VwGH 2010/22/0184

VwGH2010/22/018419.1.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde des SD in N, geboren am 4. März 1968, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 14. September 2010, Zl. E1/17555/10, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8;
ARB1/80 Art6 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 57,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus.

Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer am 20. Oktober 2003 rechtswidrig eingereist sei und am 24. Oktober 2003 einen Asylantrag gestellt habe. Das Asylverfahren sei mit 11. September 2006 "gemäß den §§ 7 und 8 Asylgesetz 1997 rechtskräftig negativ abgeschlossen worden". Der Verwaltungsgerichtshof habe mit Beschluss vom 23. Juni 2010 die Behandlung der Beschwerde im Asylverfahren abgelehnt.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers sei seit dem endgültigen negativen Abschluss des Asylverfahrens rechtswidrig.

Mit der Ausweisung erfolge ein relevanter Eingriff in sein Privat- oder Familienleben. Seine privaten "oder" familiären Interessen am Verbleib im Bundesgebiet wögen nicht so schwer wie die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung der Ausweisung. Der Beschwerdeführer halte sich zwar seit Oktober 2003, sohin seit sieben Jahren, im Bundesgebiet auf, allerdings als Asylwerber. Jeder Asylwerber wisse oder müsste jedenfalls wissen, dass er im Fall des negativen Abschlusses des Asylverfahrens das Bundesgebiet verlassen müsse. Der Beschwerdeführer sei volljährig und geschieden. Er lebe bei seiner Schwester im Bundesgebiet. Er habe in Österreich einen jetzt 15- jährigen Sohn aus erster Ehe, dessen Obsorgerecht dessen Mutter habe und für den er Alimente zahle. Das Besuchsrecht übe er nach seinen Angaben intensiv aus. Er sei der Art und Dauer des Aufenthalts entsprechend integriert und habe Bindungen zu Verwandten, Bekannten und Freunden. Er spreche seinen Angaben nach gut Deutsch, habe jedoch nicht die "A2-Prüfung". Er sei am Arbeitsmarkt seit 2007 als Hilfsarbeiter integriert.

Er sei strafgerichtlich nicht unbescholten, weil er durch das Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 24. Oktober 2006 wegen des Verbrechens der versuchten schweren Nötigung zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt worden sei. Er habe am 4. Juni 2006 seine Ehefrau durch gefährliche Drohung mit dem Tod zur Abstandnahme von der Einleitung eines Scheidungsverfahrens zu nötigen versucht.

Der Beschwerdeführer habe sich bereits von 1991 bis 1993 als Asylwerber in Österreich aufgehalten und Österreich nach Abschluss des Asylverfahrens erst unter Druck der Fremdenpolizeibehörde verlassen. Unmittelbar vor seiner Ausreise habe er am 9. Juli 1994 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Von dieser sei er im Jahr 1996 oder 1997 geschieden worden und habe danach (wieder) eine Österreicherin geheiratet; diese Ehe sei im Jahr 2009 geschieden worden.

Sein Privat- und Familienleben sei in Österreich zur Gänze in einer Zeit entstanden, in der er selbst und alle Beteiligten sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen seien oder jedenfalls hätten bewusst sein müssen. Dem öffentlichen Interesse, eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung zu verhindern, komme aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zu. Das Asylrecht dürfe nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens dienen. In der Türkei lebten sein Vater und sechs weitere Geschwister. Die durch die Rückkehr in die Türkei bewirkten Unannehmlichkeiten müsse er im Interesse der öffentlichen Ordnung in Kauf nehmen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass sein Asylantrag rechtskräftig abgewiesen wurde und er über keine Aufenthaltsberechtigung in Österreich verfügt.

Demnach erweist sich die Heranziehung des Ausweisungstatbestandes des § 53 Abs. 1 FPG (in der Stammfassung) als rechtmäßig.

Bemerkt sei, dass türkische Staatsangehörige, die eine - wenn auch allenfalls im Einklang mit den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes stehende - Beschäftigung ausüben, die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB (Beschluss des durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation) nicht erfüllen, wenn ihr Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet bloß auf Grund einer asylrechtlichen vorläufigen Aufenthaltsberechtigung besteht, weil die letztgenannte Berechtigung keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Position des Betroffenen am Arbeitsmarkt vermittelt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2004, 2004/21/0153, mit Hinweisen auf die Rspr. des EuGH).

Das Schwergewicht der Beschwerde liegt darauf, dass die belangte Behörde die Interessenabwägung nach § 66 FPG zu Unrecht gegen den Beschwerdeführer vorgenommen habe.

§ 66 FPG idF BGBl. I Nr. 122/2009 lautet auszugsweise:

"§ 66. (1) Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

  1. 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
  2. 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
  3. 4. der Grad der Integration;
  4. 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;
  5. 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
  6. 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

    8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.

    (3)…"

    Die Beschwerde verweist auf den ununterbrochenen Aufenthalt des Beschwerdeführers seit 2003 in Österreich, seinen engen Kontakt zu seinem ehelichen Sohn und seine ununterbrochene Beschäftigung seit dem Jahr 2007. Er spreche sehr gut Deutsch und werde in den nächsten Wochen die A 2-Prüfung absolvieren. Er sei in seiner Wohnsitzgemeinde sehr gut integriert. Dies habe die Gemeinde bestätigt. Weiters stehe er kurz vor der "Konversion" zur römisch-katholischen Kirche.

    Die belangte Behörde hat diese Umstände - sofern es sich nicht um Neuerungen handelt - ohnedies berücksichtigt. Sie hat zutreffend darauf verwiesen, dass sie im Verhalten des Beschwerdeführers (illegale Einreise und unrechtmäßiger Verbleib in Österreich trotz negativen Abschlusses des Asylverfahrens) eine maßgebliche Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen gesehen hat. Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zu (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. Juli 2008, 2007/21/0074). In der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wurde bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung ausgegangen (vgl. die Nachweise im hg. Erkenntnis vom 30. August 2011, 2008/21/0605).

    Im vorliegenden Fall hat sich der Beschwerdeführer im maßgeblichen Zeitpunkt der Bescheiderlassung sieben Jahre im Bundesgebiet aufgehalten. In dieser Zeit war er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst. Er hielt sich nach Ablehnung der Beschwerde im Asylverfahren unrechtmäßig in Österreich auf. Er ist strafgerichtlich nicht unbescholten, sondern hat das Delikt der versuchten schweren Nötigung zu verantworten. Es lebt zwar der 15 Jahre alte Sohn des Beschwerdeführers in Österreich, für den aber seine Mutter sorgt. Diesbezüglich bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschwerdeführer bis zu seiner neuerlichen Einreise als Asylwerber im Jahr 2003 um eine nähere Beziehung zum Sohn unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen für eine Zuwanderung gekümmert hat.

    Der Gerichtshof hatte im Erkenntnis vom 21. Jänner 2010, 2009/18/0258, unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK einen ähnlichen Fall zu beurteilen. Dort wurde ein Fremder ausgewiesen, der sich sieben Jahre großteils als Asylwerber in Österreich aufgehalten und eine österreichische Tochter hat, zu der er seit der Geburt regelmäßigen Kontakt hat, über gute Deutschkenntnisse verfügt und zeitweise beschäftigt war sowie eine Beschäftigungszusage hatte. Auch dort wurde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR, die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers (zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Wochen) und seinen bloß unsicheren Aufenthaltsstatus während des Entstehens des Privat- und Familienlebens die Ausweisung als verhältnismäßig nach Art. 8 EMRK beurteilt.

    Eine Gesamtbetrachtung der Umstände des vorliegenden Falls führt zum Ergebnis, dass die belangte Behörde dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung des Beschwerdeführers größeres Gewicht zumessen durfte als dessen entgegenstehenden persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet, zumal von einer Entwurzelung des Beschwerdeführers aus seinem Heimatland keine Rede sein kann.

    Letztlich wirft die Beschwerde der belangten Behörde die Unterlassung eines ausreichenden Ermittlungsverfahrens vor, legt aber nicht dar, welche zielführenden Beweise nicht aufgenommen worden wären. In Wahrheit bekämpft die Beschwerde auch hier das Ergebnis der behördlichen Interessenabwägung.

    Da somit dem angefochtenen Bescheid die behauptete Rechtswidrigkeit nicht anhaftet, war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

    Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

    Wien, am 19. Jänner 2012

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