Normen
AsylG 2005 §10 Abs2 Z2;
AsylG 2005 §10;
EMRK Art8 Abs2;
EMRK Art8;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2011:2011010132.X00
Spruch:
I. zu Recht erkannt:
Die angefochtenen Bescheide werden jeweils insoweit, als damit Spruchpunkt III. der erstinstanzlichen Bescheide (Ausweisung der beschwerdeführenden Parteien) bestätigt wurde, hinsichtlich der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und hinsichtlich der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 6.638,40, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerden abgelehnt.
Begründung
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien.
Der Erstbeschwerdeführer reiste gemeinsam mit den zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien (alle staatenlose Palästinenser aus Syrien) am 6. März 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Der Sechstbeschwerdeführer wurde am 21. April 2000 in Österreich geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin beantragte für sich und für die dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien die Erstreckung des ihrem Ehemann bzw. dem Vater der Kinder zu gewährenden Asyls.
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 26. Juli 2002 wies die belangte Behörde den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Syrien zulässig sei; die Asylerstreckungsanträge der zweitbis sechstbeschwerdeführenden Parteien wurden jeweils mit Bescheiden der belangten Behörde vom 9. August 2002 gemäß §§ 10, 11 AsylG abgewiesen.
Mit hg. Beschlüssen vom 26. November 2003, Zlen. 2002/20/0519 bis 0520 und 2002/20/0527 bis 0530, wurde die Behandlung der gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden abgelehnt.
Die von den beschwerdeführenden Parteien am 8. Juli 2005 eingebrachten Anträge auf Wiederaufnahme dieser rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren wies die belangte Behörde mit Bescheiden vom 3. August 2007 bzw. vom 29. August 2007 gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ab. Mit hg. Beschluss vom 7. Oktober 2010, Zl. 2008/20/0293, wurde die Behandlung der vom Erstbeschwerdeführer erhobenen Beschwerde gegen den ihn betreffenden Bescheid abgelehnt.
Am 25. August 2006 stellten die beschwerdeführenden Parteien die nunmehr gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Mit Bescheiden jeweils vom 24. Jänner 2008 wies das Bundesasylamt diese Anträge gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und erkannte ihnen den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I.); gleichzeitig erkannte es ihnen gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Syrien nicht zu (Spruchpunkt II.), wies sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 dorthin aus (Spruchpunkt III.). Darüber hinaus wurde den Berufungen gemäß § 38 Abs. 1 Z 6 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).
Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die dagegen erhobenen Berufungen gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1 Z 1 und § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab. Zur Ausweisung der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien führte sie begründend aus, dass alle Familienmitglieder im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen seien, weshalb kein Eingriff in das Familienleben vorliege. In Bezug auf den Erstbeschwerdeführer führte die belangte Behörde aus, dass sich dieser "mit seiner Familie, darunter auch mehrere Kinder, die etwa in Österreich eine Schulausbildung absolvieren bzw. eine solche bereits beendet haben, seit nunmehr acht Jahren im Bundesgebiet aufhält" und ihm daher "ein gewisser Integrationsgrad" zuzugestehen sei. Weiters legte die belangte Behörde dar, dass dem Erstbeschwerdeführer und seiner Familie der Aufenthalt in Österreich lediglich auf Grund der gestellten Asyl- bzw. Asylerstreckungsanträge, welche sich als unberechtigt erwiesen hätten, erlaubt gewesen sei, der Erstbeschwerdeführer seit seiner Einreise vor acht Jahren gerade einmal einen Deutschkurs besucht habe, er sich auch sonst in keiner Ausbildung befinde, in Österreich keiner Beschäftigung nachgehe, sondern von staatlichen Unterstützungsmaßnahmen lebe, wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter öffentlicher Urkunden rechtskräftig verurteilt worden sei und gegen ihn bereits seit Mai 2005 eine durchsetzbare Ausweisungsentscheidung bestehe. Selbst wenn man von einem Eingriff in das Privatleben des Erstbeschwerdeführers ausgehe, sei dieser wegen des Überwiegens des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens zulässig.
In Bezug auf die Zweitbeschwerdeführerin führte die belangte Behörde aus, dass ihr auf Grund des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet "ein gewisser Integrationsgrad" zuzugestehen sei. Weiters legte die belangte Behörde dar, dass der Zweitbeschwerdeführerin und ihrer Familie der Aufenthalt in Österreich lediglich auf Grund der gestellten Asyl- bzw. Asylerstreckungsanträge, welche sich als unberechtigt erwiesen hätten, erlaubt gewesen sei und gegen sie bereits seit Mai 2005 eine durchsetzbare Ausweisungsentscheidung bestehe. Die Schulausbildung der Kinder falle "zwar bei der Abwägung ins Gewicht, kann aber einen Verbleib der gesamten Familie in Österreich nicht rechtfertigen, weil auch zu berücksichtigen ist, dass die Kinder in Begleitung ihrer Eltern nach Syrien zurückkehren, wodurch ihnen eine Eingliederung in den Herkunftsstaat erleichtert wird". Selbst wenn man von einem Eingriff in das Privatleben der Zweitbeschwerdeführerin ausgehe, sei dieser wegen des Überwiegens des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens zulässig, wobei auch darauf hinzuweisen sei, dass die Zweitbeschwerdeführerin wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter öffentlicher Urkunden rechtskräftig verurteilt worden sei.
Zur Zulässigkeit der Ausweisung der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien verwies die belangte Behörde auf die Begründung des die Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Bescheides.
Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Zu I.:
Gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 sind Ausweisungen nach Abs. 1 leg. cit. unzulässig, wenn diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens erfordert gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs und verlangt somit eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 20. Juni 2008, Zl. 2008/01/0060, mwN).
In dem - zu einer Ausweisung nach dem Asylgesetz 2005 - ergangenen Erkenntnis vom 29. September 2007, B 1150/07, führte der Verfassungsgerichtshof aus, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht. Hierbei nennt der Verfassungsgerichtshof - jeweils mit Hinweisen auf Rechtsprechung des EGMR - die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft werde, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung. Letztlich hebt der Verfassungsgerichtshof hervor, dass auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen sei.
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 23. September 2009, Zlen. 2006/01/0954 bis 0956, mit Hinweisen auf die Vorjudikatur).
Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 18. Oktober 2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Randnr. 58, und vom 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Randnr. 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter ("adaptable age"; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Randnr. 66, vom 17. Februar 2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Randnr. 60, und vom 24. November 2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 46; siehe dazu auch das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2007, Zlen. 2006/01/0216 bis 0219) befinden.
Die belangte Behörde hat zu den für die Frage der Ausweisung der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien fallbezogen in Betracht kommenden Kriterien keine ausreichenden Feststellungen getroffen bzw. die erforderliche Interessenabwägung nicht vorgenommen. Insbesondere hat sie das Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide, sowie den Umstand, dass der Sechstbeschwerdeführer in Österreich geboren und aufgewachsen ist, unberücksichtigt gelassen, und keine Ermittlungen dazu angestellt, in welchem kulturellen Umfeld die dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien gelebt haben und über welche Sprachkenntnisse sie verfügen. Darüber hinaus hat sie sich mit dem Berufungsvorbringen, wonach die Kinder vor ihrer Einreise nach Österreich in Libyen und nicht in Syrien gelebt hätten, nicht auseinander gesetzt.
Die Begründung zur Ausweisung der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien erweist sich somit als unzureichend und entzieht sich insoweit einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof.
Die dritt- bis sechstangefochtenen Bescheide waren daher in dem im Spruch genannten Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
In Anbetracht der teilweisen Aufhebung der die Kinder der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien betreffenden Bescheide und infolge der dieser Aufhebung innewohnenden ex tunc-Wirkung (§ 42 Abs. 3 VwGG) führt die (alleinige) Ausweisung der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien zu einem Eingriff in ihr durch Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Familienleben. Die belangte Behörde hat aber nicht dargelegt, warum öffentliche Interessen es erfordern würden, dass die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien Österreich schon vor einer allfälligen Entscheidung über die Ausweisung der übrigen Familienmitglieder verlassen müssen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 2010, Zl. 2006/01/0676, mwN).
Die erst- und zweitangefochtenen Bescheide waren deshalb in dem im Spruch genannten Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Zu II.:
Gemäß Art. 131 Abs. 3 B-VG und § 33a VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde gegen einen Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates durch Beschluss ablehnen, wenn die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wird, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Beschwerden werfen - abgesehen von dem unter Punkt I. der Erwägungen angesprochenen Themenkomplex - keine für die Entscheidung dieser Fälle maßgeblichen Rechtsfragen auf, denen im Sinne der zitierten Bestimmungen grundsätzliche Bedeutung zukäme. Gesichtspunkte, die dessen ungeachtet gegen eine Ablehnung der Beschwerdebehandlung sprechen würden, liegen nicht vor.
Der Verwaltungsgerichtshof hat daher beschlossen, die Behandlung der Beschwerden im Übrigen abzulehnen.
Wien, am 21. April 2011
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