VwGH 2012/21/0014

VwGH2012/21/001420.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der M in W, vertreten durch Dr. Arno Brauneis, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Bauernmarkt 2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 19. September 2011, Zl. BMI- 1041354/0001-II/3/2011, betreffend Nichtigerklärung eines Bescheides gemäß § 68 Abs. 4 Z 1 AVG, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs4 Z1;
AVG §68 Abs4;
B-VG Art130 Abs2;
B-VG Art83 Abs2;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
AVG §68 Abs4 Z1;
AVG §68 Abs4;
B-VG Art130 Abs2;
B-VG Art83 Abs2;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Bundespolizeidirektion Wien erließ gegen die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, mit Bescheid vom 25. April 2009 gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Dem lag die Annahme zugrunde, dass es sich bei der von der Beschwerdeführerin mit einem österreichischen Staatsbürger im Jänner 2005 geschlossenen und im Dezember 2007 geschiedenen Ehe um eine sogenannte "Aufenthaltsehe" gehandelt habe.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2011 gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien der Berufung der Beschwerdeführerin Folge und behob den erstinstanzlichen Bescheid (ersatzlos). Es lägen zwar - so wurde dieser Bescheid begründet - "tatsächlich gewisse Argumente" vor, die das Vorliegen einer Scheinehe indizierten, doch hätten "die Verfahrensergebnisse letzten Endes nicht die für die Bestätigung des erstinstanzlichen Bescheids erforderliche 'an Sicherheit grenzende' Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Vorliegen einer Aufenthaltsehe erbringen" können. Im Zweifel sei daher zugunsten der Beschwerdeführerin zu entscheiden.

Dieser Bescheid wurde mit dem vorliegend in Beschwerde gezogenen Bescheid der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) vom 19. September 2011 gemäß § 68 Abs. 4 Z 1 AVG für nichtig erklärt. In der Begründung ging die belangte Behörde zunächst davon aus, die Sicherheitsdirektion habe einen "bestätigenden" Berufungsbescheid erlassen. Unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 31. Mai 2011, Zl. 2011/22/0097, führte die belangte Behörde dann aus, es sei nunmehr offenkundig, dass die Sicherheitsdirektion für die Erlassung des Bescheides vom 21. Juni 2011 sachlich unzuständig gewesen und die Beschwerdeführerin daher in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 83 Abs. 2 B-VG verletzt worden sei. Abschließend wies die belangte Behörde dann noch darauf hin, dass damit die Berufung der Beschwerdeführerin "betreffend Erlassung einer Ausweisung" (gemeint: gegen das erstinstanzliche Aufenthaltsverbot) wieder anhängig und diese an den örtlich zuständigen unabhängigen Verwaltungssenat weiterzuleiten sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

§ 68 Abs. 2 bis 5 AVG lauten:

"(2) Von Amts wegen können Bescheide, aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist, sowohl von der Behörde oder vom unabhängigen Verwaltungssenat, die oder der den Bescheid erlassen hat, als auch in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde aufgehoben oder abgeändert werden.

(3) Andere Bescheide kann in Wahrung des öffentlichen Wohles die Behörde, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat, wenn ein unabhängiger Verwaltungssenat entschieden hat, dieser, oder die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde insoweit abändern, als dies zur Beseitigung von das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährdenden Mißständen oder zur Abwehr schwerer volkswirtschaftlicher Schädigungen notwendig und unvermeidlich ist. In allen Fällen hat die Behörde mit möglichster Schonung erworbener Rechte vorzugehen.

(4) Außerdem können Bescheide von Amts wegen in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde als nichtig erklärt werden, wenn der Bescheid

1. von einer unzuständigen Behörde oder von einer nicht richtig zusammengesetzten Kollegialbehörde erlassen wurde,

  1. 2. einen strafgesetzwidrigen Erfolg herbeiführen würde,
  2. 3. tatsächlich undurchführbar ist oder
  3. 4. an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leidet.

(5) Nach Ablauf von drei Jahren nach dem in § 63 Abs. 5 bezeichneten Zeitpunkt ist eine Nichtigerklärung aus den Gründen des Abs. 4 Z 1 nicht mehr zulässig. "

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zum Ganzen mit weiteren Nachweisen das Erkenntnis vom 22. Oktober 2001, Zl. 2001/19/0018) stellt eine Nichtigerklärung nach § 68 Abs. 4 AVG eine Ermessensentscheidung dar, die auch ausreichend zu begründen ist. Es genügt somit nicht, eine auf diese Gesetzesstelle gestützte Nichtigerklärung allein mit der - im vorliegenden Fall unstrittigen - Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen (hier: der Z 1) zu begründen. Vielmehr gilt auch für die Nichtigerklärung nach § 68 Abs. 4 AVG, dass die Behörde - wie für die Fälle des Abs. 3 im Gesetz ausdrücklich vorgesehen - "mit möglichster Schonung erworbener Rechte" vorzugehen hat. Der Grundsatz der möglichsten Schonung erworbener Rechte statuiert ein Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in erworbene Rechte. So sind im Zuge der Ermessensübung die nachteiligen Wirkungen des Bescheides in Bezug auf das durch die verletzte Norm geschützte öffentliche Interesse gegen jene Nachteile abzuwägen, welche die Aufhebung des Bescheides in Bezug auf die durch das (im Institut der Rechtskraft verkörperte) Prinzip der Rechtssicherheit geschützten Interessen des Dritten nach den konkret zu beurteilenden Umständen des Einzelfalles mit sich brächte (siehe dazu auch Hengstschläger/Leeb, AVG, Rz 106 zu § 68, mwN).

Eine solche Begründung ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen, weil die belangte Behörde offenbar im Hinblick auf die aktenwidrige Annahme, bei dem von ihr für nichtig erklärten Bescheid handle es sich um einen das erstinstanzliche Aufenthaltsverbot bestätigenden Berufungsbescheid, gar nicht erkannte, dass durch die Nichtigerklärung des (in Wahrheit) das erstinstanzliche Aufenthaltsverbot (ersatzlos) behebenden Bescheides der Sicherheitsdirektion in Rechte der Beschwerdeführerin eigegriffen wird.

Wenn in der Gegenschrift behauptet wird, die belangte Behörde habe "durchaus eine Abwägung der öffentlichen Interessen an der Beseitigung des Bescheides sowie dem Interesse der Partei an der Rechtssicherheit vorgenommen", so ist ihr zu entgegnen, dass dies in der Bescheidbegründung keinen Niederschlag gefunden hat. Soweit eine solche Gegenüberstellung der Interessen in der Gegenschrift nachgetragen wird, kann dies die Mangelhaftigkeit des Bescheides nicht beseitigen (vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, E 140 ff zu § 60 AVG, zitierte Rechtsprechung).

Im Übrigen ist zu der in der Gegenschrift unter dem Punkt "Verhältnismäßigkeit" geäußerten Auffassung noch anzumerken, dass dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Zuständigkeitsordnung - nur auf dieses öffentliche Interesse und nicht (auch) auf das sich aus dem Recht auf den gesetzlichen Richter ergebende Interesse der Beschwerdeführerin kommt es in der vorliegenden Konstellation an - kein absoluter Vorrang zukommt. Vielmehr ist es abwägend unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles dem Interesse der Beschwerdeführerin auf Rechtssicherheit (Beibehaltung der Beseitigung des Aufenthaltsverbotes) gegenüberzustellen.

Der angefochtene Bescheid war somit angesichts des aufgezeigten, auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung beruhenden Begründungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 20. März 2012

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