreiben vom 23. Juli 1985 der Erstbehörde und der Beschwerdeführerin seine Rechtsauffassung bekannt, wonach der mündlich verkündete Bescheid vom „5.7.1985“ (richtig: 7.5.), „womit die zeitliche Gültigkeitsdauer der Lenkerberechtigung befristet wurde“, nicht in einer besonderen Niederschrift gemäß § 62 Abs. 2 AVG 1950 beurkundet worden sei und daher mangels rechtswirksamer Erlassung eines Bescheides „derzeit eine Befristung der Gültigkeitsdauer der Lenkerberechtigung“ nicht vorliege.
Daraufhin verfügte die Bezirkshauptmannschaft Lienz nach Einholung einer Stellungnahme des ihr beigegebenen Amtsarztes mit Bescheid vom 21. Mai 1986 „gemäß § 73 Abs. 1 KFG“ die Befristung der „am 7.5.1985 erteilten Lenkerberechtigung für Kraftfahrzeuge der Gruppe B wegen mangelhafter Sehschärfe gem. § 35 lit. 1 KDV auf die Dauer von fünf Jahren, gerechnet ab Rechtskraft dieses Bescheides“.
Der dagegen erhobenen Berufung gab der Landeshauptmann von Tirol mit Bescheid vom 15. Jänner 1987 „insoweit Folge“, als er „gemäß § 73 Abs. 1 KFG 1967“ aussprach, die Beschwerdeführerin habe beim Lenken von Kraftfahrzeugen der Gruppe B Kontaktlinsen oder geeignete Sehbrillen zu tragen; sie habe sich ferner jährlich einer augenärztlichen Nachuntersuchung zu unterziehen und jährlich den entsprechenden augenärztlichen Fachbefund der Bezirkshauptmannschaft Lienz vorzulegen.
Mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde bekämpft die Beschwerdeführerin lediglich die Auflage, sich jährlich einer augenärztlichen Nachuntersuchung unterziehen und den entsprechenden fachärztlichen Befund vorlegen zu müssen; sie beantragt die kostenpflichtige Aufhebung dieser Vorschreibung. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Beschwerdeführerin bringt vor, der Führerscheinausstellung müsse ein Bescheid zugrundeliegen, mit dem neben einer Auflage auch eine Befristung bis zum 30. April 1990 ausgesprochen worden sei. Dieser Bescheid sei bisher durch einen behördlichen Rechtsakt nicht beseitigt worden, weshalb über dieselbe Sache zwei voneinander verschiedene Bescheide bestünden. Die belangte Behörde hätte vor einer Entscheidung über die Berufung gegen den Bescheid vom 21. Mai 1986 den Bescheid aus dem Jahre 1985 gemäß § 68 Abs. 2 AVG 1950 aufheben müssen. Mit diesem Vorbringen rügt die Beschwerdeführerin der Sache nach einen Verstoß gegen § 68 Abs. 1 AVG 1950. Die belangte Behörde hat sich dazu nicht geäußert.
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG 1950 sind - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen abgesehen - Anbringen von Beteiligten, die die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Eine rechtskräftig erteilte Lenkerberechtigung kann zwar nach Durchführung eines wegen Bedenken im Sinne des § 75 Abs. 1 KFG 1967 eingeleiteten Verfahrens durch eine Entscheidung nach den §§ 73 oder 74 leg. cit. entzogen oder eingeschränkt werden. Ein derartiger Bescheid setzt aber im Hinblick auf die Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung (Erteilung der Lenkerberechtigung) eine nachträglich eingetretene Änderung der für die Erteilung der Lenkerberechtigung maßgeblichen Sachlage voraus.
Die belangte Behörde hat der Erstbehörde mit Schreiben vom 23. Juli 1985 ihre Rechtsansicht mitgeteilt, nach welcher die der Beschwerdeführerin am 7. Mai 1985 erteilte Lenkerberechtigung nicht rechtswirksam befristet worden sei, weil der mündlich verkündete Bescheid nicht in einer Niederschrift beurkundet worden sei (§ 62 Abs. 2 AVG 1950). Deshalb habe die Bezirkshauptmannschaft Lienz, sofern sie nach wie vor eine Befristung für erforderlich erachte, neuerlich mit Bescheid zu entscheiden. Allein aufgrund dieser Rechtsanschauung, und nicht etwa wegen einer Änderung des maßgebenden Sachverhaltes, hat die Erstbehörde den Bescheid vom 21. Mai 1986 erlassen, wenngleich dieser formell auf § 73 Abs. 1 KFG 1967 gestützt worden ist. Diese Beurteilung ergibt sich notwendig aus der Begründung des besagten Bescheides: Darin wird zum einen ausdrücklich das vermeintliche Nichtvorliegen einer rechtswirksamen Befristung der Lenkerberechtigung als Grund für die neuerliche Durchführung eines Ermittlungsverfahrens angegeben; zum anderen findet sich kein Hinweis auf eine seit dem 7. Mai 1985 eingetretene Verschlechterung des Sehvermögens der Beschwerdeführerin.
Die besagte Rechtsansicht ist verfehlt: Im Beschwerdefall ist eine Lenkerberechtigung nicht mit einem gesonderten Bescheid erteilt, sondern nur ein Führerschein ausgestellt worden. Daher kommt diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Bescheidcharakter zu (Erkenntnis vom 23. November 1978, Slg. Nr. 9698/A). Daraus folgt, daß der Beschwerdeführerin mit der Ausfolgung des Führerscheines am 7. Mai 1985 die darin beurkundete Lenkerberechtigung (§ 71 Abs. 1 erster Satz KFG 1967) für die Gruppe B unter Auflage („Muß Kontaktlinsen tragen“) und befristet bis zum 30. April 1990 erteilt worden ist.
Diese (als Bescheid anzusehende) Entscheidung ist noch am selben Tag zufolge des Rechtsmittelverzichtes der Beschwerdeführerin in Rechtskraft erwachsen, sofern die damals noch minderjährige Beschwerdeführerin ohne Genehmigung ihres gesetzlichen Vertreters rechtswirksam auf Rechtsmittel verzichten konnte. Letzteres wird in der Eingabe der Mutter der Beschwerdeführerin vom 28. Mai 1985 unter Hinweis auf die §§ 9 AVG 1950, 21 Abs. 2, 144 ABGB verneint. Die belangte Behörde hat sich auch zu dieser Frage nicht geäußert.
Die damit aufgeworfene Frage der prozessualen Handlungsfähigkeit der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Abgabe des Rechtsmittelverzichtes ist gemäß § 9 AVG 1950 nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes zu beurteilen, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist. Demnach sind in erster Linie die Bestimmungen der Verwaltungsvorschriften, das ist hier das KFG 1967, maßgebend. Dieses Gesetz enthält zwar in seinem die Erteilung und Entziehung der Berechtigung zum Lenken von Kraftfahrzeugen regelnden VII. Abschnitt keine ausdrückliche Bestimmung über die prozessuale Handlungsfähigkeit von Minderjährigen, wohl aber detaillierte Regelungen über das zur Erlangung der entsprechenden Berechtigung erforderliche Mindestalter und über die hiezu notwendige geistige Reife. So darf eine Lenkerberechtigung (mit Ausnahme einer solchen für die Gruppen A und F) nur Personen erteilt werden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und die zum Lenken von Kraftfahrzeugen der entsprechenden Gruppe geistig geeignet sind (§ 64 Abs. 2). Das Vorliegen der letzteren Voraussetzung ist durch ein ärztliches Gutachten nachzuweisen (§§ 67 Abs. 2, 69 Abs. 1). Mit der Ausübung einer Lenkerberechtigung sind Verpflichtungen von zum Teil schwerwiegender Art verbunden, deren Nichtbeachtung für den Bewilligungsinhaber ohne Rücksicht auf sein Alter einschneidende Folgen nach sich ziehen kann (etwa bei Übertretungen nach § 99 Abs. 1 StVO 1960). Dennoch hat der Gesetzgeber (anders als etwa in § 14 Abs. 2 des Waffengesetzes 1986 oder § 11 des Paßgesetzes 1969) im KFG 1967 ein Einschreiten des gesetzlichen Vertreters nicht vorgesehen (sei es, daß dieser den Antrag für den Minderjährigen zu stellen hätte, sei es, daß er den Antrag oder die Erteilung der Lenkerberechtigung zu genehmigen hätte). Daraus in Verbindung mit den besagten Regelungen über das Mindestalter und den Nachweis der erforderlichen geistigen Reife ist der Schluß zu ziehen, daß ein Minderjähriger in Ansehung der jeweiligen Lenkerberechtigung ab Erreichen des gesetzlich vorgesehenen Mindestalters im Sinne des § 9 AVG 1950 selbständig handlungsfähig ist. Demnach ist zur Erteilung einer Lenkerberechtigung weder ein Antrag noch die Zustimmung (oder nachträgliche Genehmigung) des gesetzlichen Vertreters des noch minderjährigen Bewerbers erforderlich (vgl. Szirba, die Jugendlichen im Verwaltungsrecht, ÖAV 1973, 26; Zierl, Die Prozeßfähigkeit in Verwaltungsverfahren, die straßenverkehrsrechtliche Angelegenheiten betreffen, ZVR 1981, 37f). Aus dem Gesagten folgt zum einen, daß ein Bescheid, mit dem über den Antrag eines Minderjährigen auf Erteilung einer Lenkerberechtigung abgesprochen wird, nur diesem (und nicht auch seinem gesetzlichen Vertreter) zuzustellen, wenn aber nur ein Führerschein ausgestellt wird, dieser ihm auszuhändigen ist. Dabei ist ohne Belang, ob dem Antrag zur Gänze oder allenfalls nur eingeschränkt (etwa im Falle von Auflagen oder einer Befristung) keine Folge gegeben wird. Zum anderen vermag der Minderjährige die behördliche Entscheidung selbständig zu bekämpfen, aber auch rechtswirksam auf ein Rechtsmittel dagegen zu verzichten.
Aus dieser Rechtslage folgt im Beschwerdefall:
Die der Beschwerdeführerin am 7. Mai 1985 durch Aushändigen des Führerscheines erteilte, mit einer Auflage versehene und bis zum 30. April 1990 befristete Lenkerberechtigung ist, weil die Beschwerdeführerin trotz ihrer Minderjährigkeit rechtswirksam auf ein Rechtsmittel verzichten konnte, zufolge ihres Rechtsmittelverzichtes sofort in Rechtskraft erwachsen. Im Hinblick darauf war den Kraftfahrbehörden eine neuerliche Entscheidung in dieser Sache bei unveränderter Sachlage verwehrt. Offensichtlich infolge Verkennens der dargestellten Rechtslage haben die Behörden dieses Verfahrens die im Schriftsatz vom 28. Mai 1985 zunächst von der Mutter der Beschwerdeführerin gestellten, in der Folge von dieser aufrecht erhaltenen Anträge samt Berufung, soweit damit ein neuerliches Aufrollen der bereits entschiedenen Sache begehrt wurde, nicht gemäß § 68 Abs. 1 AVG 1950 zurückgewiesen, sondern eine neuerliche Prüfung und Entscheidung der Frage, ob eine Einschränkung der Lenkerberechtigung der Beschwerdeführerin angesichts deren (verminderter) Sehkraft erforderlich sei, für notwendig und zulässig erachtet. (Für die Annahme, daß dazu etwa im Sinne des § 75 Abs. 1 KFG 1967 nachträglich entstandene Bedenken Anlaß gegeben hätten, der angefochtene Bescheid sohin als Ergebnis eines nach dieser Gesetzesstelle durchgeführten Verfahrens anzusehen sei, findet sich im Beschwerdefall - von der Zitierung des § 73 Abs. 1 KFG 1967 abgesehen, die jedoch sachverhaltsmäßig keine Deckung findet - kein Anhaltspunkt.)
Da die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid in einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache trotz unveränderter Sachlage nochmals eine Sachentscheidung gefällt hat und dieser Verstoß gegen § 68 Abs. 1 AVG 1950 den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, war dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes im angefochtenen Umfang aufzuheben. Diese (Teil)Aufhebung konnte antragsgemäß erfolgen, weil die beiden mit dem angefochtenen Bescheid angeordneten Auflagen im Hinblick auf die zwei bei der Erteilung der Lenkerbrechtigung verfügten Nebenbestimmungen trennbar sind. Nunmehr besitzt die Beschwerdeführerin wiederum die ihr am 7. Mai 1985 erteilte Lenkerberechtigung mit den damals normierten Nebenbestimmungen, wobei allerdings die Auflage - als Folge der nur teilweisen Aufhebung - insofern zu Gunsten der Beschwerdeführerin modifiziert ist, als ihr jetzt die Wahl zwischen zwei Sehbehelfen freisteht.
Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen und eine gesonderte Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich noch zu folgendem Hinweis veranlaßt: Die belangte Behörde hat nunmehr neuerlich über die Berufung gegen den Bescheid vom 21. Mai 1986 zu entscheiden, dies allerdings nur hinsichtlich seines Ausspruches über die zweite Nebenbestimmung zur Lenkerberechtigung (Befristung). Dabei hat die Beschwerdeführerin im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa den Beschluß vom 15. Dezember 1977, Slg. Nr. 9458/A) einen Rechtsanspruch nur auf eine auf Zurückweisung ihrer Berufung lautende Entscheidung.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985, im Rahmen des gestellten Antrages (§ 59 Abs. 1 leg. cit.). Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil ein Anspruch auf Ersatz der vom pauschalierten Schriftsatzaufwand errechneten Umsatzsteuer nicht besteht und für die in dreifacher Ausfertigung einzubringende Beschwerde nur S 360,-- an Stempelgebühren zu entrichten waren.
Wien, am 16. Juni 1987
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