VwGH 2011/22/0312

VwGH2011/22/031219.1.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde der DS in G, geboren am 2. September 1959, vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 26/3, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 8. September 2010, Zl. 318.362/13-III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Einleitend ist anzumerken, dass der Verwaltungsgerichtshof den hier gegenständlichen Fall dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens unterbreitet hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Vorabentscheidungsersuchen vom 5. Mai 2011, EU 2011/0004 bis 0008, zu dem hier relevanten Sachverhalt und dem Gang des Verwaltungsverfahrens Folgendes ausgeführt:

"Frau S(...) ist am 2. September 1959 geboren und serbische Staatsangehörige. Sie lebte bislang in Serbien und hält sich immer noch dort auf. Sie ist seit 14. September 1979 mit einem serbischen Staatsangehörigen verheiratet, der ebenfalls in Serbien lebt. Sie hat drei erwachsene Kinder. Auch diese leben in Serbien.

Am 5. September 2007 brachte Frau S(...) einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein, den sie damit begründete, dass sie die Familienzusammenführung mit ihrem am 22. November 1943 geborenen, seit langer Zeit hier lebenden Vater, dem am 4. September 2007 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, anstrebe. Sie werde bei ihrem Vater wohnen und er werde für ihren Lebensunterhalt sorgen. In diesem Zusammenhang legte Frau S(...) eine schriftliche Erklärung ihres Vaters vor, in der dieser bestätigte, Frau S(...) auch schon bislang eine monatliche Unterstützung von EUR 200,-- geleistet zu haben und noch immer zu leisten. Er werde auch hinkünftig die erforderlichen Geldmittel für seine Tochter bereitstellen.

In ihrer den Antrag abweisenden Entscheidung stellte die belangte Behörde darauf ab, dass der Vater von Frau S(...) seit 1972 in Österreich lebe. Es gebe aber keine Hinweise dafür, dass er nach Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft sein ihm unionsrechtlich zustehendes Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe, sodass Frau S(...) für sich keine Begünstigung aus Unionsrecht in Anspruch nehmen könne.

Zwar habe Frau S(...) von ihrem Vater Geldgeschenke erhalten. Einem volljährigen drittstaatszugehörigen Angehörigen eines österreichischen Staatsbürgers in absteigender Linie dürfe der Familiennachzug aber nur dann gewährt werden, wenn er vom Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen hätte. Dies setze aber eine Bedürftigkeit des Empfängers voraus. Die bisherigen Leistungen des Vaters an Frau S(...) könnten dann aber nicht als Unterhaltsleistungen angesehen werden. Es sei nämlich nicht nachgewiesen worden, dass diese notwendig gewesen seien, um die dringendsten Lebensbedürfnisse zu decken. Es sei aber auch das Einkommen des Vaters von Frau S(...) nicht ausreichend, um ihr für ihren Aufenthalt in Österreich die gesetzlich geforderten Unterhaltsmittel verschaffen zu können. Ihr Vater müsste nach Abzug jener Mittel, die ihm für seine eigene Lebensführung und die seiner Ehefrau (also der Mutter von Frau S(...)) verbleiben müssten, für Frau S(...) gesetzlich betragsmäßig festgelegte Unterhaltsmittel von EUR 783,99 bereitstellen können. Dazu sei der Vater, der seit 1. Jänner 2008 eine Alterspension beziehe und als geringfügig Beschäftigter über ein Zusatzeinkommen verfüge, aber mit seinem Einkommen - unter Bedachtnahme auf die Kosten der Unterkunft - nicht in der Lage.

Auch Art. 8 EMRK gebiete die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Frau S(...) nicht. Frau S(...) stehe im einundfünfzigsten Lebensjahr und sei seit 14. Jänner 1974 mit einem serbischen Staatsangehörigen verheiratet. Sie habe drei erwachsene Kinder. Sie alle lebten in Serbien. Mit ihrem seit 1972 in Österreich lebenden Vater habe Frau S(...) seither kein Familienleben geführt. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass Frau S(...) der Aufenthalt in Österreich infolge Art. 8 EMRK zur Aufrechterhaltung eines Familienlebens mit ihrem Vater gewährt werden müsste."

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegenständliche Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde, einem an den EuGH gerichteten Ersuchen um Vorabentscheidung sowie nach Ergehen des diesbezüglichen Urteils des EuGH vom 15. November 2011, C- 256/11 , erwogen:

Der EuGH hat die an ihn gerichtete - hier relevante - Frage des Verwaltungsgerichtshofes wie folgt beantwortet:

"1. Das Unionsrecht und insbesondere dessen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Unionsbürger ist, sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts."

Unter Bedachtnahme auf dieses Urteil des EuGH erweist sich der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes behaftet.

Die belangte Behörde hätte nämlich bei ihrer Entscheidung diese - vom EuGH nunmehr klargestellte - Rechtslage zu beachten und Feststellungen dahingehend zu treffen gehabt, die eine Beurteilung ermöglicht hätten, ob eine Weigerung, der Beschwerdeführerin - diese verweist auf eine Krankheit ihres Vaters und die ihm anzugedeihende Unterstützung - einen Aufenthaltstitel in Österreich zu erteilen, dazu führen würde, dass ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Vater der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2011, 2009/22/0054). Dieses Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich dem genannten Urteil des EuGH zufolge auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaates, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes (Randnr. 66 des Urteiles). Die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaates aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, sich mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, rechtfertigt für sich genommen allerdings nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Familienangehörigen kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Randnr. 68 des EuGH-Urteiles).

Da der Schutz der Rechte aus dem Unionsbürgerstatus mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht gleichzusetzen ist, sondern eine andere Zielrichtung aufweist und daher bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde im fortzusetzenden Verfahren der Beschwerdeführerin Gelegenheit zu geben haben, dazu relevante Umstände vorzubringen, sowie Feststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung im oben angeführten Sinn ermöglichen.

Da die belangte Behörde die oben dargestellte Rechtslage verkannt und infolge dessen wesentliche Feststellungen nicht getroffen hat, war der angefochtene Bescheid schon deswegen wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. Jänner 2012

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