VwGH 2011/23/0287

VwGH2011/23/028721.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des Dr. O, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 14, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 29. August 2008, Zl. E1/486.741/2007, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein georgischer Staatsangehöriger, reiste am 15. Oktober 2000 mit einem Sichtvermerk nach Österreich ein.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 19. November 2001 wurde über ihn wegen zwei strafgerichtlichen Verurteilungen auf Grund von Eigentumsdelikten ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot verhängt.

Am 4. März 2003 heiratete der in Österreich verbliebene Beschwerdeführer eine österreichische Staatsbürgerin, mit der er im gemeinsamen Haushalt lebt.

Über Antrag des Beschwerdeführers hob der im Devolutionsweg zuständig gewordene Bundesminister für Inneres mit Bescheid vom 12. März 2007 das Aufenthaltsverbot gemäß § 65 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) auf.

Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007 wies die Bundespolizeidirektion Wien den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 FPG aus dem Bundesgebiet aus und begründete dies im Wesentlichen damit, dass er sich "zumindest seit 22. Mai 2007" illegal im Bundesgebiet aufhalte. Mangels Berechtigung zur Inlandsantragstellung sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich, seinen Aufenthalt vom Inland aus zu legalisieren. Wegen seines erst kurzen Aufenthalts in Österreich, wo er keiner Beschäftigung nachgehe und über "keine weiteren familiären Bindungen" verfüge, würden die nachteiligen Folgen einer Abstandnahme von der Ausweisung unverhältnismäßig schwerer wiegen als deren Auswirkungen auf seine Lebenssituation.

In der dagegen erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, dass er seit 4. März 2003 aufrecht mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und seit mehr als sieben Jahren im Bundesgebiet aufhältig sei. Er habe sein Medizinstudium an der Universität Wien zielstrebig und ernsthaft verfolgt. Schon deshalb und wegen seines langen Aufenthalts in Österreich sei mit überdurchschnittlichen Deutschkenntnissen und "zahlreichen Bindungen zum Bundesgebiet" zu rechnen. Im Hinblick auf seine Ehe mit einer Österreicherin könne von einer finanziellen und wirtschaftlichen Absicherung ausgegangen werden. Überdies verfüge er über eine eigene Kranken- und Unfallversicherung und er werde auch von seinen Eltern finanziell unterstützt. Zudem sei das Aufenthaltsverbot bereits wieder aufgehoben worden, weil sich seit dessen Erlassung die dafür maßgeblichen Umstände zu seinen Gunsten geändert hätten und von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen gewesen sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG. Begründend führte sie dazu zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer über kein Aufenthaltsrecht für Österreich verfüge, weshalb die Voraussetzungen zur Erlassung der Ausweisung nach § 53 Abs. 1 FPG - vorbehaltlich der Bestimmung des § 66 Abs. 1 FPG - gegeben seien. Der Beschwerdeführer sei verheiratet und lebe mit seiner Gattin im gemeinsamen Haushalt. Er habe zwischenzeitig das Medizinstudium offenbar erfolgreich beendet. Es sei daher von einem mit der Ausweisung verbundenen erheblichen Eingriff in sein Privat- und Familienleben auszugehen. Dieser sei jedoch dringend geboten und deshalb nach § 66 Abs. 1 FPG zulässig. So sei der Beschwerdeführer bereits kurz nach seiner Einreise straffällig geworden. Er sei nur bis zur Erlassung des Aufenthaltsverbots zum Aufenthalt berechtigt gewesen, habe dieses jedoch völlig ignoriert und sei im Bundesgebiet geblieben. Die nicht unterzubewertende familiäre Bindung des Beschwerdeführers zu seiner Gattin sei er zu einem Zeitpunkt eingegangen, als er weder zum Aufenthalt in Österreich berechtigt gewesen sei noch mit einem ständigen Weiterverbleib im Bundesgebiet habe rechnen dürfen. Dass er zwischenzeitig sein Medizinstudium absolviert habe, spreche zwar für ihn, daraus sei jedoch "kein gesteigertes Interesse" an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ableitbar. Nach der Aktenlage verfüge der Beschwerdeführer über keine sonstigen familiären Bindungen und könne auf keinerlei Verfestigung am heimischen Arbeitsmarkt verweisen. Insgesamt sei - so führte die belangte Behörde weiter aus - kein Grund ersichtlich, weshalb den keinesfalls ausgeprägten privaten Interessen ein derartiges Gewicht zuzuerkennen wäre, dass demgegenüber das maßgebliche hohe öffentliche Interesse an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens in den Hintergrund zu treten hätte. Unter diesen Umständen sei es dem Beschwerdeführer - der auch nicht in der Lage sei, seinen Aufenthalt vom Inland aus zu legalisieren - zumutbar, das österreichische Bundesgebiet zu verlassen und sich um eine rechtmäßige Zuwanderung zu bemühen. Sollte er alle erforderlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllen, greife seine Ausreise und ein vorübergehender Aufenthalt in seiner Heimat in sein Privat- und Familienleben keinesfalls unverhältnismäßig ein. Mangels sonstiger, besonders zu seinen Gunsten sprechender Umstände sei auch nicht im Rahmen einer Ermessensübung von der Erlassung der Ausweisung Abstand zu nehmen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die zu diesem Zeitpunkt (1. September 2008) geltende Fassung des genannten Gesetzes.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Da der Beschwerdeführer unstrittig über keinen Aufenthaltstitel verfügt, ist die behördliche Annahme, dass der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG erfüllt sei, nicht rechtswidrig.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Die Ausweisung darf nach dem - auch bei Ausweisungen gemäß § 53 Abs. 1 FPG zu beachtenden (vgl. das Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0348, Punkt 2.3.2.) - § 66 Abs. 2 FPG jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf die Dauer des Aufenthalts und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen (Z. 1) und auf die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen (Z. 2) Bedacht zu nehmen. Bei der Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt.

Die Beschwerde wendet sich in erster Linie gegen die Interessenabwägung und verweist in diesem Zusammenhang auf das abgeschlossene Medizinstudium, die deshalb bestehenden überdurchschnittlichen Kenntnisse der deutschen Sprache, den Aufenthalt seit nunmehr acht Jahren im Bundesgebiet und die aufrechte Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Die belangte Behörde habe zwar die unbestrittenen strafgerichtlichen Verurteilungen berücksichtigt, jedoch vollkommen außer Betracht gelassen, dass das Aufenthaltsverbot inzwischen aufgehoben worden sei. Seit dessen Verhängung - somit praktisch während der gesamten Zeit seines Aufenthalts im Bundesgebiet - habe sich der Beschwerdeführer wohlverhalten und sei strafgerichtlich nicht mehr in Erscheinung getreten.

Mit diesen Ausführungen zeigt die Beschwerde im Ergebnis einen relevanten Begründungsmangel des angefochtenen Bescheids auf.

Die belangte Behörde führte zwar aus, dass mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 12. März 2007 das gegen den Beschwerdeführer erlassene Aufenthaltsverbot aufgehoben worden sei. Sie berücksichtigte in diesem Zusammenhang jedoch die dafür maßgebenden - und bereits in der Berufung dargestellten - Umstände nicht in ausreichendem Maße. So wurde in jenem Bescheid festgehalten, dass sich der Beschwerdeführer seit Erlassung des Aufenthaltsverbots (zu diesem Zeitpunkt seit sechs Jahren) wohlverhalten habe und strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten sei. Er verfolge sein Medizinstudium ernsthaft. Auch im Hinblick auf die nach wie vor aufrechte Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin und die damit verbundene finanzielle und wirtschaftliche Absicherung des Beschwerdeführers könne davon ausgegangen werden, dass er weitgehend integriert sei. In seinem Fall sei daher eine positive Zukunftsprognose zu stellen.

Wenn die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid zur Begründung der Gefährdung des öffentlichen Interesses daher abermals auf die Straffälligkeit des Beschwerdeführers kurz nach seiner Einreise rekurriert, hätte sie in diesem Zusammenhang das daran anschließende Wohlverhalten und die inzwischen erfolgte Aufhebung des Aufenthaltsverbots wegen Wegfalls der Gefährdung sowie die in jenem Bescheid zugestandene positive Zukunftsprognose nicht außer Acht lassen dürfen. Vielmehr wäre die zwischenzeitig - aus den dargestellten Gründen - vollkommen geänderte Situation bei der Interessenabwägung gewichtiger einzubeziehen gewesen. So absolvierte der Beschwerdeführer in Österreich seither das Universitätsstudium der Medizin und schloss dieses erfolgreich ab. Außerdem war der Beschwerdeführer (zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung) seit mittlerweile fünf Jahren mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet.

Der belangten Behörde ist im Übrigen zwar zuzugestehen, dass der Gesichtspunkt, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, in die von Art. 8 EMRK geforderte Gesamtbetrachtung einfließen darf, dies hat jedoch schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (siehe Punkt 2.4.2. des schon genannten Erkenntnisses Zl. 2009/21/0348, mwN). In diesem Zusammenhang darf im vorliegenden Fall nämlich auch nicht gänzlich unbeachtet bleiben, dass der unrechtmäßige Aufenthalt des Beschwerdeführers - trotz hiezu bestehender Möglichkeit - durch die Fremdenpolizeibehörden nicht beendet wurde.

Schließlich ist die belangte Behörde auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach sich die Fremdenpolizeibehörde in Konstellationen wie der vorliegenden, also bei aufrechter Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin, eingehend mit den konkreten Auswirkungen einer Ausweisung auf die Situation des Fremden und seiner Familienangehörigen zu befassen und nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners zu treffen hat (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse vom 9. November 2010, Zl. 2007/21/0493 und Zl. 2009/21/0031).

Da die belangte Behörde die gebotene Interessenabwägung nach § 66 FPG (auch vor dem Hintergrund der in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hervorgehobenen Kriterien) damit nur unzureichend vorgenommen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem relevanten Begründungsmangel belastet. Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 21. Februar 2012

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