VwGH 2010/11/0095

VwGH2010/11/009521.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl, Mag. Samm und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des A A in W, vertreten durch Dr. Johann Kral, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Frankgasse 6/10, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 31. März 2010, Zl. UVS-FSG/48/218/2010- 7, betreffend Entziehung der Lenkberechtigung und Lenkverbot, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §52;
FSG 1997 §24 Abs1;
FSG 1997 §3 Abs1 Z3;
FSG 1997 §8 Abs1;
FSG 1997 §8 Abs2;
FSG 1997 §8 Abs3;
AVG §52;
FSG 1997 §24 Abs1;
FSG 1997 §3 Abs1 Z3;
FSG 1997 §8 Abs1;
FSG 1997 §8 Abs2;
FSG 1997 §8 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Im Verwaltungsakt befindet sich eine Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien, wonach der Beschwerdeführer am 29. August 2009 als Lenker eines Taxis eine Kreuzung nur zögernd überquert und bei einer anschließenden Fahrzeugkontrolle einen verwirrten Eindruck gemacht habe. In der Anzeige wurde angeregt, den Beschwerdeführer einem Amtsarzt vorzuführen.

Mit Bescheid vom 14. Oktober 2009 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen, am 9. November 2009 unterzog er sich nach der Aktenlage einer verkehrspsychologischen Untersuchung. Nach dem Gutachten der verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle vom 11. November 2009 weise der Beschwerdeführer "unterdurchschnittliche Ergebnisse betreffend die kognitiven Leistungsbereiche" in näher bezeichneten Kategorien auf. Beim Beschwerdeführer sei daher die kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit nicht gegeben und er zum Lenken von Kraftfahrzeugen der Gruppe B nicht geeignet. Dabei ergänzte die verkehrspsychologische Untersuchungsstelle, dass die "überprüften

kognitiven Leistungsbereiche ... altersuntypisch" seien und eine

Abklärung durch einen Facharzt der Neurologie empfohlen werde.

Das anschließende Gutachten des Amtsarztes der Bundespolizeidirektion Wien vom 30. November 2009 gelangt zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer zum Lenken eines Kraftfahrzeuges der Klasse B nicht geeignet sei, und führte zur Begründung handschriftlich (lediglich) aus: "Zur Zeit nicht geeignet wegen kognitiven Fähigkeiten (Rest unlesbar)".

Mit Bescheid vom 3. Dezember 2009 wurde die Lenkberechtigung des Beschwerdeführers für die Klasse B gemäß § 25 Abs. 2 FSG für die Dauer seiner gesundheitlichen Nichteignung entzogen. Gleichzeitig wurde über den Beschwerdeführer ein Lenkverbot gemäß § 32 Abs. 1 Z. 1 FSG verhängt und einer eventuellen Berufung gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung gemäß § 64 Abs. 2 AVG aberkannt.

In der Berufung dagegen brachte der Beschwerdeführer vor, er fahre seit nunmehr 20 Jahren mit Kraftfahrzeugen der Klasse B, dies zunächst in seinem Heimatland und seit etwa zehn Jahren in Österreich. Während dieser Zeit habe er nur wenige und sehr geringfügige Unfälle (Parkschäden) verursacht. Ursache des gegenständlichen Bescheides sei ein geringfügiger Fahrfehler an einer Kreuzung gewesen. Die nunmehrige Entziehung der Lenkberechtigung sei völlig ungerechtfertigt, zumal diese auf einer verkehrspsychologischen Untersuchung beruhe, die vom Beschwerdeführer in Form eines Computerspiels zu absolvieren gewesen sei, obwohl der Beschwerdeführer noch nie einen Computer bedient habe. Es sei notorisch, dass ältere Personen ihre Schwierigkeiten bei der erstmaligen Bedienung von Computern hätten. Daher sei es im Fall des Beschwerdeführers unzulässig, von dessen unzureichenden Fähigkeiten, einen Computer zu bedienen, auf seine Unfähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu lenken, zu schließen. Diese Schlussfolgerung stehe einerseits mit der erwähnten 20jährigen Fahrpraxis des Beschwerdeführers und andererseits mit dem Ergebnis einer neurologischen Untersuchung, der sich der Beschwerdeführer unterzogen habe, im Widerspruch. Dazu legte er einen Arztbrief eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 27. November 2009 vor, in dem nach der Darlegung des psychiatrischen und des neurologischen Status des Beschwerdeführers als Diagnose festgehalten ist: "Aus neuropsychiatrischer Sicht keine relevante Diagnose erhebbar."

Daraufhin erstattete die Amtsärztin des Magistrates der Stadt Wien über Ersuchen der belangten Behörde ein amtsärztliches Gutachten vom 23. Februar 2010, in welchem zunächst die Ergebnisse der verkehrspsychologischen Untersuchung wiedergegeben werden und danach darauf hingewiesen wird, dass zur Durchführung der

angewandten Tests "keinerlei Computererfahrung ... notwendig ist".

Es werde zwar immer wieder behauptet, dass der Computer einen zusätzlichen Stress in der Testsituation darstelle und dass Personen mit geringer Computererfahrung benachteiligt seien. In verschiedenen Studien mit Leistungstests habe jedoch "großteils" kein Unterschied zwischen der Computerversion und der Bleistiftpapierversion festgestellt werden können. Abgesehen davon werde vor jedem Test eine Übungsphase durchgeführt, die noch nicht

bewertet werde. Der Beschwerdeführer sei "somit ... auf Grund der

gewonnenen Ergebnisse bei der verkehrspsychologischen Testung", die altersuntypische Defizite in den kognitiven Leistungsbereichen des Beschwerdeführers ergeben hätten, zum Lenken von Kraftfahrzeugen der Klasse B gesundheitlich nicht geeignet. Zu dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Arztbrief des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 27. November 2009 führte die Amtsärztin im Wesentlichen aus, es sei aus diesem nicht erkennbar, ob dem Gutachter die Ergebnisse der verkehrspsychologischen Untersuchung bekannt gewesen seien. Eine Änderung der genannten Beurteilung sei nach Ansicht der Amtsärztin "nur durch die Einholung einer neuerlichen verkehrspsychologischen Testung" möglich.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge gegeben und der genannte Bescheid vom 3. Dezember 2009 bestätigt.

In der Begründung gab die belangte Behörde das Verfahrensgeschehen und die maßgebenden Rechtsvorschriften wieder und meinte in der rechtlichen Beurteilung lediglich, dass der erstinstanzliche Bescheid auf Grund des "schlüssigen und lege artis verfassten amtsärztlichen Gutachten vom 23. Februar 2010" zu bestätigen gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, zu der die belangte Behörde die Verwaltungsakten vorgelegt hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die gegenständlich maßgebenden Rechtsvorschriften des FSG in der Fassung BGBl. I Nr. 93/2009 (das gegenständliche Entziehungsverfahren war vor dem Inkrafttreten dieser Novelle noch nicht anhängig; vgl. § 41 Abs. 9 Z. 3 leg. cit.) lauten:

"§ 3 (1) Eine Lenkberechtigung darf nur Personen erteilt werden, die:

  1. 1.
  2. 2.
  3. 3. gesundheitlich geeignet sind, ein Kraftfahrzeug zu lenken (§§8 und 9),

    4. ...

    Gesundheitliche Eignung

§ 8. (1) Vor der Erteilung einer Lenkberechtigung hat der Antragsteller der Behörde ein ärztliches Gutachten vorzulegen, dass er zum Lenken von Kraftfahrzeugen gesundheitlich geeignet ist. Das ärztliche Gutachten hat auszusprechen, für welche Klassen von Lenkberechtigungen der Antragsteller gesundheitlich geeignet ist, darf im Zeitpunkt der Entscheidung nicht älter als 18 Monate sein und ist von einem in die Ärzteliste eingetragenen sachverständigen Arzt gemäß § 34 zu erstellen.

(2) Sind zur Erstattung des ärztlichen Gutachtens besondere Befunde oder im Hinblick auf ein verkehrspsychologisch auffälliges Verhalten eine Stellungnahme einer verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle erforderlich, so ist das ärztliche Gutachten von einem Amtsarzt zu erstellen; der Antragsteller hat diese Befunde oder Stellungnahmen zu erbringen. Wenn im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung eine sichere Entscheidung im Hinblick auf die gesundheitliche Eignung nicht getroffen werden kann, so ist erforderlichenfalls eine Beobachtungsfahrt anzuordnen.

(3) Das ärztliche Gutachten hat abschließend auszusprechen:

'geeignet', 'bedingt geeignet', 'beschränkt geeignet' oder 'nicht geeignet'. ...

...

§ 24. (1) Besitzern einer Lenkberechtigung, bei denen die Voraussetzungen für die Erteilung der Lenkberechtigung (§ 3 Abs. 1 Z. 2 bis 4) nicht mehr gegeben sind, ist von der Behörde entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit

  1. 1. die Lenkberechtigung zu entziehen oder
  2. 2. ...

(4) Bestehen Bedenken, ob die Voraussetzungen der gesundheitlichen Eignung noch gegeben sind, ist ein von einem Amtsarzt erstelltes Gutachten gemäß § 8 einzuholen und gegebenenfalls die Lenkberechtigung einzuschränken oder zu entziehen. ...

...

§ 25. (1) Bei der Entziehung ist auch auszusprechen, für welchen Zeitraum die Lenkberechtigung entzogen wird. Dieser ist auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens festzusetzen. ...

(2) Bei einer Entziehung wegen mangelnder gesundheitlicher Eignung ist die Dauer der Entziehung auf Grund des gemäß § 24 Abs. 4 eingeholten Gutachtens für die Dauer der Nichteignung festzusetzen.

..."

In der vorliegenden Beschwerde verweist der Beschwerdeführer zusammengefasst auf seine langjährige Fahrpraxis und den von ihm vorgelegten Facharztbrief aus dem Fachgebiet für Neurologie und Psychiatrie, welche der Annahme, er sei zum Lenken von Kraftfahrzeugen infolge kognitiver Leistungsdefizite gesundheitlich nicht geeignet, entgegen stünden.

Wie dargestellt liegen der gegenständlichen Entziehung der Lenkberechtigung wegen gesundheitlicher Nichteignung zwei amtsärztliche Gutachten zu Grunde: Sowohl das Gutachten des Amtsarztes der Bundespolizeidirektion Wien vom 30. November 2009 als auch das amtsärztliche Gutachten des Magistrates der Stadt Wien vom 23. Februar 2010 stützen sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der verkehrspsychologischen Untersuchung des Beschwerdeführers vom 9. November 2009.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 22. April 2008, Zl. 2008/11/0043, in einem Fall, in dem es (im Zuge eines Amtshaftungsverfahrens) um die Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Lenkberechtigung wegen Fehlens der gesundheitlichen Eignung ging, wie folgt ausgeführt:

"Gemäß § 24 Abs. 4 erster Satz FSG ist im Falle des Fehlens der gesundheitlichen Eignung (zu dieser zählt auch die Bereitschaft zur Verkehrsanpassung; vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2005, Zl. 2004/11/0217, mwN) auf Grund des Gutachtens eines Amtsarztes gemäß § 8 FSG die Lenkberechtigung einzuschränken oder zu entziehen.

§ 8 FSG regelt in seinem Abs. 2 die Erstellung eines amtsärztlichen Gutachtens auf Grund der Stellungnahme einer verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle und ordnet im Abs. 3 leg. cit. an, dass das ärztliche Gutachten "abschließend" auszusprechen hat, ob der Betreffende geeignet ist. Stützt sich das amtsärztliche Gutachten daher, wie gegenständlich, auf die Stellungnahmen von verkehrspsychologischen Untersuchungsstellen, so hat es sich mit diesen Stellungnahmen - nachvollziehbar - auseinander zu setzen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 20. Februar 2001, Zl. 2000/11/0287, und vom 17. Oktober 2006, Zl. 2003/11/0318).

Im vorliegenden Fall hat das - oben wörtlich wiedergegebene - amtsärztliche Gutachten vom 10. Juli 2006 die beiden verkehrspsychologischen Stellungnahmen lediglich erwähnt, sich damit aber inhaltlich überhaupt nicht auseinander gesetzt. Das amtsärztliche Gutachten vom 10. Juli 2006 stellt damit keine ausreichende Grundlage für die Entziehung der Lenkberechtigung des Erstmitbeteiligten dar, weil (anders als die zweitmitbeteiligte Partei in ihrer Stellungnahme vom 20. März 2008 offenbar meint) auch negative verkehrspsychologische Stellungnahmen nicht zwingend zu dem Gutachtensergebnis führen müssen, dem Betreffenden fehle die gesundheitliche Eignung gemäß § 8 FSG (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2003/11/0318)."

Im vorliegenden Beschwerdefall wäre es nach der zitierten Judikatur Aufgabe des amtsärztlichen Sachverständigen gewesen, nicht bloß die Ergebnisse der verkehrspsychologischen Untersuchung zu Grunde zu legen oder diese wiederzugeben, sondern sich - inhaltlich - mit dem Ergebnis der verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle auseinander zu setzen und dabei auch auf das (diesem Untersuchungsergebnis entgegen stehende) Schreiben des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 27. November 2009 einzugehen. Dieses fachärztliche Schreiben, in dem, wie erwähnt, der psychiatrische und der neurologische Status des Beschwerdeführers beschrieben werden, wird im amtsärztlichen Gutachten vom 23. Februar 2010 nämlich im Wesentlichen nur damit abvotiert, dass der Facharzt bei Verfassung des Arztbriefes das Ergebnis der verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle möglicherweise nicht gekannt habe, sodass auch hier übersehen wird, dass es nach der zitierten Judikatur nicht ausschließlich auf das Ergebnis der verkehrspsychologischen Untersuchung ankommt.

Die belangte Behörde hätte sich nicht mit der gutachterlichen Aussage begnügen dürfen, dass beim Beschwerdeführer "kognitive Leistungsdefizite" bestehen, sondern sie hätte deren Art und Ausmaß und vor allem deren Auswirkungen auf das Lenken von Kraftfahrzeugen feststellen müssen, zumal nicht sämtliche Leistungsdefizite zur Entziehung der Lenkberechtigung führen, sondern (wie sich schon aus § 24 Abs. 1 iVm § 3 Abs. 1 Z. 3 iVm § 8 Abs. 1 FSG ergibt) nur solche, die die Eignung, Kraftfahrzeuge der betreffenden Klasse zu lenken, ausschließen.

Abgesehen davon hätte sich die belangte Behörde mit dem Einwand des Beschwerdeführers auseinander setzen müssen, dass das negative Ergebnis der verkehrspsychologischen Untersuchung vor allem auf seine geringe Erfahrung im Umgang mit Computern zurückzuführen sei. Dieser Einwand lässt sich nämlich gegenständlich nicht mit dem bloßen Hinweis auf das amtsärztlichen Gutachten vom 23. Februar 2010 entkräften, weil auch die Amtsärztin ausgeführt hat, dass nach dem Ergebnis von Studien Stress bei Personen, die sich erstmals in einer Testsituation mit einem Computer befinden, "großteils" zu keinem Unterschied in den Ergebnissen führe. Damit schließt die Sachverständige nicht aus, dass es Fälle geben kann, in denen der genannte Stress die Richtigkeit der Ergebnisse der Leistungstests beeinflusst. Daher hätte die belangte Behörde gegebenenfalls auf zusätzliche Untersuchungsergebnisse, die nicht auf den Umgang mit einem Computer abstellen, zurückgreifen müssen.

Da der belangten Behörde nach dem Gesagten wesentliche Verfahrensfehler unterlaufen sind, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht - innerhalb des gestellten Begehrens - auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 21. September 2010

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