VwGH 2013/22/0062

VwGH2013/22/006217.4.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der N, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 4. Februar 2008, Zl. E1/43.799/2008, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z11;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs2;
NAG 2005 §57;
12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z11;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs2;
NAG 2005 §57;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 4. Februar 2008 wies die belangte Behörde die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, gemäß § 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.

In ihrer Begründung stellte die belangte Behörde zunächst fest, dass die seit August 2001 im Bundesgebiet behördlich gemeldete Beschwerdeführerin im Juni 2005 - unter Berufung auf ihre im Februar 2005 erfolgte Adoption durch eine österreichische Staatsbürgerin - einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung "begünstigter Drittstaatsangehöriger - Ö, § 49 Abs. 1 FrG" gestellt habe. Dieser Antrag sei mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 2. April 2007 rechtskräftig abgewiesen worden. Da die Beschwerdeführerin über keinen Aufenthaltstitel verfüge, seien die Voraussetzungen zur Erlassung der Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG gegeben.

Anschließend stellte die belangte Behörde zusammengefasst das Berufungsvorbringen der Beschwerdeführerin dar. Diese habe vorgebracht, dass ihre Wahlmutter, mit der sie im gemeinsamen Haushalt lebe, an Diabetes leide und auf Grund eines Herzschrittmacherimplantats betreuungsbedürftig sei und dass sie (die Beschwerdeführerin) diese Betreuung gewährleiste, zumal ihre Wahlmutter keine weiteren Angehörigen mehr habe. Weiters habe die Beschwerdeführerin auf die Bindung zu ihren beiden Brüdern, die österreichische Staatsbürger seien, hingewiesen. Ihre Wahlmutter gewähre ihr Unterhalt, zudem werde sie von ihren Geschwistern unterstützt. Schließlich habe die Beschwerdeführerin geltend gemacht, ihre Wahlmutter "sei ehemalige jugoslawische Staatsbürgerin und besuche immer wieder ihre ehemalige Heimat, zu der auch Slowenien zähle", weshalb sie ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe.

Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 66 FPG anerkannte die belangte Behörde zwar einen mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin. Dieser Eingriff sei jedoch zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (hier zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens) dringend geboten. Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften komme aus der Sicht der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zu. Gegen dieses Interesse verstoße der nicht bloß kurzfristige unrechtmäßige Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet jedoch gravierend. Angesichts dessen seien die privaten und familiären Interessen der Beschwerdeführerin nicht höher zu bewerten als das Interesse der Allgemeinheit an ihrer Ausreise. Die belangte Behörde ging weiters nicht vom Vorliegen eines "Freizügigkeitssachverhaltes" aus. Mangels besonders zu Gunsten der Beschwerdeführerin sprechender Umstände sah sie auch keinen Grund, von der Erlassung der Ausweisung im Rahmen des Ermessens Abstand zu nehmen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei - im Hinblick auf die Zustellung des angefochtenen Bescheides am 5. Februar 2008 - um die Fassung BGBl. I Nr. 99/2006 und Nr. 2/2008.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Weder nach dem Beschwerdevorbringen noch nach der Aktenlage bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG bei der Beschwerdeführerin vorläge.

Die Beschwerdeführerin macht allerdings geltend, dass ihre Adoptivmutter österreichische Staatsbürgerin und "als solche freizügigkeitsberechtigt" sei. Sie habe ihr Recht auf Freizügigkeit auch in Anspruch genommen und sie gewähre der Beschwerdeführerin Unterhalt, weshalb § 86 Abs. 2 FPG zur Anwendung komme.

Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: § 86 Abs. 2 FPG enthält eine Sondervorschrift betreffend die Ausweisung von (u.a.) begünstigten Drittstaatsangehörigen. Nach der Definition des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG sind begünstigte Drittstaatsangehörige (u.a.) Verwandte eines Österreichers, der sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hat, in gerader absteigender Linie nach der Vollendung des 21. Lebensjahres, sofern ihnen tatsächlich Unterhalt gewährt wird. Ausschlaggebend ist im vorliegenden Fall somit (neben der tatsächlichen Unterhaltsgewährung), ob die Adoptivmutter der Beschwerdeführerin von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie eines ihrer Rechte gemäß (damals:) den Art. 18 und 39 ff EG ausübt oder ausgeübt hat (vgl. das zu § 57 NAG - demzufolge die §§ 51 bis 56 NAG auf Angehörige von u.a. Österreichern Anwendung finden, "sofern diese ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen haben" - ergangene hg. Erkenntnis vom 29. September 2011, Zl. 2009/21/0386). Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis mit näherer Begründung aber auch festgehalten, dass nicht jede noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts (dort: im Rahmen des § 57 NAG) Relevanz entfaltet; vielmehr ist es erforderlich, dass die österreichische "Ankerperson" mit einer gewissen Nachhaltigkeit von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Nichts anderes kann für die (hier maßgebliche) Inanspruchnahme der Freizügigkeit im Rahmen des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG gelten.

In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich aus der Aktenlage keine Anhaltspunkte ergeben, dass die österreichische "Ankerperson" von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, wäre es primär an der Beschwerdeführerin gelegen, bereits im Verwaltungsverfahren diesbezüglich ein konkretes Vorbringen zu erstatten, handelt es sich dabei doch um in ihrem Bereich gelegene Tatsachenumstände (vgl. in diesem Sinn etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Mai 2011, Zl. 2008/21/0124). Das im Verwaltungsverfahren erstattete, allerdings nicht näher substantiierte Vorbringen der Beschwerdeführerin, ihre Adoptivmutter habe "ihre ehemalige Heimat (nämlich das vormalige Jugoslawien), zu der auch Slowenien zähle, immer wieder besucht", ist jedenfalls nicht geeignet, eine Inanspruchnahme der Freizügigkeit im Sinn des oben Gesagten darzutun. Vor diesem Hintergrund war die belangte Behörde auch nicht gehalten, weitere Ermittlungen zu dieser Frage durchzuführen.

Es ist somit nicht als rechtswidrig zu erkennen, dass die belangte Behörde die Ausweisung auf § 53 Abs. 1 FPG gestützt hat.

Soweit die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang noch gleichheitsrechtliche Bedenken geltend macht, genügt es, auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 2009, VfSlg. 18.968, hinzuweisen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat allerdings im Urteil vom 15. November 2011, Rs C-256/11 , "Dereci ua.", ausgesprochen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger (im vorliegenden Fall die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzende Adoptivmutter der Beschwerdeführerin, die laut Vorbringen angesichts ihrer schweren chronischen Erkrankung auf die Betreuung durch ihre Adoptivtochter zwingend angewiesen sei) de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Sollten derartige Gründe - der bloße Wunsch nach Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union reicht allerdings nicht aus - bestehen, würde die gegenüber einem Fremden ausgesprochene Anordnung, das Bundesgebiet wegen des unrechtmäßigen Aufenthalts zu verlassen, dem Unionsrecht widersprechen und daher nicht zulässig sein (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. September 2012, Zl. 2009/22/0339, mwN).

Die belangte Behörde wird daher im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben (vgl. auch das - den abweisenden Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 2. April 2007 im Aufenthaltstitelverfahren der Beschwerdeführerin aufhebende - hg. Erkenntnis vom 19. September 2012, Zl. 2008/22/0229).

Der angefochtene Bescheid war somit schon deshalb - ohne das Ergebnis der behördlichen Interessenabwägung im Blick auf Art. 8 EMRK einer Prüfung zu unterziehen - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 17. April 2013

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