VwGH 2008/23/1101

VwGH2008/23/110124.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Dr. Fasching, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde der M P, geboren 1961, vertreten durch Dr. Martin Eder, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Wasagasse 27/15, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 23. Jänner 2007, Zl. 249.468/1-VII/19/07, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Georgien, beantragte am 30. November 2001 die Gewährung von Asyl.

Vor dem Bundesasylamt gab sie dazu im Wesentlichen an, Angehörige der georgischen Volksgruppe und orthodoxen Glaubens, in Sochumi (Abchasien) aufgewachsen und von dort - nachdem die Stadt am 27. September 1993 "gefallen" sei - in das Dorf Kodoris Cheoba geflüchtet zu sein, wo sie bis zu ihrer nunmehrigen Ausreise im November 2001 in einem verlassenen Haus gelebt und eine kleine Landwirtschaft betrieben habe. In Kodoris Cheoba habe ein Partisanenkrieg stattgefunden, in dessen Zuge sie unmittelbar bis vor ihrer Ausreise Opfer sowohl von georgischen als auch von abchasischen Partisanen geworden sei. Die Partisanen hätten die Lebensmittel geraubt, welche die Beschwerdeführerin auf dem Markt habe verkaufen wollen, sich gewaltsam Zutritt in ihr Haus verschafft und sie geschlagen. Sie hätten sich einfach alles erlaubt. Die "derzeitige Regierung", zu der sie als Anhängerin des Ex-Präsidenten keinen Zugang habe, hätte die Beschwerdeführerin gegen diese Übergriffe nicht geschützt, die ganze Regierung sei "ein Mafia-Clan". Mit den "heimatlichen Behörden" habe sie keine Probleme gehabt. Bei einer Rückkehr sei sie möglicherweise gefährdet, sie habe dort auch keine Unterkunft und keine Verwandten.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 28. August 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.) und erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Georgien gemäß § 8 AsylG für zulässig (Spruchpunkt II.). Es legte die Angaben der Beschwerdeführerin seiner Entscheidung zugrunde und versagte Asyl im Wesentlichen mit der Begründung, die Schwierigkeiten der Beschwerdeführerin würden nicht von staatlichen Behörden, sondern von Partisanen - also von Dritten - ausgehen. Dass staatliche Behörden nicht in der Lage oder nicht gewillt seien, ihr Schutz vor Verfolgung zu gewähren, ergebe sich aus ihrem Vorbringen nicht. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass sie keinen Schutz hätte erhalten können, sei nicht ausreichend, um davon auszugehen, dass der Staat vor den genannten Übergriffen nicht schütze. Amtsbekannt sei, dass es für Flüchtlinge aus Abchasien staatliche Unterstützungsprogramme gebe.

Die dagegen gerichtete Berufung, in der die Beschwerdeführerin unter anderem darauf verwies, dass sie in Abchasien gelebt habe und dort wegen des Kriegszustandes und der Schwierigkeiten mit Partisanen nicht mehr habe leben können, wies die belangte Behörde - ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung - mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. Jänner 2007 gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und stellte gemäß § 8 AsylG iVm § 50 Fremdenpolizeigesetz 2005 fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Georgien zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die vom Bundesasylamt getroffenen Sachverhaltsfeststellungen würden zur Gänze der Entscheidung zu Grunde gelegt. Die Beschwerdeführerin habe in ihrer Berufung lediglich den bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebrachten Sachverhalt geltend gemacht und hinsichtlich der behaupteten Verfahrensmängel nicht ausgeführt, worin diese gelegen seien. Der Sachverhalt sei daher aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung als geklärt anzusehen. Dem Vorbringen der Beschwerdeführerin sei nicht zu entnehmen, dass sie versucht habe, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Ihre Behauptung, dass sie durch staatliche Behörden nicht hätte geschützt werden können, habe sich durch ihr Vorbringen, niemals Probleme mit heimatlichen Behörden gehabt zu haben, "selbst ad absurdum geführt". Zum Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie sei in Georgien von Partisanen bedroht und geschlagen worden, sei demnach festzuhalten, dass sie sich dem durch die Inanspruchnahme von staatlichem Schutz hätte entziehen können. Dies habe sie jedoch - ihren eigenen Angaben zufolge - nicht einmal versucht. Weiters lägen die fluchtauslösenden Vorfälle (im Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde) mehr als fünf Jahre zurück; allein deshalb sei eine aktuelle Gefahr für die Beschwerdeführerin auszuschließen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Die belangte Behörde stützt sich zur Begründung des angefochtenen Bescheides zunächst auf das Bestehen staatlichen Schutzes gegen Übergriffe durch Partisanen.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Oktober 2009, Zl. 2006/01/0793, mwH).

Davon ausgehend kann der angefochtene Bescheid schon mangels Feststellungen, ob der georgische Staat am Wohnort der Beschwerdeführerin überhaupt über ausreichende Staatsgewalt verfügte bzw. dort effektiven Schutz hätte gewähren können, keinen Bestand haben:

Die Beschwerdeführerin hat ihrem Vorbringen zufolge im Jahr 1993 - als ethnische Georgierin aus Sochumi - eine Ausweichmöglichkeit im Kodori-Tal in Anspruch genommen und war dort vor ihrer Ausreise Opfer von Übergriffen durch Partisanen. Ob diese Vorfälle allerdings im abchasisch oder im (damals) georgisch kontrollierten Gebiet der genannten Grenzregion zwischen Georgien und Abchasien (über das der georgische Staat keine effektive Staatsgewalt ausübt) stattfanden, geht aus dem angefochtenen Bescheid nicht hervor. Vielmehr ging die belangte Behörde - wie schon das Bundesasylamt - ohne jegliche Ermittlungen und Feststellungen dazu vom möglichen Zugang der Beschwerdeführerin zu georgischen Behörden aus. Jedenfalls nach dem Berufungsvorbringen, wonach die Beschwerdeführerin vor ihrer Ausreise "in Abchasien" gelebt habe, konnte die belangte Behörde nicht ohne Weiteres annehmen, es habe für die Beschwerdeführerin die Möglichkeit bestanden, gegen Bedrohungen im Rahmen des georgisch-abchasischen Konfliktes effektiven Schutz des georgischen Staates zu erlangen. Davon abgesehen enthält der angefochtene Bescheid auch keine Länderfeststellungen, die die Annahme effektiven staatlichen Schutzes gegenüber Übergriffen Dritter in dieser (umstrittenen) Grenzregion überhaupt erst nachvollziehbar hätten begründen können.

2. Wollte die belangte Behörde aber auf das Vorhandensein staatlichen Schutzes bzw. auf eine Ausweichmöglichkeit in anderen Teilen Georgiens - und damit auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutz- oder Fluchtalternative durch die Beschwerdeführerin - abstellen, hätte dies insbesondere nähere Feststellungen über die im Falle eines Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage der Beschwerdeführerin erforderlich gemacht (vgl. auch dazu das genannte hg. Erkenntnis vom 28. Oktober 2009). Auch derartige Feststellungen enthält der angefochtene Bescheid nicht.

3. Soweit die belangte Behörde damit argumentiert, wegen des (bloßen) Zeitablaufes von mehr als fünf Jahren seit den letzten Vorfällen und der Ausreise der Beschwerdeführerin im November 2001 sei eine (im Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde) aktuelle Gefahr für die Beschwerdeführerin auszuschließen, so wurde eine derartige Annahme im angefochtenen Bescheid nicht nachvollziehbar begründet. Feststellungen dazu, dass sich die Situation in der genannten Grenzregion zwischen Georgien und Abchasien dahingehend verändert hat, dass mit Übergriffen in Zukunft nicht mehr zur rechnen sei, enthält der angefochtene Bescheid nicht. Warum aber bei unveränderter Lage vor Ort allein aus dem Zeitablauf infolge des in Österreich geführten Asylverfahrens eine aktuelle Gefährdung der Beschwerdeführerin bei Rückkehr auszuschließen sei, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar.

4. Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43 a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, Zl. 2008/20/0410, mwH).

Im vorliegenden Fall konnte schon angesichts der im erstinstanzlichen Bescheid auf keine Länderfeststellungen gestützten Annahme staatlicher Schutzfähigkeit sowie der nicht geklärten Frage, ob der georgische Staat am Wohnort der Beschwerdeführerin überhaupt effektiven Schutz hätte bieten können, von einem aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalt keine Rede sein. Die belangte Behörde hätte demnach von der Durchführung einer Berufungsverhandlung nicht Abstand nehmen dürfen.

5. Nach dem Gesagten erweist sich der angefochtene Bescheid sohin in mehrfacher Hinsicht als mangelhaft. Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil neben dem pauschalierten Ersatz des Schriftsatzaufwandes ein Kostenersatz aus dem Titel Umsatzsteuer nicht zusteht.

Wien, am 24. März 2011

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