VwGH 85/08/0197

VwGH85/08/019715.5.1986

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident DDr. Heller und die Hofräte Dr. Liska, Dr. Knell, Dr. Puck und Dr. Sauberer als Richter, im Beisein des Schriftführers Rat Dr. Novak, über die Beschwerde des HD in Israel, vertreten durch Dr. Rudolf Müller, Rechtsanwalt in Wien II, Leopoldsgasse 51, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 22. Oktober 1985, Zl. MA 14-D 12/83, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei: Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §229 Abs1 Z4 lita;
ASVG §4 Abs1 Z2;
ASVG §4 Abs1 Z3;
ASVG §500 bis §506;
ASVG §500;
ASVG §229 Abs1 Z4 lita;
ASVG §4 Abs1 Z2;
ASVG §4 Abs1 Z3;
ASVG §500 bis §506;
ASVG §500;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Verwaltung) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.270,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 19. Jänner 1983 lehnte die mitbeteiligte Partei die vom Beschwerdeführer gemäß §§ 500 ff ASVG beantragte Begünstigung für die Zeit vom 1. April 1938 bis 31. März 1959 ab, weil seit dem 1. Juli 1927 bis zur Emigration weder Beitrags- noch Ersatzzeiten vorlägen.

Der gegen diesen Bescheid erhobene Einspruch des Beschwerdeführers wurde mit dem angefochtenen Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 als unbegründet abgewiesen. Gleichzeitig stellte die belangte Behörde fest, daß für den Beschwerdeführer der Zeitraum vom 1. April 1938 bis 31. März 1959 aufgrund von § 502 Abs. 4 ASVG in der Pensionsversicherung der Angestellten nicht begünstigt anzurechnen sei, und bestätigte diesbezüglich den Bescheid der mitbeteiligten Partei. Nach der Begründung habe der am 27. Mai 1921 geborene Beschwerdeführer von September 1936 bis April 1938 im Wirkwaren- und Hutgeschäft seiner Mutter SD als Hilfe im Familienverband verschiedene Tätigkeiten verrichtet. Dafür habe er als Abgeltung im Familienverband Taschengeld, Kost und Quartier erhalten. Diese Beschäftigungszeit könne nicht als Ersatzzeit gemäß § 229 Abs. 1 Z. 4 ASVG gewertet werden, weil es sich bei der Tätigkeit des Beschwerdeführers im Betrieb seiner Mutter um den Ausfluß einer familienrechtlichen Mitarbeitsverpflichtung gehandelt habe. Da der Beschwerdeführer - unbestritten - in der Zeit seit dem 1. Juli 1927 Beitragszeiten nicht erworben habe, sei die Voraussetzung des Vorliegens von Vorversicherungszeiten nach § 502 Abs. 4 ASVG nicht erfüllt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor. Die mitbeteiligte Partei beantragte in ihrer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die in § 502 Abs. 1 und 4 ASVG, in der Fassung der 19. und 29. Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz-Novelle, BGBl. Nr. 67/1967 und 31/1973, vorgesehene begünstigte Erwerbung von Anwartschaften und Ansprüchen für Zeiten (u.a.) einer aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung veranlaßten Arbeitslosigkeit (Abs. 1) oder Auswanderung (Abs. 4) gilt für Personen, die vorher in der Zeit seit dem 1. Juli 1927 Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß §§ 228 oder 229 zurückgelegt haben.

Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist allein strittig, ob der Beschwerdeführer durch seine Tätigkeit im Betrieb der Mutter eine Ersatzzeit nach § 229 Abs. 1 Z. 4 lit. a ASVG erworben und damit die Voraussetzungen für eine Begünstigung nach § 502 Abs. 4 ASVG erfüllt habe.

Gemäß § 229 Abs. 1 Z. 4 lit. a ASVG in der Fassung der 29. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 31/1973, gelten als Ersatzzeiten vor dem 1. Jänner 1956 in der Pensionsversicherung der Arbeiter bzw. in der Pensionsversicherung der Angestellten überdies vor dem Zeitpunkt der Einführung der Pflichtversicherung in der Pensions(Renten)versicherung gelegene Zeiten, für die der Versicherte die Ausübung einer Beschäftigung im Betrieb der Eltern, Großeltern, Wahl- oder Stiefeltern, die bei früherem Wirksamkeitsbeginn der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung begründet hätte, nachweist.

Gemäß § 4 Abs. 1 Z. 1 bis 3 ASVG (letztere Bestimmung in der Fassung des Art. II. Z. 1 der 20. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 201/1967) sind in der Kranken- , Unfall- und Pensionsversicherung auf Grund dieses Bundesgesetzes versichert (vollversichert), wenn die betreffende Beschäftigung weder gemäß den §§ 5 und 6 von der Vollversicherung ausgenommen ist noch nach § 7 nur eine Teilversicherung begründet: 1. die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigten Dienstnehmer; 2. die in einem Lehrverhältnis stehenden Personen (Lehrlinge); 3. die im Betrieb der Eltern, Großeltern, Wahl- oder Stiefeltern ohne Entgelt regelmäßig beschäftigten Kinder, Enkel, Wahl- oder Stiefkinder, die das 17. Lebensjahr vollendet haben und keiner anderen Erwerbstätigkeit hauptberuflich nachgehen, alle diese, soweit es sich nicht um eine Beschäftigung in einem land- oder forstwirtschaftlichen oder gleichgestellten Betrieb (§ 27 Abs. 2) handelt.

Mit Recht macht der Beschwerdeführer der belangten Behörde zum Vorwurf, sie habe es unterlassen, das Vorliegen von Ersatzzeiten nach § 229 Abs. 1 Z. 4 lit. a ASVG unter dem Gesichtspunkt des § 4 Abs. 1 Z. 2 leg. cit. zu prüfen. Der Beschwerdeführer hat sowohl im Verfahren vor der mitbeteiligten Partei als auch im Verfahren vor der belangten Behörde stets behauptet, als Lehrling im Betrieb seiner Mutter tätig gewesen zu sein; auch die Zeugen MF, LE, SB und PR bestätigten dies. Dennoch setzte sich die belangte Behörde nicht mit der Frage des Vorliegens des behaupteten Lehrverhältnisses auseinander.

Als ein Lehrverhältnis im Sinne des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG ist ein Ausbildungsverhältnis aufzufassen, das dem Typus nach einem Lehrverhältnis, wie es heute insbesondere im Berufsausbildungsgesetz, BGBl. Nr. 142/1969, sowie im Landarbeitsgesetz und dessen Landesausführungsgesetzen geregelt ist, entsprach. Lehrlinge im Sinne des § 1 des Berufsausbildungsgesetzes sind Personen, die aufgrund eines Lehrvertrages (§ 12) zur Erlernung eines in der Lehrberufsliste (§ 7) angeführten Lehrberufes bei einem Lehrberechtigten (§ 2) fachlich ausgebildet und im Rahmen dieser Ausbildung verwendet (§ 9) werden. Dem entsprach in den wesentlichen Zügen das in den §§ 97 bis 105a Gewerbeordnung 1859 für den Bereich der Gewerbe geregelte Lehrlingsrecht. Lehrling im Sinne des § 97 der Gewerbeordnung 1859 war, wer bei einem Gewerbeinhaber zur praktischen Erlernung des Gewerbes in Verwendung tritt, ohne Unterschied, ob ein Lehrgeld vereinbart wurde oder nicht und ob für die Arbeit Lohn gezahlt wird oder nicht. Besondere Merkmale des Lehrlingsrechtes waren (schon) nach der damaligen Rechtslage die Regelung der Befugnis zur Lehrlingshaltung und des Ausschlusses von dieser, die Schriftlichkeit und Registrierungspflichtigkeit des Lehrlingsvertrages, die gesetzliche Regelung bestimmter Inhalte des Lehrlingsvertrages sowie der Beendigung des Lehrverhältnisses. Auf diese in der Rechtsordnung ausgeformte Gestaltung des Lehrverhältnisses stellte auch der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 23. Mai 1962, Zl. 439/60, ab, wenn er sagte, unter einem Lehrverhältnis im Sinne des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG sei nur ein Arbeitsverhältnis zu verstehen, das als Lehrverhältnis im Rahmen der Rechtsordnung eine Regelung gefunden habe, in der die in einem solchen Lehrverhältnis stehende Person ausdrücklich als Lehrling bezeichnet worden sei (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. November 1980, Zl. 2263/78).

Wenngleich der Erfahrungssatz, daß im Familienverband lebende minderjährige Kinder in der Regel aufgrund einer familienrechtlichen Verpflichtung im Betrieb ihrer Eltern mithelfen (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Dezember 1985, Zl. 85/08/0153), auch der Annahme eines Lehrverhältnisses entgegensteht, kann das Vorliegen eines solchen im Beschwerdefall ausdrücklich behaupteten Verhältnisses nicht ohne Prüfung der oben angeführten, für dieses Verhältnis charakterischen Merkmale angeschlossen werden.

Mit diesen Fragen setzte sich die belangte Behörde nicht auseinander, weshalb sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastete.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Bezüglich der zitierten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes wird auf Art. 14 Abs. 4 seiner Geschäftsordnung, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 15. Mai 1986

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte