VwGH 2010/18/0401

VwGH2010/18/04016.9.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des S L in W, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 6. September 2010, Zl. E1/295.636/2010, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §56 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §63 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §56 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §63 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen bosnischen Staatsangehörigen, gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 iVm § 63 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.

Begründend führte sie dazu aus, der Beschwerdeführer befinde sich eigenen Angaben zufolge seit 1972 in Österreich und sei seit September 2003 im Besitz eines Niederlassungsnachweises, der nach der Übergangsbestimmung des § 11 NAG-DV als "Daueraufenthalt - EG" bzw. "Daueraufenthalt-Familienangehöriger" gelte. Einer Meldebestätigung vom 18. August 2009 zufolge sei der Beschwerdeführer erstmals am 24. April 1973 in Österreich gemeldet gewesen, wobei im Zeitraum vom 30. Dezember 1982 bis 15. Februar 1984 und vom 12. März 1984 bis 27. November 1985 keine Meldung im Bundesgebiet aufscheine. Seit 27. November 1985 sei der Beschwerdeführer durchgehend in Wien gemeldet.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Leopoldstadt vom 28. November 2006 sei der Beschwerdeführer gemäß § 88 Abs. 1 StGB wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden. Er sei am 28. Juli 2006 als Lenker eines KFZ mit einem Radfahrer kollidiert, wodurch dieser Verletzungen erlitten habe, weil der Beschwerdeführer die erforderliche Sorgfalt und Aufmerksamkeit im Straßenverkehr außer Acht gelassen habe.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 8. Juli 2009 sei der Beschwerdeführer gemäß § 87 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Er habe am 30. November 2008 einem anderen ein Messer in die linke Brustkorbseite gerammt und diesem dadurch absichtlich eine schwere Körperverletzung zugefügt. Als mildernd habe das Gericht das Geständnis, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe und die "Doppelqualifikation" im Rahmen des § 84 Abs. 1 StGB erachtet. Zu den Strafbemessungsgründen sei ausgeführt worden, dass für die begangene Tat kein Grund vorgelegen sei; im Beschwerdeführer stecke somit ein erhebliches Aggressionspotential. Im Hinblick auf dessen Gewaltbereitschaft und die Sinn- bzw. Grundlosigkeit der Tat sei die Schuld des Beschwerdeführers als hoch anzusehen. Die begangene Tat weise auf eine gleichgültige Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber dem Leben und der Gesundheit anderer Menschen hin.

Am 28. Februar 2010 sei der Beschwerdeführer unter Anordnung von Bewährungshilfe und der Setzung einer Probezeit von drei Jahren vorzeitig bedingt aus der Haft entlassen worden.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, im Hinblick auf den langjährigen und legalen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sei eine Aufenthaltsverfestigung iSd § 56 FPG gegeben. Der Beschwerdeführer verfüge über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-Familienangehöriger" bzw. "Daueraufenthalt - EG" und dürfe gemäß § 56 Abs. 1 FPG nur ausgewiesen werden, wenn sein weiterer Aufenthalt eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle.

Aufgrund der Verurteilung des Beschwerdeführers sei der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG erfüllt. Das dieser Verurteilung zugrunde liegende Verhalten lasse aber auch die Annahme als gerechtfertigt erscheinen, dass der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle und überdies anderen im Art. 8 EMRK genannten Interessen, nämlich insbesondere dem Schutz der Gesundheit, der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen, zuwiderlaufe. Die vom Beschwerdeführer begangene Straftat könne nur als gravierend bezeichnet werden. Wer mit einem Messer kräftig und gezielt auf den Brustkorb eines Menschen einsteche und diesen schwer verletze, dokumentiere alleine durch diese Tat "seinen Hang zu völlig unkontrollierter Gewalt", möge diese Gewalttat auch ein einmaliges Ereignis darstellen. Der Beschwerdeführer stelle ob "seiner (offenbar unbeherrschten) Aggressivität" eine schwere Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit Dritter und die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Daran ändere auch das Vorbringen des Beschwerdeführers nichts, wonach dieser nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft fest entschlossen sei, in Zukunft ein straffreies Leben zu führen. Eine positive Verhaltensprognose könne im Hinblick auf das gesetzte schwere strafbare Verhalten nicht erstellt werden. Es werde noch einer sehr langen Zeit des Wohlverhaltens des Beschwerdeführers (in Freiheit) bedürfen, um auch nur auf eine Minderung der vom ihm ausgehenden Gefahr schließen zu können.

Der Beschwerdeführer sei im Inland langjährig rechtmäßig niedergelassen und mit einer Drittstaatsangehörigen verheiratet, mit der er im gleichen Haushalt lebe. Seine Tochter sei volljährig und bereits ausgezogen. Seit 23. März 2010 sei sie jedoch an der Adresse ihrer Eltern als "obdachlos" gemeldet. Der Beschwerdeführer sei früher legal erwerbstätig gewesen und beziehe derzeit einen Pensionsvorschuss. Seine Selbsterhaltungsfähigkeit sei somit gewährleistet. Seine Ehefrau sei Sozialhilfeempfängerin. Ein Hinweis auf ein spezielles Abhängigkeits- bzw. Fürsorgeverhältnis der Eheleute untereinander sei dem Akt bzw. den entsprechenden Vorbringen nicht zu entnehmen. Im Übrigen könne der Beschwerdeführer einer allfälligen Verpflichtung zur Unterhaltsleistung auch durch Auslandsüberweisungen nachkommen. Er habe bis zu seinem 25. Lebensjahr in Bosnien gelebt und habe dort seine Schulausbildung absolviert. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb einem 63-jährigen Staatsangehörigen von Bosnien eine allfällige Wiedereingliederung in seiner Heimat nicht möglich sein sollte. Im überwiegenden öffentlichen Interesse habe der Beschwerdeführer einen eingeschränkten Kontakt zu seinen Angehörigen vom Ausland aus in Kauf zu nehmen. Im Übrigen stammten seine Frau und seine Tochter aus demselben Kulturkreis und verfügten über dieselbe Staatsangehörigkeit. Es sei ihnen daher auch zumutbar, den Kontakt zum Beschwerdeführer in ihrer Heimat aufrecht zu erhalten.

Mit der Erlassung des Aufenthaltsverbotes sei ein erheblicher Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers verbunden. Eine Gewichtung der widerstreitenden Interessen habe jedoch ein klares Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes und am Fernbleiben des Beschwerdeführers vom Bundesgebiet ergeben. Die Zulässigkeit dieser Maßnahme sei im Grunde des § 66 FPG zu bejahen und ihre Erlassung im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit der Gewaltkriminalität zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele als dringend geboten zu erachten.

Auf Grund der Verurteilung des Beschwerdeführers iSd § 55 Abs. 3 FPG komme eine Ermessenentscheidung dahin, von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes Abstand zu nehmen, nicht in Betracht.

Unter Beachtung der Lebenssituation des Beschwerdeführers, seiner Verantwortung und der Tatsache, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer begangenen Tat um seine "erste wirklich schwere Straftat" handle, werde das von der erstinstanzlichen Behörde noch unbefristet ausgesprochene Aufenthaltsverbot nunmehr für die Dauer von zehn Jahren erlassen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer wendet sich zunächst gegen die von der belangten Behörde erstellte Gefährdungsprognose. Er macht geltend, er sei weder vor noch nach der der Verurteilung vom 8. Juli 2009 zugrunde liegenden Straftat wegen eines Vorsatzdeliktes straffällig worden. Durch sein Verhalten, das zu der Verurteilung auf Grund eines Verkehrsunfalles geführt habe, habe er keinerlei kriminelle Energie gezeigt. Die schwere Körperverletzung im November 2008 stehe somit im auffälligen Widerspruch zu seinem vorherigen und seitherigen Lebenswandel. Der Beschwerdeführer habe sein Verhalten im Strafverfahren zutiefst bereut, die Zusammenarbeit mit seinem Bewährungshelfer funktioniere außerordentlich gut, weshalb nicht davon ausgegangen werden könne, dass sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet eine schwere Gefahr der öffentlichen Ordnung und Sicherheit iSd § 56 Abs. 1 FPG darstelle. Bereits in der Berufung habe er die Vernehmung seines Bewährungshelfers als Zeugen beantragt; dieser Antrag sei von der belangten Behörde mit Stillschweigen übergangen worden. Der Bewährungshelfer könne die hohe Bereitschaft des Beschwerdeführers, sich mit seinem Fehlverhalten auseinanderzusetzen, bestätigen, er habe sich einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer gemacht und sei aufgrund seiner jahrelangen Berufserfahrung in der Lage, "treffsicher eine Zukunftsprognose" abzugeben. Dies wäre im Rahmen der Erstellung der Gefährdungsprognose entscheidungswesentlich gewesen.

Dieses Vorbringen ist berechtigt. Nach ständiger hg. Rechtsprechung dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel - ohne zulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung - untauglich ist. Es ist nicht zulässig, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen (vgl. aus jüngerer Zeit etwa das hg. Erkenntnis vom 24. Jänner 2012, Zl. 2008/18/0232, mwN).

In der Berufung brachte der Beschwerdeführer bereits vor, er sei nach der Verbüßung der Hälfte der Strafe bedingt aus der Haft entlassen worden, nehme die Bewährungshilfe in Anspruch und setze sich dabei kritisch mit seinem Fehlverhalten auseinander. Zum Beweis dafür, dass die Bewährungshilfe erfolgreich verlaufe und sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet somit keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle, werde die Vernehmung des Bewährungshelfers (unter Angabe von Namen und Adresse) beantragt.

Die belangte Behörde kam nun weder diesem Beweisantrag des Beschwerdeführers nach noch legte sie dar, weshalb es rechtlich nicht geboten gewesen wäre, diesem zu entsprechen. Angesichts des Umstandes, dass sich der Beschwerdeführer seit Jahrzehnten in Österreich aufhält und nur einmal wegen eines Vorsatzdeliktes - die Änderung des ursprünglich unbefristeten in ein befristetes Aufenthaltsverbot begründete die belangte Behörde selbst damit, dass "die letzte Verurteilung zugleich auch dessen erste wirklich schwere Straftat" gewesen sei - verurteilt wurde, kann den Aussagen der Bewährungshelfers hinsichtlich der Beurteilung, ob der Beschwerdeführer tatsächlich - wie von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid ausgeführt - einen "Hang zu völlig unkontrollierter Gewalt" habe und aufgrund "seiner (offenbar unbeherrschten) Aggressivität" eine fallbezogen zu beurteilende schwere Gefahr für die öffentlichen Ordnung und Sicherheit iSd § 56 Abs. 1 FPG darstelle, die Relevanz nicht abgesprochen werden.

Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde nach Vernehmung des Zeugen im Rahmen ihrer Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war somit schon aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die beantragte mündliche Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG unterbleiben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 6. September 2012

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